Viele Politiker sind in der Corona-Zeit zu Frustableitern geworden – vor allem auf der Plattform Telegram. Das BKA spricht von einer demokratiegefährdenden Entwicklung.
Protest gegen Coronamaßnahmen in Berlin
Radikalisierungstendenzen infolge der Coronapandemie – insbesondere in den sozialen Medien.
Bild: dpa
Berlin Beleidigungen, Bedrohungen, Mordaufrufe: Die politisch motivierte Kriminalität gegen Politiker hat drastisch zugenommen. Das zeigen Zahlen des Bundeskriminalamts (BKA), die dem Handelsblatt vorliegen. Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger haben sich demnach in den vergangenen vier Jahren fast verdreifacht.
Im Jahr 2021 zählten die Behörden laut BKA 4458 Straftaten. Zum Vergleich: 2017 waren es 1527 Fälle. Die Zahlen zum vergangenen Jahr sind dabei erst vorläufig.
Das BKA führt die zunehmende Zahl der Straftaten unter anderem auf Radikalisierungstendenzen in den sozialen Medien infolge der Coronapandemie zurück. Die Behörde hat dabei vor allem den Messengerdienst Telegram im Blick.
Man betrachte die Umtriebe auf der Plattform mit Sorge, erklärte das BKA auf Anfrage des Handelsblatts. „Diese Gesamtentwicklung einschließlich der Straftaten auf der Plattform Telegram kann durchaus demokratiegefährdend sein, wenn Menschen sich nicht mehr trauen, ihre Meinung zu äußern oder ein Amt zu übernehmen.“ Die Tendenz müsse durch ein „konsequentes Durchsetzen des Rechtsstaates“ gestoppt und bekämpft werden.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) äußerte sich besorgt über die BKA-Zahlen. „Der starke Anstieg dieser Taten zeigt eine Verrohung und eine Verachtung von Staat und Demokratie, die mir große Sorge macht und die konsequentes Handeln erfordert“, sagte Faeser dem Handelsblatt.
Die Ministerin verwies auf das BKA, das gemeinsam mit den Ländern Hasskriminalität jetzt „sehr viel stärker“ ins Visier nehme, damit Täter konsequent und schnell verfolgt und Betroffene geschützt werden. Das gelte auf allen Online-Plattformen, insbesondere für den Messengerdienst Telegram. „Wir werden mit allem Nachdruck weiter einfordern, dass diese sich nicht als Brandbeschleuniger für Hass und Verschwörungsideologien missbrauchen lassen und die gesetzlichen Verpflichtungen zum Löschen und Melden von Mordaufrufen und ähnlich gefährlichen Hassposts einhalten“, betonte die Ministerin.
Innenpolitiker der Ampelkoalition wie der SPD-Bundestagsabgeordnete Sebastian Fiedler fordern ebenfalls Konsequenzen. „Die Zahlen belegen auf erschreckende Weise, wie groß unser Problem ist“, sagte Fiedler dem Handelsblatt. „Selbstverständlich müssen die Ermittlungsbehörden in die Lage versetzt werden, jede dieser Straftaten konsequent zu verfolgen und Täter vor Gericht zu bringen.“
Umso wichtiger sei es, dass hier mit dem neuen Pakt für den Rechtsstaat bei der Polizei aufgestockt werde, sagte Fiedler. Mit dem Pakt hatten sich Bund und Länder 2019 dazu verpflichtet, Justiz, Strafverfolgung und Polizei besser auszustatten.
Der Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz sprach von einem beängstigenden Ausmaß an Hass und Hetze gegen Vertreterinnen und Vertreter demokratischer Institutionen, das nach „deutlichen Antworten des Rechtsstaats“ verlange. „Nur so ist sicherzustellen, dass sich zukünftig überhaupt noch Menschen für das Gemeinwohl engagieren“, sagte er dem Handelsblatt.
Aus Sicht des Grünen-Politikers muss es bedrohten Personen zukünftig beispielsweise vereinfacht ermöglicht werden, Auskunftssperren ihrer Adressen im Melderegister vorzunehmen. Von Notz hält es zudem für zwingend notwendig, die Rechtsdurchsetzung auf Plattformen wie Telegram zu stärken. Es müsse sichergestellt werden, dass Beleidigungen, Verhetzungen und Todesdrohungen entschlossen geahndet werden.
Auch der FDP-Fraktionsvize Konstantin Kuhle verlangte von Justiz und Sicherheitsbehörden, Straftaten innerhalb und außerhalb der digitalen Welt besser zu verhindern und zu verfolgen. Der Digitalpakt für die Justiz im Koalitionsvertrag sei dabei ein wichtiger Beitrag.
„Wenn sich Täter über Plattformen wie Telegram verabreden, geschieht dies oftmals sogar unter Klarnamen“, sagte Kuhle dem Handelsblatt. In diesen Fällen müssten die Sicherheitsbehörden schnell einschreiten.
>>Lesen Sie hier: Der Brandbeschleuniger: Warum Telegram Corona-Extremisten anzieht
Laut BKA stellen deutsche Sicherheitsbehörden auf Telegram vor allem im Rahmen der Coronapandemie Beleidigungen, Bedrohungen sowie Aufrufe zu Tötungsdelikten und weiteren schweren Straftaten fest. Betroffen seien insbesondere politische Amts- und Mandatsträger sowie Personen aus Wissenschaft und Medizin.
„Die Möglichkeiten der digitalen Kommunikation in Wechselwirkung mit dem festzustellenden Trend der Verrohung der Sprache scheinen die Grenzen des Vorstellbaren und vor allem des Kommunizierbaren zu verschieben“, konstatiert die Behörde.
Diese Entwicklung könne Impulsgeber für Radikalisierungsprozesse sein, den Zusammenschluss gewaltbereiter Personen fördern und in „digitalen sowie realweltlichen konkreten Gefahren“ münden, warnt das BKA. Telegram biete seinen Nutzern die Möglichkeit, ungefiltert zu kommunizieren und sei als internetbasierte Kommunikationsanwendung Teil dieser Entwicklung.
Deshalb habe das BKA eine Taskforce eingerichtet, um in enger Abstimmung mit den Polizeien der Bundesländer und der Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität (Zit) gezielt Tatverdächtige auf Telegram zu identifizieren und strafrechtlich zu verfolgen.
Telegram steht schon länger im Fokus der Sicherheitsbehörden. Die Kommunikations-App wurde von den Brüdern Nikolai und Pawel Durow gegründet. Die beiden versprechen, die Daten der Nutzerinnen und Nutzer von Telegram zu schützen und lehnen in weiten Teilen eine Kooperation mit staatlichen Stellen ab. Zudem kümmern sie sich nicht um Löschanfragen, auch wenn es sich um Hassrede und Gewaltaufrufe handelt.
Der Messengerdienst gilt als schwierig zu erreichen. Das Kernteam um Pawel Durow sitzt derzeit in Dubai. Den deutschen Behörden ist bislang nicht gelungen, Löschanforderungen nach dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) rechtssicher zuzustellen. Das Gesetz verpflichtet Internetplattformen, härter gegen Hass, Hetze und Propaganda vorzugehen.
Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) drohte Telegram am Freitag mit rechtlichen Schritten bei Verbreitung von Hetze. Auf zwei bereits im April 2021 verschickte Bußgeldwarnungen hat der Dienst aber bisher nicht reagiert.
Innenministerin Faeser twitterte indes, man habe Kontakt zur Konzernspitze hergestellt. „In einem ersten konstruktiven Gespräch zur weiteren Zusammenarbeit haben wir vereinbart, den Austausch fortzusetzen und zu intensivieren.“
Im Handelsblatt kündigte die SPD-Politikerin zudem an, den Zusammenhalt der Demokratinnen und Demokraten gegen Hass und Gewalt stärken zu wollen. „Das Herz unserer Demokratie schlägt in den Gemeinde- und Stadträten, den Kreistagen und Landtagen“, sagte Faeser. Dort sei auch sei politisch verwurzelt. „Deshalb weiß ich, wie die Anfeindungen diejenigen treffen, die sich ganz unmittelbar vor Ort für unser Gemeinwesen einsetzen.“
Die Ministerin versicherte: „Wir lassen nicht zu, dass sich Menschen aus Sorge um sich und ihre Familie aus der öffentlichen Debatte und aus politischen Ämtern zurückziehen. Wir sind eine wehrhafte Demokratie, die sich nicht einschüchtern lässt.“
Der SPD-Politiker Fiedler sieht dringenden Handlungsbedarf. Er verwies darauf, dass die Anhänger eines „recht neuen Verschwörungsextremismus“ Telegram für gezielte Fehlinformationen nutzten, um den Grundfesten des demokratischen Rechtsstaats die Legitimation zu entziehen.
„Rechtsextreme Gruppen, allen voran die AfD, rühren zusätzlich in dieser giftigen Suppe kräftig mit“, sagte Fiedler. Nach der Euro- und der Flüchtlingskrise finde die AfD hier nun zum dritten Mal „Treibstoff für ihre destruktive Arbeit in den deutschen Parlamenten“.
FDP-Politiker Kuhle warnte indes davor, das Problem wachsender Gewaltaufrufe gegen Amts- und Mandatsträger gänzlich auf Telegram zu reduzieren. „Andere Plattformen als Ausweichmedium sind schnell gefunden“, sagte der Abgeordnete. Deswegen sei es wichtig, dass mit dem sogenannten Digital Services Act auf europäischer Ebene ein verbindlicher Rechtsrahmen für alle Plattformbetreiber gefunden werde.
Kuhle sieh Grund zur Hoffnung, dass das EU-Gesetz auch eine Änderung des deutschen NetzDG erforderlich machen werde. „Die Justiz muss bei der Bekämpfung von Straftaten im Netz eine stärkere Rolle bekommen.“
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