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01.06.2021

04:00

Klimaschutz

Luftverschmutzung, Überdüngung, Plastikmüll: Erstmals zeigt eine Studie, wie viele Milliarden Deutschland durch Umweltzerstörung verliert

Von: Jan Hildebrand, Silke Kersting, Klaus Stratmann

Wirtschaftliche Aktivitäten verursachen Folgekosten für die Gesellschaft von mehr als 13 Prozent des BIP. Abhilfe könnte eine verursachergerechte Besteuerung bringen.

Viele Firmen stoßen Vermögenswerte ab, damit sie einen geringeren CO2-Abdruck hinterlassen. AFP

Emissionen

Viele Firmen stoßen Vermögenswerte ab, damit sie einen geringeren CO2-Abdruck hinterlassen.

Berlin Der Verbrauch von natürlichen Ressourcen, die Belastung der Umwelt mit Schadstoffen und die Emission von CO2 belasten die Gesellschaft jährlich mit Kosten in Höhe dreistelliger Milliardenbeträge. Ein Konsortium aus mehr als 25 wissenschaftlichen Partnern empfiehlt der Politik, sich diese Kosten durch eine „nachhaltige Steuerreform“ zurückzuholen.

„Jährlich entstehen Folgekosten in einer groben Größenordnung von 13 bis 19 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts“, schlüsseln die Experten mehrerer Klimaforschungs- und Wirtschaftsinstitute auf. Die Wissenschaftler haben ihre Studie im Rahmen des vom Bundesforschungsministerium geförderten Energiewendeprojekts „Ariadne“ erstellt. Sie liegt dem Handelsblatt vor und wird am heutigen Dienstag veröffentlicht.

„Diese Umwelt- und Gesundheitsschäden werden letztlich von allen getragen“, sagt Matthias Kalkuhl vom beteiligten Berliner Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change, kurz MCC. „Erstmals machen wir diesen Verlust unseres Wohlstands in konkreten Euro sichtbar“, so Kalkuhl weiter. Man habe „so umfassend wie nie“ die externen Kosten des Wirtschaftens in Deutschland analysiert und komme „auf einen Schätzkorridor von 455 bis 671 Milliarden Euro“.

Durch Umwelt- oder Lenkungssteuern können diese Schäden als Kosten den Verursachern angelastet werden und damit Anreize für nachhaltigeres Wirtschaften gesetzt werden, so die Erwartung der Autoren. Damit jedoch „aus einer effizienten Steuerpolitik eine gerechte wird, muss sie um sozial- und verteilungspolitische Aspekte ergänzt werden“, mahnt Kalkuhl.

Mit den Einnahmen aus Umweltsteuern könnten andere Steuern gesenkt werden, um Bürger zu entlasten und einen sozialen Ausgleich herzustellen.

Transfers für betroffene Haushalte

Die potenziellen zusätzlichen Einnahmen für den Staat durch Umweltsteuern liegen insgesamt bei 348 bis 564 Milliarden Euro, schätzen die Experten. „Durch eine konsequent auf Umweltschäden ausgerichtete Besteuerung könnte der Staat damit 44 bis 71 Prozent des gesamten heutigen Steueraufkommens zusätzlich mobilisieren“, sagt MCC-Expertin Christina Roolfs.

Durch Steuersenkungen, direkte Rückerstattungen an die Menschen oder gezielte Transfers für besonders betroffene Haushalte habe die Politik viel Handlungsspielraum, um eine derartige Steuerreform sozial gerecht auszugestalten.

Das Thema ist nicht grundsätzlich neu, wohl aber die Tiefe der Analyse. Wie sich der wirtschaftliche Wohlstand durch die Bepreisung externer Kosten grundsätzlich optimieren lässt, hatte der britische Wirtschaftswissenschaftler Arthur Pigou bereits 1920 dargelegt.

Dabei wird zum Beispiel der Ausstoß von Schadstoffen mit einer Steuer belegt, die der Höhe der gesellschaftlichen Folgekosten entspricht. Während die effiziente Reduktion von Umweltschäden im Vordergrund steht, wird durch die Bepreisung ein weiterer positiver Nebeneffekt erzielt – nämlich zusätzliche Steuereinnahmen.

In Deutschland werden sogenannte Pigou- oder Umweltsteuern bislang allerdings nicht zielgenau eingesetzt, kritisieren die Wissenschaftler. „Einnahmen durch CO2-Preise, Lkw-Maut, Energiesteuern und sonstige Verbrauchsteuern decken gegenwärtig gerade mal ein Viertel der externen Kosten ab“, schrieben sie.

Grafik

Auch Ifo-Präsident Clemens Fuest hält Steuern grundsätzlich für ein „wichtiges Instrument zur Internalisierung von Externalitäten“. Es gebe aber auch andere Instrumente: beispielsweise Regulierungen und Verbote, aber auch den Zertifikatehandel, der in Europa bei CO2-Emissionen eine große Rolle spiele. „Es ist entscheidend, dass die verschiedenen umweltpolitischen Instrumente aufeinander abgestimmt werden“, sagte Fuest dem Handelsblatt.

Die richtige Höhe von Umweltsteuern müsse sich an einer Bewertung von Umweltschäden orientieren. „Dabei handelt es sich letztlich um politische Bewertungen, über die man geteilter Meinung sein kann“, ergänzte Fuest.

Ob die Umweltsteuer als echte Steuer oder als Umweltabgabe umgesetzt wird, sei aus ökonomischer Sicht unerheblich, heißt es in der Forschungsgruppe. Eine indirekte Bepreisung von externen Kosten – beispielsweise durch ein Emissionshandelssystem – könne sehr ähnlich zu einer Umweltsteuer wirken.

Die Grünen sind ganz auf Linie der Wissenschaftler und fordern eine klimafreundliche Finanzreform. „Dazu gehört ein deutlich höherer CO2-Preis mit fairer, sozialer Rückverteilung sowie der konsequente Abbau von umweltschädlichen Subventionen“, sagte Sven-Christian Kindler, haushaltspolitischer Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion.

Das Dieselprivileg müsse ebenso gestrichen werden wie die Subventionen für Flugkerosin und für die Plastikproduktion, sagte der Grünen-Politiker. „Das sind Relikte aus einem fossilen Zeitalter, die wir uns angesichts der Klimakrise, aber auch in Bezug auf eine nachhaltige Haushaltsfinanzierung nicht länger leisten können“, sagte Kindler.

Vier vorrangige Handlungsfelder

Die am Forschungsprojekt „Ariadne“ beteiligten Experten zeigen vier vorrangige Handlungsfelder auf:

  • Eine Erhöhung der CO2-Preise im Emissionshandel, damit sie die durch den Klimawandel verursachten Schäden widerspiegeln. „Durch den Ausstoß einer Tonne CO2 werden externe Schäden im Bereich von gut 150 Euro angerichtet“, sagte Kalkuhl. „Der nationale CO2-Preis für die Verbrennung fossiler Energien im Gebäude- und Verkehrsbereich liegt jedoch bei lediglich 25 Euro. Damit wird der Ausstoß von CO2 indirekt subventioniert.“
  • Eine konsequente Einberechnung von Treibhausgasen und anderen Umweltschäden in der Landwirtschaft.
  • Eine Neuausrichtung der Steuern und Abgaben im Stromsektor: Bestehende Abgaben wie die Stromsteuer seien nicht zielgenau auf den Klimaschutz ausgerichtet, sondern behinderten ihn teilweise, so die Kritik. Hohe Strompreise hemmten den Umstieg auf klimafreundliche Technologien wie Elektroautos oder Wärmepumpen. Doch nicht der Stromverbrauch an sich sei das Problem für die Umwelt, sondern vielmehr die klimaschädliche Stromerzeugung. Hier würden höhere CO2-Preise besser greifen. Die Bundesregierung trägt diesen Überlegungen bereits in Ansätzen Rechnung. So hatte sie vor einem Jahr beschlossen, aus den Einnahmen der CO2-Bepreisung für die Sektoren Verkehr und Wärme sowie weiteren Haushaltsmitteln die Umlage nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) zu stabilisieren. Allerdings ist die Entlastung des Strompreises gering. Der Schritt kann auch nach Einschätzung der Großen Koalition nur ein Einstieg in eine grundsätzliche Neuausrichtung der Steuern und und Abgaben im Stromsektor sein.
  • Mautsysteme im Verkehrssektor: Staus, Lärm oder Unfälle entstünden auch bei Elektroautos, und auch bei zunehmender E-Mobilität müsse die Straßeninfrastruktur finanziert werden. Die Schäden gingen also weit über den Ausstoß von CO2 hinaus. Mautsysteme könnten die Einnahmen aus der Mineralölsteuer ersetzen und helfen, Staus in Ballungszentren und Städten zu reduzieren.

Kommentare (7)

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01.06.2021, 10:28 Uhr

Die Botschaft des Artikels ist also, dass Steuereinnahmen und Umweltabgaben von 300 bis 539 mrd€ pro Jahr ( das sind 44%-71% des Steueraufkommens in 2019 in Deutschland) ZUSÄTZLICH von der Politik erhoben werden sollen und dieses Geld von der Politik dann "sozial(istisch?)" umverteilt werden soll. Dass manche Partei eine solche Botschaft gerne aufgreift, ist aufgrund des Machthungers und der Kontrollgier dieser Vertreter unserer Gesellschaft verständlich. Aber wie naiv muss man als Bürger sein, um zu glauben, dass eine solche Umverteilung die Lebensqualität, die Selbstachtung (ganz wichtig) und den Wohlstand der Bürger dieses Landes verbessert? Wie hoch wollen wir in Deutschland die Staatsquote und -kontrolle noch schrauben? Hat Corona nicht die Ineffizienz der staatlichen Regulierung bewiesen? Haben wir Deutschen aus den Staatskontroll-Erfahrungen der DDR Sozialisten und der Nationalsozialisten im letzten Jahrhundert wirklich nichts gelernt? Die kommende Wahl wird sehr wichtig werden. Vielleicht mal etwas zurücktreten, die News ausblenden und seine persönlichen Antworten auf die obigen Fragen suchen...

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