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24.01.2023

14:20

Klimaneutralität

Deutschlands Wasserstoff-Strategie lässt auf sich warten – Unternehmen werden ungeduldig

Von: Daniel Delhaes, Klaus Stratmann

Die neue Wasserstoffstrategie der Ampelkoalition verspätet sich, weil die beteiligten Ministerien keinen gemeinsamen Nenner finden. Bei dem Streit geht es um Grundsätzliches.

Zwischen dem Verkehrsminister und dem Wirtschaftsminister schwelt ein Richtungsstreit beim Einsatz von Wasserstoff. dpa

Volker Wissing (r.) und Robert Habeck

Zwischen dem Verkehrsminister und dem Wirtschaftsminister schwelt ein Richtungsstreit beim Einsatz von Wasserstoff.

Die Festlegung aus dem Koalitionsvertrag ist eindeutig: „Die Wasserstoffstrategie wird 2022 fortgeschrieben“, heißt es darin. Dass es damit im vergangenen Jahr nichts geworden ist, lag zum Teil am Ukrainekrieg und den Folgen. Die Sicherung der Energieversorgung hatte Priorität. Aber es gibt noch einen weiteren Grund: Die Positionen der beteiligten Ministerien liegen weit auseinander, sodass es noch bis März dauern könnte, ehe eine Neufassung der Wasserstoffstrategie vom Kabinett verabschiedet werden kann.

Die Neufassung stellt eine Fortschreibung der von der Vorgängerregierung im Juni 2020 vorgelegten Wasserstoffstrategie dar. Sie soll den gestiegenen Anforderungen auf dem Weg zur Klimaneutralität Rechnung tragen und dient der Wirtschaft als Richtschnur für Investitionsentscheidungen.

Viele Unternehmen warten deshalb mit Spannung auf die Neuauflage. „Entscheidend ist, dass wir mit dem Aufbau der Wasserstoffwertschöpfungskette rasch vorankommen“, sagte Katherina Reiche, Vorsitzende des von der Vorgängerregierung eingesetzten Nationalen Wasserstoffrats (NWR) und im Hauptberuf Vorstandschefin der Westenergie AG, dem Handelsblatt.

Nach Überzeugung Reiches muss die neue Strategie auch eine Antwort auf den Inflation Reduction Act (IRA) der Amerikaner beinhalten. Der IRA, das US-Inflationsbekämpfungsgesetz, sieht milliardenschwere Investitionen in den Klimaschutz vor.

Reiche nimmt dabei Bezug auf Ankündigungen von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel, die kürzlich deutlich gemacht hatten, dass sie eine ähnlich pragmatische und schnell wirksame Lösung wie die Amerikaner anstreben, um bei Investitionen in grüne Technologie voranzukommen. „Die Faszination des IRA besteht in seiner Anschlussfähigkeit. Unternehmen und Behörden können das Instrumentarium sofort nutzen. Das bringt Tempo in die Prozesse“, sagte sie. Das EU-Beihilferecht müsse dringend angepasst werden. „Die entsprechenden Überlegungen sollten sich in der Fortschreibung der Nationalen Wasserstoffstrategie widerspiegeln“, forderte Reiche.

Habeck legt den Fokus auf die Stahlindustrie

Doch im Moment deutet nichts darauf hin, dass sich die Ministerien zu einer schnellen Lösung durchringen können. Vielmehr streiten sie um die Frage, ob der Wasserstoff bestimmten Einsatzbereichen vorbehalten sein soll oder ob er technologieoffen für alle Anwendungen zur Verfügung stehen soll.

Das von Robert Habeck (Grüne) geführte Bundeswirtschaftsministerium will sich darauf fokussieren, Wasserstoff dort einzusetzen, wo es keine Alternativen gibt.
>> Lesen Sie hier auch: Wasserstoff-Markt boomt in den USA

Den Fokus legt das Haus dabei zunächst auf die Stahlindustrie. An zweiter Stelle kommen die Back-up-Kraftwerke, die künftig immer dann zum Einsatz kommen sollen, wenn die erneuerbaren Energien nicht genug Strom liefern. Für diese Kraftwerke soll in einigen Jahren ausreichend Wasserstoff statt Erdgas zur Verfügung stehen. Alle anderen Einsatzmöglichkeiten haben aus Sicht des Wirtschaftsressorts keine Priorität.

Farbenkunde Wasserstoff

Allgemein

Wasserstoff kann auf verschiedene Arten hergestellt werden. Je nachdem, wie viel CO2 dabei ausgestoßen wird, wird er als grauer, blauer, türkiser oder grüner Wasserstoff bezeichnet. Die Details.

Grauer Wasserstoff...

…wird aus Erdgas oder Kohle hergestellt. Das kostengünstigste Verfahren ist die Dampfreformierung. Dabei wird Erdgas in der Regel unter Hitze in Wasserstoff und CO2 aufgespalten. Bei dieser Methode entstehen erhebliche Treibhausgas-Emissionen, die in die Atmosphäre gelangen. Bei der Produktion einer Tonne Wasserstoff entstehen dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) zufolge so rund zehn Tonnen CO2. Wasserstoff wird auch dann als „grauer Wasserstoff“ bezeichnet, wenn er per Elektrolyse aus „Graustrom“ hergestellt wird, der „fossil“ produzierten Strom enthält.

Blauer Wasserstoff...

…unterscheidet sich von grauem Wasserstoff dadurch, dass bei seiner Gewinnung aus Erdgas das CO2 abgespalten und in unterirdischen Lagerstätten gespeichert wird. So gelangt das CO2 nicht in die Atmosphäre. Die Wasserstoffproduktion kann damit „bilanziell als CO2-neutral betrachtet werden“, heißt es vom BMBF. Laut Greenpeace sei blauer Wasserstoff jedoch durch die Förderung und den Transport des benötigten Erdgases „mit einem erheblichen CO2-Fußabdruck belastet.“

Türkiser Wasserstoff...

… wird wie grauer und blauer Wasserstoff aus fossilem Erdgas gewonnen. Dabei wird Methan thermisch gespalten (Methanpyrolyse). Statt CO2-Emissionen entsteht so ein fester Kohlenstoff, der sich weiter nutzen lässt. CO2-neutral ist das Verfahren daher nur, wenn der feste Kohlenstoff dauerhaft gebunden bleibt.

Grüner Wasserstoff...

…wird mithilfe von Ökostrom und damit CO2-neutral hergestellt. Dabei wird Wasser per Elektrolyse in Sauerstoff und Wasserstoff zerlegt. Der Wasserstoff wird dann in das Gasnetz eingespeist oder direkt vor Ort als Energieträger genutzt.

Quelle: Bundesministerium für Bildung und Forschung

Das von der Grünen-Politikerin Steffi Lemke geführte Bundesumweltministerium stützt den Kurs des Wirtschaftsministeriums. Lemkes Haus sperrt sich beispielsweise seit Langem dagegen, den Einsatz von klimaneutralem Wasserstoff im Raffinerieprozess auf die Treibhausgasminderungsquote bei Kraftstoffen anzurechnen. Das Haus versuche über Quoten und Anrechnungsfaktoren systematisch, den Einsatz von Wasserstoff zu behindern, heißt es aus der Wasserstoffwirtschaft.

Die von Liberalen geführten Ministerien für Verkehr und Forschung dagegen verfolgen einen breiteren Ansatz. Erst am Montag sagte Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) mit Blick auf synthetische Kraftstoffe, die auf Wasserstoffbasis hergestellt werden und im Fachjargon E-Fuels genannt werden: „Wir brauchen auch hier Technologieoffenheit. Wir geben Klimaneutralität vor, aber die Ingenieure entwickeln den Plan, und die E-Fuels sind ein Weg, CO2 einzusparen und klimaneutral zu werden. Deswegen müssen wir mutig sein und die Regulierung anpassen.“

Die FDP setzt auf E-Fuels und einen breiteren Wasserstoff-Einsatz

Stark-Watzinger will E-Fuels einsetzen, um die CO2-Emissionen der derzeit noch rund 45 Millionen Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor in Deutschland zu reduzieren. Auch Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) glaubt an die Zukunft des Wasserstoffs als Energieträger für Mobilität und setzt insbesondere auf die Brennstoffzelle, für deren Betrieb Wasserstoff eingesetzt wird. Seit den 90er-Jahren fördert das Haus Forschung und Anwendung und unterhält selbst mit der NOW GmbH eine Gesellschaft für das Nationale Innovationsprogramm Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie.

Inzwischen ist ein bundesweites Tankstellennetz entstanden, erst kürzlich eröffnete Minister Volker Wissing (FDP) eine Tankstelle, die der Bund mit 1,3 Millionen Euro gefördert hat.

Insofern waren die Beamten des Verkehrsressorts unangenehm überrascht, als sie im jüngsten Entwurf der Wasserstoffstrategie etwas von „Priorisierung“ lasen. So solle Wasserstoff nur in den Bereichen zum Einsatz kommen, „die anders nicht dekarbonisiert werden können“, hatte das Wirtschaftsressort in den Entwurf geschrieben.

Damit sind Industriebranchen wie Stahl oder Zement gemeint, die zum Einsatz von Wasserstoff zur Dekarbonisierung keine Alternative haben. In der letzten Abstimmungsrunde auf Ebene der Staatssekretäre protestierte das Verkehrsressort.

Innerhalb der Bundesregierung wird über die Einsatzmöglichkeiten von Wasserstoff gestritten. obs

Gastherme, die mit Wasserstoff betrieben werden kann

Innerhalb der Bundesregierung wird über die Einsatzmöglichkeiten von Wasserstoff gestritten.

Nun muss das technisch federführende Wirtschaftsministerium die Neufassung der Strategie noch mal überarbeiten. Im Wirtschaftsressort heißt es, die Ressortabstimmungen liefen noch, die Wasserstoffstrategie solle „zügig vorgelegt werden“. Einen genauen Termin könne man allerdings noch nicht nennen.

Zwischen den Ministerien schwelt ein Richtungsstreit

Hinter den Problemen tritt ein Grundsatzstreit zutage, der seit Jahren schwelt. Während die Grünen Wasserstoff als knappes Gut betrachten und seinen Einsatz deshalb auf wenige Felder beschränken wollen, setzt die FDP darauf, dass sich innerhalb weniger Jahre ein liquider globaler Markt entwickelt.

Um diese Entwicklung zu unterstützen, wollen die Liberalen ein klares Signal aussenden: Die Industrienation Deutschland will klimaneutral produzierten Wasserstoff abnehmen – auch im Automobilsektor. Das Signal soll andere Staaten – etwa in Afrika – motivieren, in die Produktion von Wasserstoff zu investieren. Dann entsteht ein Markt, auf dem allein der Preis über den Einsatz entscheidet, nicht der Staat.

Die Option, nicht nur Lastwagen, sondern auch Autos künftig mit Wasserstoff zu betreiben, soll eine Option bleiben. Auch für bestimmte Anwendungsfälle der Wärmeerzeugung – etwa in der Metallverarbeitung, in der Zink-, Glas-, Keramik- oder Lebensmittelindustrie – stellt er eine Lösungsmöglichkeit dar.

NWR-Chefin Reiche plädiert daher für einen breiten Ansatz: „Es braucht einen ganzheitlichen Blick auf alle Sektoren – Industrie, Mobilität, Wärme und Energie. Dabei ist vor allem Technologieoffenheit der Schlüssel“, sagte Reiche. „Im Verkehrssektor ist es wie bei der Wärmewende: Der Lösungsraum muss voll ausgeschöpft werden“, ergänzte sie. Jeder einzelne Produktions- und Energieprozess, der in irgendeiner Form Gas benötige, müsse durchdacht und regulatorisch angepasst werden.

Im Verkehrssektor wird Wasserstoff, auch wenn er eine deutlich schlechtere Energiebilanz aufweist als direkt eingesetzter Strom, etwa in E-Autos, vielfach als Zukunftsenergie erprobt: Sei es in der Schifffahrt, der Luftfahrt, bei schweren Nutzfahrzeugen oder in Zügen. „Für die verschiedenen Einsatzbereiche – Nah-, Regional- und Fernverkehr – werden unterschiedliche Technologien zum Zuge kommen“, ist sich Dirk Engelhardt, Vorstandschef beim Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL), sicher. „Für kürzere Strecken wird es der E-Lkw sein. Im Fernverkehr sehen wir – schon aufgrund des hohen Batteriegewichts – eher Wasserstoff-Lkw im Vorteil.“

Auch die Hersteller wollen nicht auf Wasserstoff verzichten. „Um die Klimaneutralität im Verkehr zu realisieren, müssen wir die Potenziale aller zur Verfügung stehenden Technologien ausschöpfen“, mahnt Hildegard Müller, Präsidentin des Verbands der Automobilhersteller. „Vor allem für den emissionsfreien Schwerlastverkehr entwickelt sich der Brennstoffzellenantrieb zunehmend zum Gamechanger.“ Deshalb sei es „ein folgenreicher Fehler, eine Technologie vorab politisch auszuschließen“.
Mehr: Energiewende bleibt weit hinter den Zielen zurück

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