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22.08.2022

13:29

Mobilität

Die Milliarden-Frage: Ist das Neun-Euro-Ticket nun ein Erfolg oder nicht?

Von: Daniel Delhaes

Die Nahverkehrsbranche diskutiert, was das Billigticket bewirkt hat. Die Nachfrage war hoch – doch bleibt sie es auch nach dem Ende der Rabattaktion? Das herauszufinden gestaltet sich schwierig.

Enorm viele Menschen nutzten das Neun-Euro-Ticket. Die Frage ist nur: aus welcher Motivation heraus? dpa

Öffentlicher Nahverkehr

Enorm viele Menschen nutzten das Neun-Euro-Ticket. Die Frage ist nur: aus welcher Motivation heraus?

Berlin In der Nahverkehrsbranche ist eine Debatte darüber entbrannt, in welcher Form das verbilligte Neun-Euro-Ticket ein Erfolg war oder nicht. Zwar sind sich alle einig, dass das Ticket millionenfach nachgefragt wurde. So hat der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) ermittelt, dass im ersten Monat 21 Millionen Tickets verkauft wurden, im Juli 17 Millionen. Hinzu kommen die zehn Millionen Abonnenten, die nun auch statt des regulären Preises nur neun Euro im Monat zahlen.

Doch ist die Rabattaktion deswegen ein Erfolg? Kanzler Olaf Scholz hält es für „eine der besten Ideen, die wir hatten“. Doch scheiden sich die Geister: Sind die Menschen mit dem Ticket nur in den Urlaub gefahren oder haben endlich mal eine Reise unternommen, die sie sich bislang nicht leisten konnten? Oder lassen sie wirklich das Auto stehen?

Ende März hatte die Bundesregierung beschlossen, ein einheitliches Billigticket im Nahverkehr einzuführen und die Menschen so von ihren Mobilitätskosten zu entlasten. Von Juni bis Ende August kostet der Nahverkehr bundesweit nur neun Euro im Monat. Da es schnell gehen musste, hatte die Regierung den VDV gebeten, das Experiment mit einer Marktforschung zu begleiten. Der Verband beauftragte die Marktforscher der Deutschen Bahn AG. Doch klare Erkenntnisse zu gewinnen gestaltet sich alles andere als leicht.

Wie viele fuhren mit dem Neun-Euro-Ticket in den Kurzurlaub?

Seit der Beauftragung gibt es Streit über das Frage-Design, die Auswahl der Befragten und damit über die Ergebnisse. So erklärt etwa VDV-Geschäftsführer Oliver Wolff die geringeren Verkäufe im Juli mit einer „Erkenntnis aus unserer Marktforschung: Die Mehrheit der Fahrgäste nutzt das Neun-Euro-Ticket nicht für Ausflugs- oder Urlaubsfahrten, sondern im Alltag“.

Eine Nachfrage vor Ort in Verkehrsverbünden zeigt indes ein differenzierteres Bild. Im Verkehrsverbund München etwa erklärte eine Sprecherin, die Menschen führen öfter als sonst mit dem Nahverkehr, vor allem „zu Zielen in einem anderen Geltungsbereich sowie zu touristischen Zielen und Freizeitzwecken“.

Im Juni hatte der VDV noch erklärt: „Mehr als die Hälfte der Befragten nannten als Hauptgrund den Verzicht auf Autofahrten, etwas weniger als die Hälfte gaben ‚Umweltschutz‘ als hauptsächlichen Kaufgrund an.“ Im Juli dann ermittelte der Verband: Drei Prozent der Nutzer würden dank des Neun-Euro-Tickets das Auto stehen lassen.

Für die Geschäftsführerin des Hamburger Verkehrsverbunds sind die Ergebnisse des VDV nicht korrekt. Sie würden „die tatsächliche Fahrtenverlagerung nicht richtig abbilden“. Neu entstandene Mobilität sei stark überschätzt, während der Wechsel vom Auto auf Bus und Bahn unterschätzt worden sei. „Der hohe Anteil an induziertem Verkehr ist stark durch die Abfrage im Interview bestimmt“, resümiert Anna-Theresa Korbutt.

Der Verbund hat für die Hansestadt ermittelt: Zwölf Prozent der Nutzer wären normalerweise mit dem Auto gefahren, vier Prozent mit dem Rad, und ein Prozent spart sich den Fußmarsch. Im Verkehrsverbund Rhein-Neckar hingegen hieß es, vor allem die bisherigen Gelegenheitskunden hätten das Angebot genutzt, um noch billiger und häufiger zu fahren, erklärte Geschäftsführer Volkhard Malik am Donnerstag.

Vorteile des Neun-Euro-Tickets: Ergibt es mehr Sinn, die Tarife einfacher zu gestalten?

Sein Verbund wolle daher lieber seine Tarife vereinfachen und flexibler gestalten, anstatt weiter auf Billigangebote zu setzen. In der Tat gehört zu den großen Vorteilen des Neun-Euro-Tickets, dass es einfach ist und bundesweit gilt. Dies betont auch Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP).

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Der VDV hat inzwischen das Frage-Design zweimal angepasst. Der zuständige Geschäftsführer, Jan Schilling, störte sich etwa erst kürzlich an der Behauptung, die Aktion bewirke nichts für den Klimaschutz. Es gebe Anzeichen, dass die Menschen ihr Mobilitätsverhalten ändern.

Wer bezahlt in Zukunft für den Nahverkehr?

„Um hier noch mehr Erkenntnisse zu gewinnen, haben wir noch mal das Design der Marktforschung verändert“, erklärte er. Was dann ein „Erfolg“ sei, müsse jeder für sich beurteilen. Er sei beeindruckt, „dass nach so kurzer Zeit Veränderungen messbar sind“. Der VDV ist inzwischen ohne Rücksprache mit den Mitgliedern vorgeprescht und wirbt für ein 69-Euro-Ticket als „Klimaticket“, wie es Geschäftsführer Wolff nennt.

Die Interpretation der erhobenen Daten wird entscheidend sein: Bund und Länder beraten seit dem Frühjahr – unabhängig von der Frage des Neun-Euro-Tickets –, wie der Nahverkehr besser werden und mehr Menschen transportieren kann. Die zentrale Frage aber lautet: Wer bezahlt?

Schon heute überweist der Bund den Ländern mehr als zehn Milliarden Euro und damit mehr als die Hälfte der fast 20 Milliarden Euro, die jedes Jahr in das System fließen. Die Ticketeinnahmen reichen bei Weitem nicht aus.

Für die Länder und den VDV steht fest: Der Bund soll mehr zahlen. Die FDP im Bund aber lehnt ab, auch wenn Verkehrsminister Wissing bereits im Juli mit Daten des VDV und des Navigationsdienstanbieters Tomtom „einen Riesenbeitrag zum Klimaschutz und zur Entlastung der Straße“ ausgemacht hatte. Er besteht darauf, dass sich die Koalition erklärt, wie es weitergehen soll. Auch müssten sich auch die Länder finanziell beteiligen. VDV-Geschäftsführer Schilling hält dann eine Neuauflage zum 1. Januar 2023 „im Rahmen des Entlastungspakets“ für möglich.

Vorher werden etliche Nahverkehrsunternehmen und -verbünde die Preise wieder auf das alte Niveau anheben – und darüber hinaus. Wegen der gestiegenen Energie- und Personalkosten steigen sie teilweise deutlich. „Der Preis wird die Menschen nicht allein dazu bringen, mehr mit Bus und Bahn zu fahren“, stellte Holger Klein vom Verkehrsverbund Rhein-Sieg klar.

Vielmehr benötige das System mehr Geld für ein „leistungsstarkes Angebot“. Nur so ließen sich die Klimaziele der Politik realisieren. „Ohne finanzielle Unterstützung werden Angebotskürzungen zu einem leider realistischen Schreckensszenario.“

HVV-Chefin Korbutt will den Schub so oder so nutzen: Sie verlost derzeit 100 Neun-Euro-Tickets für ein ganzes Jahr und bietet Arbeitgebern ein Jobticket für viermal neun Euro, also 36 Euro im Monat, an. „Für mich ist das Ticket jetzt schon ein voller Erfolg“, sagt sie.

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