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20.06.2022

16:29

Kernkraft

Debatte um längere Laufzeiten für Atomkraftwerke: „Die Ampel darf keinen Blackout riskieren“

Von: Jan Hildebrand, Dietmar Neuerer, Thomas Sigmund, Klaus Stratmann, Kathrin Witsch

Um mögliche Gasengpässe aufzufangen, will Wirtschaftsminister Habeck mehr Kohlekraftwerke einsetzen. Union und FDP reagieren mit Unverständnis und bringen längere Atomlaufzeiten ins Spiel.

„Die Ampel darf keinen Blackout riskieren.“ dpa

Markus Söder

„Die Ampel darf keinen Blackout riskieren.“

Berlin, Düsseldorf Angesichts möglicher Gasengpässe ist eine neue Debatte über längere Laufzeiten der noch verbliebenen Atomkraftwerke (AKW) in Deutschland entbrannt. Führende Unions-Politiker forderten die Grünen auf, ihre Blockadehaltung bei dem Thema aufzugeben.

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sagte dem Handelsblatt, die infolge des angestrebten geringeren Einsatzes von Gas zur Stromproduktion drohenden Stromlücken dürften durch „leichtfertiges Abschalten“ der Kernkraft nicht noch zusätzlich vergrößert werden. „Es wäre absurd, eine befristete Verlängerung als Sicherheitsreserve aus ideologischen Gründen abzulehnen“, betonte Söder. „Die Ampel darf keinen Blackout riskieren. Das wäre nicht nur für die Bevölkerung, sondern auch für die Wirtschaft eine Katastrophe.“

Auch die Bundesvorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT), Gitta Connemann, mahnte: „Jetzt ist keine Zeit mehr für Ideologie und Parteitaktik.“ Die CDU-Politikerin sagte dem Handelsblatt: „Deutschland steht mit dem Rücken an der Wand, wir müssen eine schwere Energie- und Versorgungskrise abwenden, die existenzbedrohend sein kann.“

Die Grünen müssten daher „über ihren Schatten springen und endlich den Weg frei machen, damit wir die verbliebenen Kernkraftwerke weiternutzen“. Das sorge für Energiesicherheit und schone zugleich das Klima.

Auch Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) zeigte sich kürzlich offen für eine Debatte über einen AKW-Weiterbetrieb. Man müsse unideologisch über Fragen der Energieversorgung sprechen, sagte er. Sein Parteivize Johannes Vogel legt nun nach und fordert zur „Sicherung der Versorgung ein Winterpaket“. Dazu brauche man in der Tat leider die zeitlich begrenzte Nutzung der Kohlekraftwerke. „Aber dazu sollte nach meiner Überzeugung auch die Streckung der Laufzeiten der verbliebenen Kernkraftwerke über den Winter eine wichtige Rolle spielen“, sagte Vogel dem Handelsblatt. Deutschland erlebe „eine Zeitenwende, in der wir sicher Geglaubtes hinterfragen müssen“. Und beim Winterpaket gehe es um eine akute Kriegsfolge. 

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Am Netz sind in Deutschland nur noch die Atomkraftwerke Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2. Sie sollen bis Ende des Jahres ebenfalls abgeschaltet werden.

Der Ukrainekrieg hat für neue Perspektiven in der deutschen Energiepolitik gesorgt. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) setzt sich  für den Bau von LNG-Terminals ein, holt alte Kohlekraftwerke aus der Reserve und hatte schon im März eine Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke nicht ausgeschlossen. Wenige Tage später stellte der Minister allerdings klar, dass man sich auf andere Maßnahmen konzentrieren wolle, weil die Genehmigungen für den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke fehlten. 

Die Atomkonzerne Eon und EnbW zeigten sich zwar damals offen für Gespräche, wiesen aber darauf hin, dass nicht nur fehlende Genehmigungen zum Problem werden könnten. Vor allem der Brennstoff ist ein praktisches Hindernis. Aufgrund des geplanten Ausstiegs haben die Betreiber keine Brennstäbe mehr auf Vorrat. Neue zu beschaffen braucht Zeit. 

Ein Eon-Sprecher teilte am Montag auf Anfrage mit: „Die Bundesregierung hat eine politische Abwägungsentscheidung getroffen, auf diese Option nicht zurückzugreifen zu wollen. Diese Entscheidung respektieren wir.“ Bei EnBW lautet die Antwort ähnlich. 

RWE schließt Weiterbetrieb der letzten Atomkraftwerke aus

Der Vorstandschef des Essener Energiekonzerns RWE, Markus Krebber, wird sogar noch deutlicher: „Überall, wo man auf andere Energieträger umstellen kann, sollte das erfolgen“, sagte der Manager der „Süddeutschen Zeitung“ mit Blick auf Habecks Kohlepläne. Ein Weiterbetrieb der letzten Atomkraftwerke in Deutschland über Ende 2022 hinaus schließt Krebber dezidiert aus.

Rückendeckung bekommt der Manager derweil von ganz oben. Bundeskanzler Olaf Scholz sagte, wenn es „problemlos“ möglich wäre, die Laufzeiten um ein oder zwei Jahre zu verlängern, würde sich jetzt wohl kaum jemand dagegenstellen. Das sei aber eben nicht der Fall. „Die Fachleute sagen uns: Das wird nicht funktionieren“, sagte der SPD-Politiker dem „Münchner Merkur“.  

Brennelemente und die nötigen Wartungsintervalle der Anlagen seien genau auf den beschlossenen Atomausstieg abgestimmt. So reichten die Brennstäbe noch bis zum Ende des Jahres. Neue zu besorgen würde mindestens zwölf bis 18 Monate dauern, betonte Scholz.

In der Ampelkoalition gibt es dazu eine größere Debatte. Michael Kruse, energiepolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, ist zwar dafür, längere Laufzeiten in Erwägung zu ziehen, gleichwohl sieht er aber Hürden. Die FDP sei „technologieoffen, allerdings gibt es beim Weiterbetrieb der drei Atomkraftwerke große Fragezeichen“, sagte Kruse. „Kurzfristig gibt es keine Ersatzbrennelemente am Markt – und Hauptlieferant ist Russland. Wer es ernst meint mit der Abkehr von russischer Energieabhängigkeit, müsste diese Probleme als Erstes lösen“, ergänzte der FDP-Politiker. Der FDP-Politiker Michael Theurer bemängelte das Fehlen einer klaren Strategie. „Die Bürger haben ein feines Gespür für Dissonanzen“, sagte der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium dem Handelsblatt.

Voraussetzungen des Weiterbetriebs prüfen

Das Wirtschaftsministerium richte durchgehend Appelle zum Energiesparen an die Bevölkerung, sage aber gleichzeitig, dass die Versorgungssicherheit gewährleistet sei, wolle auf den Strom aus der Kernkraft und auf deutsches Frackinggas verzichten, während der Import von amerikanischem Frackinggas vorangetrieben werde. „Das macht nicht den Eindruck, als ob schon ein durchdachtes Gesamtkonzept vorliegt“, sagte Theurer.

Habeck erklärte am Wochenende, wie Gas eingespart und die Vorsorge erhöht werden soll. Gegensteuern will der Minister, indem der Einsatz von Gas für die Stromerzeugung und Industrie gesenkt wird. Zudem sollen mehr Kohlekraftwerke zum Einsatz kommen. Sie sollen die Stromerzeugung in mit Erdgas befeuerten Kraftwerken so weit wie möglich ersetzen. Die Befüllung der Gasspeicher soll vorangetrieben werden.

Wolfgang Steiger, Generalsekretär des Wirtschaftsrats der CDU, sagte dem Handelsblatt: „Wenn die Bundesregierung schon verpflichtende Energiesparmaßnahmen bei Privatverbrauchern prüft, muss sie ideologiefrei über alle Optionen zur Sicherstellung der Energieversorgung diskutieren.“ Dazu zähle neben der richtigen Entscheidung für die Kohlekraft auch ein Weiterbetrieb der noch am Netz befindlichen Kernkraftwerke.

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Allerdings müsse die Bundesregierung prüfen, ob der Weiterbetrieb der Kernkraftwerke durch eine bundeseigene Betreibergesellschaft übernommen werden kann. „Die Risiken eines Weiterbetriebs der Kernkraftwerke sind vorwiegend politischer Natur“, sagte Steiger. Um die fortlaufende Energieversorgung sicherzustellen, müsse der Staat einspringen und mit den Betreibergesellschaften sprechen, unter welchen Voraussetzungen ein Weiterbetrieb möglich wäre.

Der Unions-Fraktionsvize Jens Spahn (CDU) äußerte Unverständnis darüber, dass der grüne Klimaminister Habeck lieber Kohlekraftwerke länger und mehr laufen lasse als CO2-neutrale Kernkraftwerke. Bevor Bürger zum Frieren aufgefordert würden, sollte die Politik alle Alternativen prüfen, betonte Spahn. „Dazu gehört eben auch das Längerlaufen von Kernkraftwerken.“

Umweltministerium warnt vor unbeherrschbaren AKW-Risiken

Bayerns Ministerpräsident Söder verwies auf Gutachten, die bestätigt hätten, dass ein AKW-Weiterbetrieb möglich sei. „Die drei zum Jahresende auslaufenden Kernkraftwerke liefern Strom für zehn Millionen Haushalte“, sagte er. „Dieses Potenzial dürfen wir nicht ungenutzt lassen, bis der Ausbau der Erneuerbaren Energien weiter vorangeschritten ist.“

Diese Möglichkeit kommt jedoch auch für das Bundesumweltministerium (BMUV) nicht infrage. Eine Laufzeitverlängerung ließe sich, wenn überhaupt, nur mit Abstrichen bei der Sicherheit der Atomkraftwerke realisieren, sagte ein Ministeriumssprecher kürzlich dem Handelsblatt. „Angesichts der Erfahrungen des russischen Krieges gegen die Ukraine stellen sich Sicherheitsfragen noch mal drängender. Es kann weniger denn je einen Sicherheitsrabatt geben.“

Zudem sei die Frage einer Laufzeitverlängerung auf Regierungsebene bereits „gründlich geprüft“ worden. Das Ergebnis sei bekannt und habe Bestand. Die rechtlichen und sicherheitstechnischen Bedenken des Umweltministeriums gegen eine AKW-Laufzeitverlängerung seien „ausschließlich fachlicher Natur“, betonte der Sprecher.  

Nach Angaben des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) können die in Reserve stehenden Braunkohlekraftwerke in einem relativ überschaubaren Zeitraum wieder angefahren werden. Bei Steinkohle gehe es auch, aber dafür müsste diese importiert und bevorratet werden, sagte die Vorsitzende der BDEW-Hauptgeschäftsführung Kerstin Andreae im ARD-„Morgenmagazin“.

Im ZDF-„heute journal“ zeigte sich Habeck zuversichtlich, dass die Versorgung für den kommenden Winter sichergestellt werden könne. „Entscheidend ist, dass die Gasspeicher zum Winter hin gefüllt sind – und zwar bei 90 Prozent liegen.“

Habeck will zusätzliche Maßnahmen ergreifen, um Gas einzusparen und die Vorsorge zu erhöhen. dpa

Robert Habeck

Habeck will zusätzliche Maßnahmen ergreifen, um Gas einzusparen und die Vorsorge zu erhöhen.

Derzeit seien es 57 Prozent. Es sei „eine Art Armdrücken“, bei dem Kremlchef Wladimir Putin zunächst den längeren Arm habe. „Aber das heißt nicht, dass wir nicht durch Kraftanstrengung den stärkeren Arm bekommen könnten“, sagte Habeck.

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