750 Satelliten sollen 2022 in die Erdumlaufbahn geschossen werden, um zahlreiche neue Technologien zu ermöglichen. Doch die Entwicklung stockt. Und es gibt einen Schuldigen.
Brüssel, Berlin, Paris Unendliche Weiten? Von wegen. Das All füllt sich mit Schrott, dort jedenfalls, wo der Mensch sich mit Gerätschaften und Geschäften ausbreitet: im Orbit der Erde. Überreste ausrangierter Satelliten sind zu einer der größten Herausforderungen für die Raumfahrt geworden. Sie bedrohen Astronauten, Raumstationen und Kommunikationsnetze, behindern die wirtschaftliche Nutzung des Alls.
Die US-Weltraumbehörde Nasa warnt: „Die wachsende Menge an Weltraumschrott erhöht das Gefahrenpotenzial für alle Raumfahrzeuge, einschließlich der Internationalen Raumstation ISS.“
Weil die Metallsplitter mit einer Geschwindigkeit von mehr als 28.000 Kilometer pro Stunde um die Erde jagen, reichen selbst kleine Teile aus, um einen Satelliten zu zerstören – und damit neuen Schrott zu produzieren, der noch mehr Schrott produziert. Schon jetzt umspannt ein Trümmerfeld die Erde, es droht exponentiell zu wachsen und den Orbit in ein Minenfeld zu verwandeln.
Dabei ist das Weltall ökonomisch und politisch so wichtig wie nie. Bis zu 750 Satellitenstarts sind diesem Jahr geplant. Experten sagen eine neue Epoche der Raumfahrt voraus, ein zweites „Space Race“, das die Weltraum-Rivalität von Amerikanern und Russen im Kalten Krieg übertreffen wird. Weltraum-Technologien sollen eine Schlüsselrolle auf dem Weg in eine grüne und digitale Zukunft spielen.
Satelliten ermöglichen Internetverbindungen in abgelegenen Regionen und die genaue Bestimmung von Positionsdaten – die Vision vom autonomen Fahren wäre ohne sie nicht realisierbar. Aus dem All lassen sich klimatische Veränderungen beobachten, Waldbrände frühzeitig erkennen, Dürren vorhersagen und Migrationsbewegungen antizipieren.
Auch der Kampf gegen Überfischung und die Abholzung wäre ohne orbitale Spähposten kaum möglich. Die Nutzung des Alls „macht unser Land digitaler, grüner und innovativer“, schreibt der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) in einer aktuellen Analyse.
Abholzung
Der Kampf gegen Überfischung und die Abholzung wäre ohne Aufnahmen aus dem All kaum möglich.
Bild: dpa
Doch die Altlasten in der Umlaufbahn könnten verhindern, dass die Nutzung des Weltraums ihr volles Potenzial erreicht. Die Anzahl der Fälle, bei denen ein Satellit oder ein Trümmerteil in weniger als einem Kilometer Entfernung an einem anderen Satelliten vorbeirauscht, hat sich von 2000 pro Monat im Jahr 2017 auf 4000 pro Monat verdoppelt. Nie war die Kollisionsgefahr so groß wie heute.
Die Vermüllung des Orbits mit ihren Konsequenzen für die Weltraumfahrt wird auch zu den Feldern gehören, mit denen sich die Grünen-Abgeordnete Anna Christmann in den kommenden Jahren befassen wird. Das Bundeskabinett ernannte die Mathematikerin und Volkswirtin am Mittwoch zur neuen Raumfahrtkoordinatorin der Ampel-Regierung.
Der Vizepräsident des Bundesverbandes der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie (BDLI), Marco Fuchs, verspricht sich von der neuen Ampel-Regierung einen deutlichen Schub für seine Branche. Er begrüßte in dem Zusammenhang die Benennung der Grünen-Politikerin als neue Luft- und Raumfahrtkoordinatorin der Bundesregierung als wichtigen Schritt.
Sie müsse nun dafür Sorgen tragen, dass das, was im Koalitionsvertrag über die Raumfahrt stehe, in die Tat umgesetzt werde. „Nämlich, dass wir zu den Bereichen gehören, die für die Umgestaltung Deutschlands eine entscheidende Rolle mit spielen““, sagte Fuchs.
Aber das Thema hat nicht nur eine politische Dimension, es treibt auch die Wirtschaft um. Gründerin Kristina Nikolaus etwa wittert eine Gelegenheit. „Das Thema Weltraumschrott ist unglaublich wichtig“, sagt die Chefin des deutschen Space-Start-ups Okapi Orbits. Die Firma ortet und berechnet die Flugbahnen der Trümmerteile, sie ist eine Art Navigator im All – und hat sich auf einem Wachstumsmarkt positioniert. „Seit gut einem Jahr sehen wir, dass immer mehr kommerzielle Satelliten im All unterwegs sind“, berichtet Nikolaus.
Das kosmische Müllproblem erinnert an die Verschmutzung der Meere, doch seine Ursache ist eine andere. Nicht Achtlosigkeit liegt ihm zugrunde, wie es etwa bei der Entsorgung von Plastik im Ozean der Fall ist, sondern eine bewusste strategische Entscheidung: die Militarisierung des Alls.
Die jüngste Machtdemonstration ist inzwischen einige Wochen her, doch die Empörung darüber hat sich nicht gelegt. Im November schoss Russland einen Satelliten aus der Sowjetära ab und produzierte damit eine Trümmerwolke aus mehr als 1500 Teilen, die seither als künstlicher Meteoritenschwarm um die Erde jagt.
Die Astronauten auf der Internationalen Raumstation ISS mussten zeitweise Zuflucht in ihren Rettungskapseln suchen. Und auch wenn die unmittelbare Gefahr für das Leben der Astronauten vorüber ist: Für Satellitenbetreiber wird das Trümmerfeld auf Jahre, vielleicht Jahrzehnte ein Problem bleiben.
Der russische Waffentest wurde deshalb international scharf verurteilt. Doch es ist klar, dass er nicht der letzte bleiben wird. Immer mehr Staaten streben ins All. Mehr als 80 Länder haben inzwischen mindestens einen Satelliten in den Orbit geschossen. Und je wichtiger der Einsatz von Satelliten für die moderne, allzeit vernetzte Wirtschaft wird, desto interessanter werden sie als militärische Ziele.
„Der Weltraum ist zunehmend umkämpft und muss zu einer vollwertigen Dimension unserer europäischen Verteidigungsstrategie werden“, mahnt der französische EU-Kommissar Thierry Breton, der für Technologiepolitik zuständig ist und in Brüssel die lange vernachlässigte Rolle des strategischen Vordenkers ausfüllt. Frankreich übernimmt im Januar die EU-Ratspräsidentschaft, auf der Agenda von Präsident Emmanuel Macron steht auch ein gemeinsamer Ausbau der Raumfahrt.
Matthias Wachter, Abteilungsleiter für internationale Zusammenarbeit, Sicherheit, Rohstoffe und Raumfahrt beim BDI, weist darauf hin, dass der Weltraum für die Infrastruktur immer bedeutender wird. Denn auf der Erde kommen heutzutage weder der zivile Luftverkehr noch Logistikunternehmen oder wichtige Waffensysteme ohne Satellitendaten aus.
Es gebe immer mehr Anwendungen, die ohne Raumfahrt nicht mehr funktionieren würden. Dadurch steige auch die militärische Relevanz, denn „wenn ich in der Lage bin, die gesamte Infrastruktur auszuschalten, kann ich einen Gegner ganz massiv treffen“, erläutert Wachter.
Für die EU geht es im All auch darum, ihre Souveränität zu behaupten. Je größer die Bedeutung von satellitengestützter Kommunikation, desto wichtiger wird es, die europäischen Raumfahrtkapazitäten zu stärken – um neue Abhängigkeiten zu vermeiden und zu verhindern, dass Europa erpressbar wird.
„Europa muss einen eigenen Schlüssel zum Weltraum behalten“, sagte Pierre Godart, Deutschlandchef der Ariane Group, dem Handelsblatt. „Wir müssen allein entscheiden können, was wir wann in welchem Orbit platzieren wollen.“ Beim Hersteller der europäischen Trägerrakete Ariane spürt man die Konkurrenz nicht nur aus den USA und Russland, sondern zunehmend auch aus China und Indien.
Mit den Satellitenprogrammen Copernicus und Galileo verfügen die Europäer über exzellente technologische Möglichkeiten, sowohl zur Auswertung von Bildern aus der Umlaufbahn als auch zur Bestimmung von Positionsdaten. Seit mehr als vier Jahrzehnten garantieren die Ariane-Raketen einen eigenen Zugang ins All.
Der Jungfernflug der sechsten Generation der Ariane soll in der zweiten Jahreshälfte 2022 stattfinden, das Projekt hängt zwei Jahre hinter dem Zeitplan. Die Ingenieure der Ariane Group arbeiten auch an einer wiederverwendbaren Minirakete. Das Startsystem mit dem Namen Maia soll 2026 einsatzbereit sein.
In der Entwicklung ist außerdem ein neuer Raketenmotor, der fast vollständig per 3D-Druck-Verfahren hergestellt und damit deutlich günstiger als die bisherigen Triebwerke werden soll. Die staatlich geförderten europäischen Raketenprojekte mussten in den vergangenen Jahren nämlich viel Kritik einstecken: Sie seien zu teuer und zu unflexibel, hieß es.
Als Gegenmodell präsentierten die Kritiker die USA, wo immer stärker Privatunternehmen in Weltraumprojekte eingebunden werden. Dabei geht es weniger um den öffentlichkeitswirksamen Wettlauf der Weltraummilliardäre Jeff Bezos und Richard Branson. Weltraumtourismus wird eine Marktnische ohne geoökonomische Relevanz bleiben. Vielmehr geht es um die Verzahnung von Raumfahrtbehörden wie der Nasa mit Firmen wie SpaceX.
Richard Branson
Der britische Unternehmer war im Juli bis an den Rand des Weltraums geflogen.
Bild: via REUTERS
Der Wettbewerb zwischen privaten Akteuren senkt die Kosten der Raumfahrt und beschleunigt Innovationen. SpaceX, das Raumfahrtunternehmen von Tesla-Gründer Elon Musk, bringt Satelliten wesentlich günstiger ins All, als es die Nasa je konnte.
BDI-Mann Wachter sieht den russischen Abschuss als Weckruf für Europa: „Die Vorstellung, dass alle das Weltall nur friedlich nutzen wollen, entspricht spätestens seit diesem Ereignis nicht mehr der Realität.“ Von der neuen Bundesregierung fordert er, vor allem in das Konzept „responsive space“ zu investieren. Hinter dem Begriff steckt die Möglichkeit, ausgefallene Satelliten möglichst schnell ersetzen zu können.
Die europäischen Raketen starten aus Französisch-Guyana. Der Transport von Satelliten in das französische Überseegebiet in Südamerika dauert lange und ist teuer. Ein Konzept, das Europas Reaktionsbereitschaft voranbringen könnte, sind schwimmende Plattformen in der Nordsee, die als Startrampe für private Raketenfirmen dienen. Die dafür gegründete German Offshore Spaceport Alliance hat im September die ersten Verträge mit Partnerfirmen unterschrieben. Jetzt fehlen nur noch die Genehmigungen der Politik.
Auf tippen, dann auf „Zum Home-Bildschirm“ hinzufügen.
Auf tippen, dann „Zum Startbildschirm“ hinzufügen.
×
Kommentare (1)