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25.03.2021

17:30

Konflikt um Impfstoffe

29-Millionen-Dosen-Fund: EU fordert mehr Transparenz von Astra-Zeneca

Von: Moritz Koch, Hans-Peter Siebenhaar, Carsten Volkery, Christian Wermke

Der Fund eines großen Impfstoff-Vorrats in Italien ist ein Politikum und wird auch den EU-Gipfel beschäftigen. Brüssel misstraut den Angaben des Herstellers Astra-Zeneca.

In dem Werk werden Impfstoffe vor allem für Drittfirmen gemischt, abgefüllt und auf Stabilität getestet. AFP

Catalent in Italien

In dem Werk werden Impfstoffe vor allem für Drittfirmen gemischt, abgefüllt und auf Stabilität getestet.

Brüssel, Rom, London Der Militärflughafen Pratica di Mare, 30 Kilometer südlich von Rom, ist das Herz der italienischen Impflogistik. Von hier werden die Vakzine über das ganze Land verteilt. Eigentlich sollten hier bis Ende März acht Millionen Astra-Zeneca-Dosen ankommen.

Daraus wurde nichts. Immerhin noch fünf Millionen sollten es werden, versprach der britisch-schwedische Pharmakonzern zuletzt, aber auch diese Zahl steht infrage. Eine Woche vor Monatsende ist nur etwas mehr als die Hälfte angekommen. Am Mittwoch kamen 278.000 Dosen hinzu. 

Diese Größenordnungen muss man sich vor Augen führen, wenn man verstehen will, was für eine Masse an Impfstoff da nur anderthalb Stunden weiter südöstlich, in Anagni, lagerten. 29 Millionen Dosen von Astra-Zeneca haben Ermittler dort entdeckt. Der Fall ist zum Politikum geworden, der Unmut über Astra-Zeneca wächst. 

Die EU-Kommission übte scharfe Kritik am Verhalten des Unternehmens. „Wir beobachten einen Mangel an Transparenz von Astra-Zeneca über die Frage, wie viele Dosen sie wo produziert haben“, sagte ein Kommissionsprecher. Mit der Erklärung von Astra-Zeneca, der Impfstoff sei teils für den europäischen Markt, teils für Entwicklungsländer bestimmt gewesen, gibt sich Brüssel nicht zufrieden. 

„Wir wollen nicht darüber spekulieren, ob diese Dosen für die EU bestimmt sind oder nicht“, sagte der Sprecher. Stattdessen verweist die EU auf ihre verschärften Exportkontrollen: „Wenn das Unternehmen diese Dosen aus der EU exportieren will, muss es bei den italienischen Behörden einen Antrag auf Ausfuhrgenehmigung stellen.“


800 Mitarbeiter mischen hier Impfstoffe vor allem für Drittfirmen, füllen sie ab und testen sie auf Stabilität. AFP

Catalent-Werk in Anagni

800 Mitarbeiter mischen hier Impfstoffe vor allem für Drittfirmen, füllen sie ab und testen sie auf Stabilität.

Mittlerweile sind mehr Details über die Durchsuchung im italienischen Catalent-Werk ans Licht gekommen: Am Samstagabend kurz vor Mitternacht rückten die Carabinieri an, wie Werkschefin Barbara Sambuco der Zeitung „La Republicca“ sagte. Die Beamten blieben die ganze Nacht, erst am Dienstagabend seien sie wieder weg gewesen. 

Italien nutzt Exportkontroll-Klausel der EU

800 Mitarbeiter beschäftigt Catalent in dem Werk. Dort werden Impfstoffe vor allem für Drittfirmen gemischt, abgefüllt und auf Stabilität getestet. Neben Astra-Zeneca soll auch der Hersteller Johnson & Johnson mit dem Standort in Italien zusammenarbeiten.

Es war auch ebenjenes Werk in Anagni, von wo aus Anfang März rund 250.000 Dosen nach Australien geschickt werden sollten – und Premier Mario Draghi die Lieferung stoppen ließ. Italien ist damit das erste und einzige Land, das von der neuen Exportkontroll-Klausel der EU nun Gebrauch machte.

EU-Vertreter weisen darauf hin, dass die Unterversorgung mit Vakzinen einzig den Lieferausfällen bei Astra-Zeneca geschuldet ist. Das Unternehmen hat weit mehr Impfstoff versprochen, als es liefert. Eigentlich sollte die EU bis Ende März 120 Millionen Dosen erhalten, ausgeliefert wurden bisher aber weniger als 20 Millionen.

29 Millionen Dosen des Impfstoffs haben Ermittler in Italien entdeckt. dpa

Impfstoff von Astra-Zeneca

29 Millionen Dosen des Impfstoffs haben Ermittler in Italien entdeckt.

Auf ihrem virtuellen Gipfel an diesem Donnerstag und Freitag wollen die Staats- und Regierungschefs der EU über die Versorgungsmängel beraten und dabei auch den Umgang mit Astra-Zeneca besprechen. „Das Vertrauen in den Astra-Zeneca-Impfstoff ist hoch, das Vertrauen in das Astra-Zeneca-Management nach den Erfahrungen der letzten Monate dafür umso geringer“, sagte ein hochrangiger EU-Diplomat dem Handelsblatt. „Ankündigungen von Astra-Zeneca sind selten belastbar, das Geschäftsgebahren höchst intransparent.“

Im Europaparlament werden daher Konsequenzen für das Unternehmen gefordert. Der SPD-Europaabgeordnete Bernd Lange, Vorsitzender des einflussreichen Handelsausschusses, rief die EU-Kommission auf, Astra-Zeneca zu verklagen. „Wenn Lieferverträge nicht eingehalten werden, werden Konventionalstrafen fällig“, sagte Lange. Europa sollte „klare Kante“ zeigen.  Astra-Zeneca sei verpflichtet, die Verträge nicht nur gegenüber Großbritannien, sondern auch gegenüber der EU einzuhalten, mahnte der SPD-Gesundheitsexperte, Tiemo Wölken.

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Ob Exportbeschränkungen, das richtige Mittel sind, um Astra-Zeneca zu mehr Vertragstreue zu bewegen, ist allerdings umstritten. Unter den EU-Mitgliedstaaten warnen Irland, Belgien, die Niederlande und Schweden vor einem allzu harten Vorgehen.

Auch Gabriel Felbermayr, Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, lehnt Exportsperren ab. „Die EU muss Wirkstoffe, Reagenzien, Ampullen und vieles mehr importieren“, sei daher selbst auf einen funktionierenden Handel angewiesen.

Allerdings befürwortet der Ökonom juristische Schritte gegen Astra-Zeneca. „Wenn Gefahr in Verzug ist und die Rechtsposition der EU stark ist, dann kann das auch bis hin zu einer Beschlagnahmung von Impfstoffen gehen“, sagte er.

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Einige Parlamentarier bemühen sich, den Konflikt zu entspannen. „Die Stimmung ist ziemlich aufgeheizt. Da ist es sinnvoll, erst mal genau hinzuschauen“, fordert der gesundheitspolitische Sprecher der FDP im Europaparlament, Andreas Glück. „Sollte es tatsächlich so sein, wie von Astra-Zeneca formuliert, dass nach der Qualitätsprüfung 16 Millionen Impfdosen für die EU und 13 Millionen für die Covax-Initiative bestimmt sind, hätte dies für mich keinen Skandalwert.“

Doch an der Darstellung des Unternehmens gibt es in Brüssel Zweifel. Der Verdacht: Astra-Zeneca habe die Impfdosen gehortet, um Exportoptionen zu prüfen. Das Misstrauen wird auch dadurch genährt, dass die Firma fast einen Tag für ihre Erklärung benötigte.

Sicher ist: Seit Anfang Dezember haben EU-Staaten 77 Millionen Dosen an Nicht-EU-Staaten exportiert. Allein 21 Millionen Dosen an Großbritannien. Von den Briten kam hingegen gar nichts, so vermutet es die Kommission. Genaue Zahlen über den britischen Export fehlen, weil London sie bisher nicht veröffentlicht hat.

Die britische Regierung und der Impfstoff

Auch in Großbritannien schlägt der Fall Astra-Zeneca hohe Wellen. In der Presse werden der EU schwere Vorwürfe gemacht, von einem „Impf-Krieg“ ist die Rede. Der sonst ausgesprochen konfliktbereite britische Premier Boris Johnson bemüht sich allerdings um Deeskalation. Dem Vernehmen nach ist London bereit, über die Verteilung der Produktion der europäischen Werke von Astra-Zeneca zu reden.

„Wir stehen alle vor derselben Pandemie, und die dritte Welle macht die Zusammenarbeit zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich noch wichtiger“, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung der EU-Kommission und Großbritanniens vom Mittwoch. Man wolle eine „Win-win-Situation“ schaffen und die Impfstoffversorgung für alle Bürger verbessern.

Zugleich beharrt die Regierung in London darauf, dass sie einen besseren Vertrag mit Astra-Zeneca habe als die EU. Großbritannien habe eine Exklusivitätsvereinbarung, sagte Gesundheitsminister Matt Hancock der „Financial Times“. „Unser Vertrag übertrumpft deren Vertrag. Das nennt sich Vertragsrecht.“

Die EU sieht die Sache anders. Sie verweist darauf, dass der britische Vertrag wie der EU-Vertrag Ende August unterzeichnet wurde und die gleiche „Best efforts“-Klausel enthalte. Das lässt sich auch nachprüfen, denn beide Verträge wurden veröffentlicht.

Es gibt jedoch eine zweite Vereinbarung der britischen Regierung mit Astra-Zeneca und der Universität Oxford vom Mai. In dieser hat Großbritannien sich nach Angaben beider Vertragspartner das Erstzugriffsrecht auf die Produktion der beiden britischen Astra-Zeneca-Werke in Oxford und Keele gesichert. Dieser Text ist jedoch nicht öffentlich.

Den Vorwurf, Impfnationalismus zu betreiben, weisen die Briten scharf zurück. Experten geben zu bedenken, dass das Land gleich zu Beginn der Pandemie in die Impfstoffentwicklung investiert habe und damit der Welt geholfen habe. „Wir hätten diese Impfstoffe nicht, wenn wir diese Investitionen nicht getätigt hätten“, sagte die Vorsitzende der Covax-Initiative, Jane Halton, dem Sender „Times Radio“.

Exportverbort für Biontech/Pfizer gilt als unwahrscheinlich

Das Argument: Astra-Zeneca mag noch keine Impfstoffdosen aus seinen britischen Werken exportiert haben. Dafür hat die Firma aber das Produktionsmodell exportiert, das nun in der ganzen Welt die Basis für die Impfstoffversorgung bildet – inklusive in Europa.

Großbritannien fürchtet vor allem, dass die EU ein Exportverbot für das Biontech/Pfizer-Vakzin verhängt. Dieses wird nicht auf der Insel, sondern in Belgien hergestellt. Die britische Regierung hat insgesamt 40 Millionen Dosen des Impfstoffs geordert. Bisher wurde weniger als die Hälfte davon geliefert.

Im April stehen die Zweitimpfungen für die Briten an, die im Dezember ihre erste Pfizer-Dosis erhalten haben. Sollte die Zweitimpfung nun wegen eines EU-Exportverbots ausfallen, wäre die Empörung groß. 

Dass es zu Exportbeschränkungen für Biontech/Pfizer kommt, gilt unter EU-Diplomaten derzeit als sehr unwahrscheinlich.  Auch Astra-Zeneca-Ausführung will die EU nicht pauschal verbieten. Vielmehr soll von Fall zu Fall über Genehmigungen entschieden werden. 

Die Unterversorgung mit Impfstoffen schürt auch EU-intern Verteilungskonflikte. Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und die Regierungschefs von Tschechien, Slowenien, Bulgarien, Kroatien und Lettland wollen auf dem Gipfel eine Änderung der Verteilung von Impfdosen in der EU auf die Agenda setzen. 

Im Gegensatz zu Deutschland, hatten Österreich und etliche Staaten Osteuropas weniger Impfstoff bestellt, als ihnen zustand, und zudem vor allem auf Lieferungen von Astra-Zeneca gesetzt. Daher sind sie von den Ausfällen noch stärker betroffen.

In der Bundesregierung gibt es für die Initiative von Kurz indes wenig Verständnis. Europa-Staatsminister Michael Roth (SPD) hat dem Begehren eine Absage erteilt. 

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