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02.02.2022

04:00

Messenger

Der Brandbeschleuniger: Warum Telegram Corona-Extremisten anzieht

Von: Heike Anger, André Ballin, Dietmar Neuerer

Demokratiebewegungen nutzen Telegram als Kommunikationsmittel, inzwischen tummeln sich dort auch immer mehr Extremisten. Doch Regulierungsversuche laufen ins Leere. Wie ist das zu erklären?

Hochbegabt, schwierig, undiszipliniert: Der Telegram-Gründer Pawel Durow widersetzt sich den Behörden. Getty Images (M)

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Hochbegabt, schwierig, undiszipliniert: Der Telegram-Gründer Pawel Durow widersetzt sich den Behörden.

Berlin, Moskau Der gebürtige Leningrader Pawel Durow galt schon zu Kinderzeiten als hochbegabt, aber auch als schwierig und undiszipliniert. Der Professorensohn erklärte seinen Lehrern mindestens einmal zu oft, wie inkompetent sie seien.

Auch auf dem Akademischen Gymnasium, einer Eliteschule der Stadt, handelte der junge Durow sich Ärger ein: Er hackte die Computer seiner Schule, sodass auf dem Begrüßungsbildschirm das Konterfei des Informatiklehrers mit der Aufschrift „Must Die“ auftauchte.

Wer will, kann im Rückblick bereits jene autoritätsfeindlichen Züge im jugendlichen Durow erkennen, die ihn später zum Schöpfer des wohl umstrittensten Kommunikationsdienstes in der digitalen Welt werden ließen: Telegram. Der Messengerdienst, der nach eigenen Angaben inzwischen weltweit über eine halbe Milliarde Menschen erreicht, verweigert sich seit jeher erfolgreich jeglicher Regulierung.

Beliebt macht den Messenger auch die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung der privaten Nachrichten, die eine staatliche Überwachung wesentlich erschwert. Für Regimekritiker im Iran oder in Belarus ist Telegram ein unverzichtbares Werkzeug, um Proteste zu organisieren. Der Moskau-Korrespondent der ARD, Demian von Osten, sagt, dass sein Team wegen der Kontrolle durch den Geheimdienst nur dank Telegram mit Oppositionellen in Belarus kommunizieren könne.

Doch genau diese Freiheit von staatlicher Kontrolle und Überwachung hat Telegram in Deutschland zum bevorzugten Medium für die Gegner staatlicher Coronamaßnahmen gemacht. Viele dieser Aktivisten wurden auf Plattformen wie Youtube, Facebook oder Twitter gesperrt, weil sie Gewaltaufrufe, gesundheitliche Falschinformationen oder Beleidigungen verbreitet hatten.

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Auf Telegram können solche User ihre Inhalte frei von jeglicher Moderation oder Zensur durch den Betreiber oder den Staat verbreiten. „Das ist gerade der Markenkern, mit dem Telegram unterwegs ist“, sagt der Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes, Stephan Kramer. Bereits seit Monaten versucht der deutsche Staat, Telegram zu regulieren – bislang erfolglos.

Die antiautoritäre DNA von Telegram macht in der Praxis keinen Unterschied zwischen Diktaturen wie in Belarus oder demokratischen Rechtsstaaten wie der Bundesrepublik. Eine Indifferenz, die deutsche Verfassungsschützer und Innenpolitiker zur Weißglut treibt – aus Sicht der Telegram-Macher aber nur konsequent ist.

Ermöglicht wird diese grenzenlose Kommunikationsfreiheit durch spezielle Funktionen, die andere Messengerdienste nicht anbieten. Die Größe von Gruppen oder das Weiterleiten von Nachrichten sind bei Telegram so gut wie nicht beschränkt, anders als etwa auf WhatsApp.

Auf Telegram ist der wechselseitige Austausch in Gruppen von bis zu 200.000 Mitgliedern möglich, die meistens öffentlich einsehbar sind. Die eigenen Richtlinien von Telegram verbieten zwar, in öffentlichen Kanälen zu Gewalt aufzurufen. Zu Sanktionen oder Löschungen kommt es nur äußerst selten.

Um zu verstehen, warum Telegram seine Chats unmoderiert lässt, Inhalte nicht zensiert und auch mit Behörden nicht zusammenarbeitet, muss man die Geschichte der Plattform ebenso verstehen wie die Biografie ihres Gründers: des mittlerweile 37 Jahre alten Pawel Durow.

Probleme mit dem russischen Inlandsgeheimdienst

Als Student gründete Durow mit seinem Bruder Nikolai, der als technischer Mastermind hinter den Internetprojekten der Geschwister gilt, sein erstes soziales Netzwerk. Es sollte zunächst als elektronische Bibliothek für Referate und später auch dem Austausch zwischen Kommilitonen dienen. Beeinflusst von Facebook, änderte Durow bald das Konzept hin zu einem über die Studentenschaft hinausgehenden Netzwerk.

„Vkontakte“ nannte Durow das Projekt, das Ende der Nullerjahre förmlich explodierte. Das Timing, aber auch das Konzept erwies sich als Volltreffer: Auf „Vkontakte“ wurden viele Spiele und Videoclips verbreitet – zum großen Teil ohne sich um das Copyright zu kümmern. Verkaufsangebote lehnte der Jungunternehmer ab, stattdessen entwickelte er „Vkontakte“ mithilfe von Investoren schnell weiter und wurde nebenbei zum Multimillionär.

Probleme tauchten auf, als er dem russischen Inlandsgeheimdienst FSB seine Mitarbeit verweigerte. Der FSB hatte ihn Ende 2011 aufgefordert, mehrere Gruppen bei „Vkontakte“ zu blockieren. Als die bewaffneten Agenten vor seiner Tür standen, habe er das erste Mal über seine Zukunft in Russland nachgedacht, bekannte Durow später: „Sie hatten Kanonen und sahen sehr gefährlich aus.“

Der Messengerdienst erreicht weltweit über eine halbe Milliarde Menschen. dpa

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Der Messengerdienst erreicht weltweit über eine halbe Milliarde Menschen.

Als sie endlich abzogen, rief er seinen Bruder an. „Da erkannte ich, dass ich keine sichere Möglichkeit der Kommunikation mit ihm habe“, erinnert sich Durow. Er befürchtete, abgehört zu werden. Die Idee für Telegram war geboren.

Der Konflikt mit den russischen Sicherheitsorganen zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des 2013 gegründeten Messengers: Durow hatte von Anfang an die Abhörsicherheit der App im Blick. Bis heute ist Telegram deshalb bei russischen Oppositionellen beliebt. Die Sicherheitsorgane beschuldigten Durow indes, mit Telegram auch Terroristen Unterschlupf zu gewähren.

Firmensitz in Dubai erschwert Ermittlungsarbeit

Der FSB verlangte die Aushändigung der Verschlüsselungscodes von Telegram. Durow weigerte sich. Nach einem Gerichtsbeschluss zur Schließung wechselte der Chatdienst auf ausländische Server. Die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor blockierte daraufhin 16 Millionen IP-Adressen. Bei Telegram kam es dadurch zwar vermehrt zu Störungen, doch ganz ausschalten ließ sich Durow nicht. Zudem waren die Kollateralschäden gewaltig. Reihenweise fielen andere Internetseiten aus.

Für Durow war der Konflikt eine Steilvorlage. Er feierte sich als Kämpfer für die Freiheit des Internets. Einen Weg zurück nach Russland gebe es für ihn nicht. „Speziell, nachdem ich öffentlich abgelehnt habe, mit den Behörden zusammenzuarbeiten“, sagte er.

„Digitalnomade“ nennt sich der vegetarisch lebende Russe. Mit einem Team von Programmierern ist er seit Jahren im Ausland unterwegs. Seit 2017 verbringt er die meiste Zeit in den Vereinigten Arabischen Emiraten. In Dubai befindet sich auch der Firmensitz von Telegram.

In Dubai befindet sich der Firmensitz von Telegram. Reuters

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In Dubai befindet sich der Firmensitz von Telegram.

Es ist damit schwer, an die Verantwortlichen heranzukommen. Ermittler berichteten im vergangenen Jahr dem „Spiegel“, es lohne sich gar nicht erst, eine Anfrage dorthin zu schicken. Wann immer sie wissen wollten, wer hinter einem Account stecke, auf dem Straftaten begangen werden, komme von Telegram schlicht keine Antwort.

In der Coronakrise konnte sich auf der Plattform eine Art bundesrepublikanische Gegenöffentlichkeit formieren. Neben Bürgerinnen und Bürgern, die dort auf teilweise „sehr drastische Weise“ ihrem Ärger Luft machten, tummelten sich in der App auch verschwörungsideologische Akteure, Reichsbürger, Querdenker und hauptsächlich Rechtsextremisten, erklärt der Thüringer Verfassungsschützer Kramer.

Hunderte Tötungsaufrufe

Die Extremen sind es, die der deutsche Inlandsgeheimdienst im Blick hat. Leute, die versuchten, in Telegram-Gruppen nicht nur die eigene Bewegung zu stärken, sondern gerade auch diejenigen zu erreichen, die empfänglich für extremistische Stimmungsmache seien, erläutert der Geheimdienstler: „Es geht also auf Telegram auch ganz klar um den Erstkontakt in die nicht-extremistische kritische Masse, um ohne großen Aufwand zu rekrutieren und zu mobilisieren.“

In einigen Foren von Impfgegnern und Coronaleugnern ist dabei der Ton seit dem vergangenen Herbst radikaler geworden. Verfassungsschützer Kramer beobachtet, dass derzeit „besonders viele konkrete Umsturzfantasien“ geäußert werden. In der Zeit von November bis Dezember 2021 fanden sich in öffentlichen Telegram-Chaträumen zudem mehr als 250 Aufrufe zur Tötung von Politikern, Journalisten, Wissenschaftlern, Ärzten und Polizisten, ergab eine Recherche des ARD-Onlineportals „tagesschau.de“.

Die Drohungen richteten sich unter anderem gegen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und den CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz. Mit einer Todesdrohung sah sich auch Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) konfrontiert. In dem Text, der der Querdenkerszene in Mecklenburg-Vorpommern zugeordnet wird, hieß es: „Sie wird abgeholt, entweder mit dem Streifenwagen in Jacke oder mit dem Leichenwagen, egal wie sie wird abgeholt.“

Thüringens Innenminister Georg Maier (SPD) sieht Telegram denn auch als einen „Brandbeschleuniger“ für Radikalisierungen gerade der Coronaproteste: „Die Gefahr ist sehr groß, dass aus dem Hass dort auch Gewalt wird.“

Hilflose Politik

Die Politik ist alarmiert, wirkt aber hilflos. „Wir müssen hier dringend handeln“, sagt Maier. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) macht klar: „Gegen Hetze, Gewalt und Hass im Netz müssen wir entschlossener vorgehen.“ Doch wie entschlossenes Handeln im Fall von Telegram aussehen soll, darauf hat die Ministerin bisher keine abschließende Antwort geben können.

Das Problem: Juristisch ist Telegram schwer zu packen. Die brisante Materie landete gleich zum Amtsantritt beim neuen Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP). Der will der Onlineplattform zunächst mit altbewährten Mitteln beikommen. „Soweit Diensteanbieter deutsche Regulierungen verletzen, gehen die deutschen Behörden dagegen mit den rechtlich zur Verfügung stehenden Mitteln vor“, sagte Buschmann dem Handelsblatt.

Die Bundesinnenministerin will Telegram von Apple und Google verbannen lassen. dpa

Nancy Faeser

Die Bundesinnenministerin will Telegram von Apple und Google verbannen lassen.

Gemeint ist das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG), das etwa auch für Dienste wie Facebook und Twitter gilt. Es verpflichtet Anbieter, einen „Zustellungsbevollmächtigten“ im Inland anzugeben, um für Behörden, aber auch bei Zivilverfahren erreichbar zu sein. Außerdem verpflichtet das Gesetz Anbieter, einen leicht zugänglichen Meldeweg für strafbare Inhalte einzurichten.

In beiden Punkten laufen derzeit bereits Bußgeldverfahren gegen Telegram beim Bundesamt für Justiz. Ob sich das Unternehmen davon tatsächlich beeindrucken geschweige denn zur Mitarbeit drängen lässt, ist mehr als fraglich.

Der Justizminister verweist auch deshalb auf einen weiteren Hebel gegen Hass und Hetze auf Telegram: das Strafrecht. „Das wichtigste Instrument zur Bekämpfung von Hasskriminalität im Netz ist ein hoher Fahndungsdruck bei Straftaten“, sagte der FDP-Politiker. Dazu seien „Online-Streifen“ ein wichtiger Beitrag und die entschlossene Einleitung von Ermittlungsverfahren durch die Staatsanwaltschaften.

Hilfsappell an Google und Apple

Solche Maßnahmen richten sich allerdings nur gegen die Nutzerinnen und Nutzer, nicht gegen die Onlineplattform als solche. Bundesinnenministerin Faeser drohte dem Chat-Dienstleister zwischenzeitlich sogar mit der Abschaltung, ohne allerdings zu sagen, wie dies praktisch zu bewerkstelligen wäre. Selbst ihr Ministerium konnte dazu weder technische noch rechtliche Details nennen.

Praktikabler scheint ein anderer Vorstoß der Ministerin: Apple und Google könnten die Telegram-App aus ihrem Angebot verbannen. Das müssten die Unternehmen aber selbst entscheiden. Faeser versucht es mit sanftem, verbalem Druck, indem sie die beiden Anbieter für Apps auf mobilen Endgeräten an ihre „gesellschaftliche Verantwortung“ erinnert.

Am vergangenen Freitag stand das Thema auch auf der Tagesordnung eines Treffens der Innenminister von Bund und Ländern in Stuttgart. Vorsichtig optimistisch berichtete Faeser ihren Amtskollegen, bei Google und Apple sehe sie die Bereitschaft, gegen Gewaltaufrufe in Telegram-Gruppen vorzugehen. Ihr Ministerium habe festgestellt, dass insbesondere Google da „sehr kooperativ“ sei. Bei den Gesprächen mit den beiden Unternehmen gehe es um eine Kooperation, „damit die Inhalte gelöscht werden“.

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Justizminister Buschmann sieht mehr Durchschlagskraft auf EU-Ebene: Mit dem sogenannten „Digital Services Act“ würden erstmals gemeinsame europäische Vorgaben für soziale Netzwerke geschaffen, um mit geeinten Kräften Hass und Hetze konsequent zurückzudrängen, erklärte der Minister: „Von diesen Regeln wird auch Telegram erfasst sein.“

Die Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Katarina Barley, ist schon jetzt von der Wirksamkeit der geplanten Vorschriften überzeugt. Der Messenger sei dann nicht nur verpflichtet, gegen rechtswidrige Inhalte in offenen Gruppen vorzugehen. Telegram müsse zudem einen Ansprechpartner für die EU und ihre Mitgliedstaaten benennen, sonst drohten „saftige europäische Bußgelder“.

Einen kleinen Schönheitsfehler hat das EU-Vorhaben allerdings: Das Regelwerk zu Pflichten und Verantwortlichkeiten digitaler Dienste wird wahrscheinlich erst 2023 in Kraft treten.

Und für Pawel Durow, so viel ist klar, geht es ums Prinzip. Der bekennende Libertäre tritt für Steuerfreiheit im IT-Bereich ein, ebenso für die Abschaffung von Visa-, Wehr- und Meldepflicht. Berufsrichter möchte er durch offene Geschworenengerichte ersetzen. Telegram frei von staatlicher Regulierung zu halten ist für den aufsässigen Schüler von einst zur Lebensaufgabe geworden.

Kommentare (3)

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02.02.2022, 13:23 Uhr

Unabhängig, dass manche (ich sage: einige Wenige) Telegram zum Austausch mit Gleichgesinnten suchen, ist es erstmal ein Messenger. Und hier leider kein allzu sicherer, denn Chats mit Text und Bildern landen standardmäßig unverschlüsselt auf den Telegram-Servern. Das verbreitete Whatsapp ist zwar verschlüsselt, aber nutzt die massenhaften Meta-Daten, um allerlei Sachen zu treiben. Und gehört noch dazu einem der umstritttensten Konzerne unsere Zeit: Facebook. Firmen wie diese sollte man meiden, wo immer es geht.
Für wirklich sichere Kommunikation –sowohl privat, als auch geschäftlich– gibt es zwei Apps: "Signal" und Threema. Gerade Signal wird weltweit von vielen Datenschützern (prominentester Unterstützer: Whistleblower Edward Snowden) und Einrichtungen (z.B. EU-Kommission) empfohlen. Kann deshalb jedem raten jegliche Kommunikation über Signal abzuwickeln. Kostet nichts, lebt von Spenden und hat sich den Datenschutz auf die Fahnen geschrieben. Nutze es bereits seit Jahren, der Funktionsumfang ist 1:1 der selbe wie Whatsapp. Und nachdem die Verbreitung im Bekanntenkreis immer größer wurde habe ich Whatsapp vor über 1 Jahr deaktiviert.

Interessant hierbei: selbst Whatsapp benutzt zur Verschlüsselung das Signal-Protokoll. Dann doch lieber auf zum Original, statt die dubiosen Besitzer von Whatsapp oder Telegram in irgendeiner Form zu unterstützen.

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