Die Politikerin rechnet scharf mit „Lifestyle-Linken“ ab. Wagenkecht bescheinigt der Regierung „katastrophales Krisenmanagement“ und warnt vor den sozialen Folgen von Corona.
Sahra Wagenknecht
Das neue Buch der Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht hat bei Teilen der Partei für Empörung gesorgt.
Bild: dpa
Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht attackiert das „katastrophale Corona-Krisenmanagement“ der Union. Es habe „die soziale Spaltung unseres Landes weiter vertieft“. Auch der designierte Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet sei „nicht ehrlich, wenn er jetzt Sozialabbau und Steuererhöhungen gleichzeitig ausschließt und dann auch noch die Schuldenbremse beibehalten will“, sagte sie im Interview mit dem Handelsblatt.
Zugleich kritisierte Wagenknecht all jene „Politiker, die Großunternehmen unterstützen, die jetzt teilweise ihre Dividende verdoppeln, während sie Millionen kleine Selbstständige und Freiberufler im Regen stehen lassen“. Ihr bisheriges Pandemie-Fazit: „Die wirklich Reichen“ hätten „auch durch Corona gewonnen. Bezahlen sollen am Ende wieder die kleinen Leute und die Mittelschicht, fürchte ich. Das möchte ich verhindern“, so die 51-Jährige, in deren Parteiarbeit derzeit Glanz und Elend, Beifall und Shitstorms wieder dicht beieinander liegen.
Auf der einen Seite wurde Wagenknecht am Wochenende zur Spitzenkandidatin auf der NRW-Landesliste ihrer Linkspartei gewählt. Auf der anderen Seite fiel ihr Sieg denkbar knapp aus, und zugleich forderten etliche ihrer Genossen sie schon wieder zum Rücktritt auf.
Der Grund: Nichts attackiert Wagenknecht derzeit mit größerer Begeisterung als Teile ihrer eigenen Partei. In ihrem heute erscheinenden Buch „Die Selbstgerechten“ rechnet sie mit den „Lifestyle-Linken“ ab. Die hätten den Ton der gesellschaftlichen Debatten extrem verschärft, mit Denkverboten und neuen Tabus viele alte Stammwähler nach rechts vertrieben und seien deshalb letztlich schuld am Absturz vieler linker Parteien in ganz Europa.
Frau Wagenknecht, Ihr neues Buch ist noch gar nicht erschienen, da forderten einige Ihrer Genossen in der Linkspartei deshalb schon Ihren Rückzug. Sollen „Die Selbstgerechten“ die wachsende interne Spaltung befrieden – oder eher befeuern?
Mein Ziel ist eine Analyse der Ursachen, warum die Linke in ganz Europa so schwach geworden ist und der gesellschaftliche Zusammenhalt immer mehr zerfällt. Das ist ja kein allein deutsches Phänomen. Das Ansehen der Union ist durch ihr chaotisches Krisenmanagement und ihren endlosen Streit über die Kanzlerkandidatur derart lädiert, dass es schon bemerkenswert ist, wie wenig SPD und Linke davon profitieren. Beide zusammen kommen in Umfragen derzeit kaum noch auf 25 Prozent Zustimmung. Und das, obwohl sich eine Mehrheit der Bevölkerung mehr sozialen Ausgleich wünscht.
Ihr Erklärungsversuch ist, dass man die klassische Wählerklientel aus den Augen verloren und lieber auf ein vermeintlich linksliberal-akademisches Großstadt-Publikum gesetzt hat.
Offenkundig hilft uns die Fokussierung auf die Zielgruppe der Lifestyle-Linken und ihre Debatten um Denk- und Sprachverbote sowie Identitätspolitik nicht. Solche Diskussionen werden von einem Großteil der Bevölkerung als abgehoben wahrgenommen und gehen an den Problemen vorbei, die ein normaler Arbeitnehmer in seinem Alltag hat. Das macht die linken Parteien nicht attraktiver.
Andererseits sind doch gerade die deutschen Grünen sehr erfolgreich mit ihrer Konzentration auf ein urbanes Akademiker-Publikum. Ist der Linksliberalismus also zwar ein Erfolgsmodell, nur eben nicht für die Linke?
Die neue akademische Mittelklasse der urbanen Metropolen lebt in einer ganz spezifischen Welt und hat bestimmte Interessen. Die vertreten die Grünen ziemlich erfolgreich. Aber statt mit ihnen um ihr sozial relativ abgesichertes Wählerklientel zu konkurrieren, sollten linke Parteien sich lieber um die kümmern, die im politischen Spektrum derzeit gar keine Stimme haben: die klassische Mittelschicht, die Arbeiterschaft und diejenigen, die in den zahllosen prekären Niedriglohnjobs schuften müssen. Der moderne Linksliberalismus ist genau besehen ein falsches Etikett, denn er ist weder links noch liberal. Linke Parteien haben nie für die Privilegierten gekämpft, sondern immer für die, denen es nicht so gut geht und die für ihr bisschen Wohlstand und Aufstiegschancen kämpfen müssen.
Die gibt es ja durchaus noch…
… und – wenn man auch an das neue digitale Prekariat denkt – es werden sogar mehr. Wer diese Menschen allerdings nur noch als billige Lieferdienste oder Haushaltshilfen für die eigene Altbauwohnung in Berlin-Mitte wahrnimmt, hat natürlich andere Interessen. Im Ergebnis fühlen sich Geringverdiener, Arbeiter und kleine Selbstständige im Stich gelassen und wählen entweder gar nicht mehr oder rechts.
Sind die Lifestyle-Linken an allem schuld? Immerhin machen Sie sie in Ihrem Buch tatsächlich mitverantwortlich für den Aufstieg der Rechten in vielen Ländern.
Die aktuelle gesellschaftliche Spaltung hat natürlich viel mit sozialer Spaltung zu tun, also mit der neoliberalen Politik und dem Sozialabbau der vergangenen Jahre bis zurück zur Agenda 2010 unter dem damaligen SPD-Kanzler Gerhard Schröder. Die andere Seite der Medaille ist aber der Siegeszug der Lifestyle-Linken, die die Verlierer dieser Politik auch noch kulturell abwerten und ihre Lebensart moralisch verächtlich machen. Das Erstarken der Rechten ist ein Ergebnis von beidem.
Erstaunlich gut kommen nach Ihrer Analyse große Unternehmen mit dem linksliberalen Mainstream zurecht...
...weil sie schlau genug sind, dessen überwiegend symbolische Forderungen zu bedienen.
Ein Beispiel bitte!
Es geht um PR und Image. Das Silicon Valley etwa gilt als wahnsinnig fortschrittlich, bei Facebook kann man zwischen zig Geschlechtern wählen. Diese Unternehmen entwickeln aber Technologien, die uns totalitär überwachen und als Datenlieferanten missbrauchen. Und wenn die Unilever-Tochter Knorr ihre „Zigeuner-Sauce“ umbenennt, ist die Lifestyle-Linke begeistert. Dass die Arbeiter, die diese Sauce produzieren, gerade erfolglos gegen miese Bezahlung oder Arbeitsbedingungen kämpfen, interessiert dann schon weniger. Gerade nach einem Jahr Corona und ewiger Lockdowns fürchten viele Menschen um ihre soziale Existenz. An sprachlichen Finessen oder Identitätspolitik haben sie eher wenig Interesse, weil das ihre Probleme nicht löst.
Wie viel Lifestyle-Linksliberalismus steckt in der aktuellen Linken?
Einen Teil der Wähler erreichen wir noch. Aber der Trend ist nicht gut: Es werden weniger. Und das sehe ich nicht nur als Parteimitglied, sondern gesamtgesellschaftlich als Problem an. Wenn größere Teile der Bevölkerung sich von keiner politischen Kraft mehr wirklich vertreten fühlen, erodiert die Demokratie.
Inwiefern?
Schon in der Flüchtlingsdebatte nach 2015 hat sich der Ton drastisch verschärft: Wer auch nur für eine geregelte Zuwanderung eintrat, galt plötzlich als Rassist. Aber die übergroße Mehrheit der Menschen – übrigens in allen Ländern – lehnt unkontrollierte Zuwanderung ab. Wer dann in der Klimadebatte höhere Sprit- und Heizölpreise verhindern wollte, weil sich die nun mal viele nicht leisten können, war sofort ein „Klima-Leugner“. Und in Corona-Zeiten erleben wir nun, wie jede Kritik an den ewigen Lockdowns in die Ecke von Verschwörungstheoretikern gestellt wird. Wer klügere Lösungen fordert, muss sich vorwerfen lassen, ihm seien Menschenleben egal. Einige fordern, am besten alles dichtzumachen. Das hat schon fast totalitäre Züge und ist weit weg von der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen.
Es geht gar nicht mehr um Argumente, sondern um Gefühle?
Ja, die Debatte wird moralisch aufgeladen und äußerst emotional geführt. Ängste werden geradezu geschürt. Natürlich ist Covid-19 ein gefährliches Virus, das bereits viele Menschenleben, besonders unter den Älteren, gekostet hat. Aber ich erschrecke doch, wie unmöglich es oft schon ist, einfach mal Argumente über den richtigen Weg durch die Pandemie auszutauschen.
Intern kämpften Sie jahrelang gegen Katja Kipping an, die als Parteichefin die Linke neu akademisierte. 2019 gaben Sie entnervt den Fraktionsvorsitz ab. Wie viel persönliche Betroffenheit ist in Ihrem Buch?
Ich habe nicht gegen Katja Kipping gekämpft, es war eher umgekehrt. Und natürlich freue ich mich auch, wenn uns Akademiker wählen. Ich hatte immer volle Säle an Unis, als ich vor Corona da noch Veranstaltungen machen konnte. Es ist auch zum Glück bei Weitem nicht jeder Studi ein Lifestyle-Linker. Auch Studenten haben vielfach andere Sorgen als „woken“ Sprachgebrauch und das hypersensible Aufspüren von „Mikroaggressionen“. Mein Buch ist keine Abrechnung. Mich treibt um, dass sich die linken Parteien verzwergen und am Ende die Rechte profitiert. Dem setze ich einen Vorschlag entgegen, wie eine Politik für mehr sozialen Zusammenhalt wieder mehrheitsfähig werden könnte.
Die von Ihnen mitgegründete linke Sammelbewegung „Aufstehen“ hat das auch schon nicht geschafft. Woran lag’s?
Das Anliegen war ja, SPD und Linkspartei zu einer Politik zu motivieren, die wieder mehr Wähler anspricht. Die Resonanz war mit 170.000 Mitgliedern innerhalb kürzester Zeit riesig. Aber in den Führungsgremien beider Parteien stießen wir auf völlig taube Ohren, und eine eigene Partei sollte Aufstehen nicht werden, obwohl sich das erkennbar viele Anhänger damals gewünscht haben. Aber das hatte ich öffentlich ausgeschlossen. Und dazu stand ich dann auch. In einer Parteiendemokratie können aber nur Parteien Mehrheiten erreichen. So lief das Ganze zunächst leider ins Leere. Zurzeit versuchen einige junge Leute, „Aufstehen“ zu reaktivieren, die Mehrheit der Mitglieder ist ja immer noch dabei. Das hat meine volle Unterstützung.
Nach all den internen Kämpfen: Wann wäre der Punkt für Sie erreicht, die Linke zu verlassen?
Ich kandidiere wieder für die Linke, weil ich mir wünsche, dass wir wieder mehr gesellschaftlichen Rückhalt bekommen und ich dazu beitragen kann. Und bisher ist es ja nicht so, dass die Lifestyle-Linken in der Partei dominieren. Das ist ein Flügel, aber die Bundestagsfraktion etwa setzt überwiegend andere Schwerpunkte, und die Fraktionsvorsitzenden stehen auch für einen anderen Kurs. Ebenso wie sehr viele unserer Mitglieder.
Gerade haben Sie den Spitzenplatz auf der NRW-Landesliste der Linkspartei erobert, allerdings mit weit weniger Zuspruch, als man das normalerweise erwarten darf.
Das ist Demokratie: Es gab im Vorfeld eine ziemlich heftige Kampagne gegen mich und zwei Gegenkandidatinnen...
... und schon wieder Forderungen, Sie sollten sich zurückziehen. Ihr Buch sei eine „Kriegserklärung“ an die Partei, hieß es.
Es gibt in der NRW-Linken eine Gruppierung, die bereits seit Anfang des Jahres Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hat, um meine Kandidatur zu verhindern. Insofern freue ich mich, dass sich 61 Prozent der Delegierten für mich ausgesprochen haben.
Wie lassen sich die offenkundigen Gräben noch überwinden?
Diese Differenzen gibt es aktuell ja auch bei der SPD, und sogar bei den Grünen geht den vernünftigen Leuten die hysterische Identitätspolitik einiger inzwischen zu weit. Deshalb muss die Diskussion geführt werden.
Dort musste die Berliner Spitzenkandidatin sich jüngst dafür entschuldigen, dass sie in einem Interview salopp erzählte, als Kind habe sie „Indianerhäuptling“ werden wollen.
Wenn so eine Aussage dann intern als „Herabwürdigung indigener Bevölkerungsgruppen“ attackiert wird, wissen Sie, was ich mit vergifteten Debatten meine. Auch bei den Grünen gibt es deshalb Warnungen, es nicht zu weit zu treiben. Wenn die Grünen ernsthaft über 20 Prozent erreichen möchten, können sie sich solchen Unfug nicht leisten.
Wer flößt Ihnen in der Linken eigentlich noch Vertrauen ein? Ist die dänische Regierungschefin, Sozialdemokratin und Realpolitikerin Mette Frederiksen mehr nach Ihrem Geschmack?
Die Dänen machen in vielerlei Hinsicht eine sehr vernünftige Politik. Ich fand das ebenso ungerecht wie bezeichnend, als Mette Frederiksen bei der letzten Wahl vorgeworfen wurde, sie sei nach rechts gerückt – nur weil sie auf ihre Wähler gehört und deshalb eine Begrenzung der Zuwanderung gefordert hat
Zumindest Ihrer Lifestyle-Linken gilt Migration als sakrosankt.
Wem hilft denn Zuwanderung? Sie blutet oftmals die Herkunftsländer aus, denen die besten Arbeitskräfte und klügsten Köpfe verloren gehen. Und in den Zielländern sorgt die Zuwanderung für Lohndumping, weil natürlich eine zusätzliche Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt entsteht. Wer etwas für die Ärmsten dieser Welt tun will, muss seine Handelspolitik verändern und dem UNHCR, das sich um die Flüchtlingslager in aller Welt kümmert, mehr Mittel zukommen lassen. Die wirklich Armen erreichen Europa ohnehin nicht, weil sie schlicht das Geld nicht haben, um die teure Flucht und die Schlepper zu bezahlen.
Wo sitzen Ihre härteren Gegner im anstehenden Bundestagswahlkampf – in der eigenen Partei oder bei den Konservativen?
Meine Gegner sind all jene, die mit ihrem katastrophalen Corona-Krisenmanagement die soziale Spaltung unseres Landes weiter vertieft haben: Politiker, die Großunternehmen unterstützen, die jetzt teilweise ihre Dividende verdoppeln, während sie Millionen kleine Selbstständige und Freiberufler im Regen stehen lassen. Es ist ja auch von Armin Laschet nicht ehrlich, wenn er jetzt Sozialabbau und Steuererhöhungen gleichzeitig ausschließt und dann auch noch die Schuldenbremse beibehalten will. Die wirklich Reichen haben auch durch Corona gewonnen. Bezahlen sollen am Ende wieder die kleinen Leute und die Mittelschicht, fürchte ich. Das möchte ich verhindern.
Frau Wagenknecht, vielen Dank für das Interview.
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