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09.04.2021

17:18

Pandemie

Merkel plant bundesweite Notbremse – Treffen mit Länderchefs abgesagt

Von: Frank Specht

In der kommenden Woche will die Bundesregierung einen Gesetzentwurf auf den Weg bringen. Ab einer Inzidenz von 100 sollen dann für Kreise verbindliche Corona-Regeln gelten.

Die Corona-Notbremse soll nun per Gesetz umgesetzt werden. AFP

Angela Merkel und Kanzleramtsminister Helge Braun

Die Corona-Notbremse soll nun per Gesetz umgesetzt werden.

Berlin Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ist fest entschlossen, im Kampf gegen die Corona-Pandemie einheitliche Regelungen in den Bundesländern zu erzwingen. Die Bundesregierung will schon in einer vorgezogenen Kabinettssitzung am kommenden Dienstag im engen Einvernehmen mit den Ländern und dem Bundestag einen Gesetzentwurf auf den Weg bringen, der eine direkt verbindliche und umfassende Notbremse für Landkreise und kreisfreie Städte ab einer Inzidenz von 100 vorsieht.

Das bestätigte die stellvertretende Regierungssprecherin Ulrike Demmer am Freitag. Die eigentlich für kommenden Montag geplanten Gespräche Merkels mit den Ministerpräsidenten wurden abgesagt. Möglicherweise finden sie in der übernächsten Woche statt.

Die Regierungschefs aus Bund und Ländern hatten sich bereits in ihrer Videoschaltkonferenz am 3. März auf eine „Notbremse“ geeinigt. Demnach sollen strengere Regeln für private Zusammenkünfte oder Ladenschließungen wieder in Kraft treten, wenn die Sieben-Tage-Inzidenz in einem Bundesland oder einer Region an drei aufeinanderfolgenden Tagen den Wert von 100 übersteigt.

Die Länder hatten die Regeln aber sehr unterschiedlich ausgelegt. So können beispielsweise in Nordrhein-Westfalen und Berlin Geschäfte auch bei Inzidenzwerten von mehr als 100 öffnen, dürfen aber nur Kunden mit negativem Corona-Test einlassen. Auch Bayern will Regionen mit hohen Infektionszahlen ab Montag Terminshopping-Angebote ermöglichen.

Mit der geplanten Neuregelung will der Bund solchen Ausnahmen ein Ende setzen. Nach Aussage von Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) ist auch geplant, ab einer Inzidenz von 100 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche nächtliche Ausgangsbeschränkungen für das jeweilige Bundesland vorzuschreiben.

Die Schulen sollen demnach ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 200 in den Distanzunterricht wechseln. Das Infektionsschutzgesetz lässt dem Bund auch hier eine rechtliche Handhabe.

Ein Regierungsentwurf soll am Samstag vorliegen, das parlamentarische Verfahren spätestens im Laufe der kommenden zwei Sitzungswochen des Bundestags abgeschlossen werden. Von der Regelungstiefe des Gesetzes wird abhängen, ob es im Bundesrat zustimmungspflichtig ist.

Unterhalb einer Inzidenz von 100 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen sollen die bestehenden Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz vom 3. März fortgelten. Die Länder behalten in diesem Fall ihre Zuständigkeit.

Merkel will nicht warten, bis die Infektionszahlen durch die Decke gehen

Bis zum Inkrafttreten der geplanten bundesweiten Regelung können die Bundesländer geltende Landesverordnungen verlängern. In der Bundesregierung gibt es aber durchaus die Erwartungshaltung, dass die Länder dabei Lockerungen, die der künftigen Regelung entgegenstehen, schon von sich aus zurücknehmen. Dies gilt beispielsweise für die Öffnung von Geschäften bei hohen Inzidenzwerten.

Kanzlerin Merkel war vor knapp zwei Wochen in der TV-Sendung „Anne Will“ mit Alleingängen einzelner Ministerpräsidenten hart ins Gericht gegangen. Sie werde nicht zuschauen, bis es 100.000 Neuinfektionen am Tag gebe. Schon damals hatte die Kanzlerin angekündigt, notfalls über das Infektionsschutzgesetz ein einheitlicheres Vorgehen zu erzwingen, wenn sich innerhalb der nächsten 14 Tage nichts tue.

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hatte am Donnerstagabend im „Heute Journal“ gesagt, das Infektionsschutzgesetz lasse sich in kürzester Zeit ändern. „Es kann schnell gehen, wenn die Beteiligten alle wollen“, sagte der CDU-Politiker. Zur Not könne dies sogar in einer einzigen Sitzungswoche passieren.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) mahnte am Freitag vor der Bundespressekonferenz noch einmal eindringlich, angesichts der dritten Welle seien „konsequente und möglichst einheitliche Maßnahmen“ erforderlich. „Nur so schützen wir unser Gesundheitssystem vor Überlastung.“ Wenn aber in einigen Bundesländern schon die Einschätzung der Lage nicht geteilt werde, sei ein einheitliches Vorgehen aber schwierig.

Das Robert Koch-Institut (RKI) meldete am Freitag 25.464 Neuinfektionen innerhalb von 24 Stunden, das sind 3576 mehr als vor einer Woche. 296 weitere Menschen sind in Verbindung mit dem Coronavirus gestorben. Die Sieben-Tage-Inzidenz stieg auf 110,4 von 105,7 am Vortag. Die Situation in den Krankenhäusern sei bereits bedrohlich, die Zahl der Intensivpatienten steige auch in den jüngeren Altersgruppen, mahnte RKI-Präsident Lothar Wieler.

Personal in den Krankenhäusern arbeitet an der Belastungsgrenze

Und man dürfe nicht nur auf verfügbare Betten und Beatmungsgeräte schauen, sondern müsse auch Ärzte und Pflegekräfte im Blick behalten, die bereits an der Belastungsgrenze arbeiteten, sagte Spahn. „Deshalb sollten die aktuell niedrigen Zahlen unser Handeln nicht leiten.“

Auch Deutschlands Intensivmediziner schlugen am Vormittag Alarm. Die Lage in den Kliniken sei zutiefst besorgniserregend, sagte Gernot Marx, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). „Es brennt. Die Lage ist sehr dramatisch. Jeder Tag zählt.“

Es gebe einen ungebremsten und dramatischen Anstieg der Zahl an Covid-Patienten. Ihr Alter liege nun zumeist zwischen 40 und 70. Auch Christian Karagiannidis, wissenschaftlicher Leiter des DIVI-Intensivregisters, sprach von einem „katastrophenähnlichen Zustand“.

Jüngere Patienten werden meist deutlich länger auf den Intensivstationen behandelt als ältere, 50-Jährige im Schnitt beispielsweise dreimal so lange wie 85-Jährige. Dies muss bei der Betrachtung der Kapazitäten berücksichtigt werden.

Die Werkzeuge zur Bekämpfung der Pandemie lägen auf dem Tisch, sie müssten auch konsequent eingesetzt werden, betonte Gesundheitsminister Spahn. Er nannte regelmäßiges Testen in Schulen und Kitas und das konsequente Arbeiten aus dem Homeoffice. In Fabriken und Büros müsse es noch stärker zum „Betriebsalltag“ gehören, Beschäftigte zweimal wöchentlich zu testen.

Testpflicht bleibt offen, aber Arbeitsministerium ist vorbereitet

Spahn ließ offen, ob die Regierung ihr Vorhaben weiterverfolgt, Arbeitgebern notfalls durch eine Änderung der Arbeitsschutzverordnung vorzuschreiben, ihren Präsenzbeschäftigten zweimal pro Woche ein Testangebot zu machen.

Arbeits- und Wirtschaftsministerium hatten am Donnerstagabend die Ergebnisse der von ihnen in Auftrag gegebenen Beschäftigten- und Betriebsbefragung vorgelegt. Demnach haben knapp sieben von zehn Unternehmen bereits ein regelmäßiges Testangebot oder wollen es in Kürze bereitstellen. Bundeskanzlerin Merkel hatte allerdings betont, sie wünsche sich eine Beteiligung „in Richtung 90 Prozent“.

Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) äußerte sich zufrieden über die Ergebnisse: „Es ist erstaunlich, wie viel erreicht wurde“, sagte er mit Blick auf den freiwilligen Aufbau von Testmöglichkeiten in Firmen. Eine weitere Steigerung sei aber sicher „machbar und möglich“.

Vizekanzler Scholz betonte dagegen die Notwendigkeit einer gesetzlichen Verpflichtung. Das Arbeitsministerium erklärte, man sei vorbereitet, die Arbeitsschutzverordnung zu ändern, sollte eine Testpflicht beschlossen werden.



FDP-Chef Christian Lindner stellt sich grundsätzlich hinter die von der Bundesregierung geplanten einheitlichen Corona-Regeln, mahnt aber Augenmaß an. „Einheitliche Wenn-Dann-Regeln wären gut“, sagt er. Aber wenn es bereits bei einer Inzidenz von 100 Ausgangssperren geben solle, sei dies unverhältnismäßig. Auch Modellprojekte müssten weiter möglich sein. „Aus einer Notbremse darf kein Anlass für einen unverhältnismäßigen Lockdown werden.“

„Wir brauchen einen radikalen Wellenbrecher“, sagt hingegen die Grünen-Fraktionschefin im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, mit Blick auf die dritte Infektionswelle. Auf den Corona-Intensivstationen gebe es immer mehr Patienten: „Wir müssen schnell handeln.“ Es gebe jetzt die Chance, dass der Bundestag einbezogen werde und nächste Woche eine „echte Notbremse“ verabschiede, mit einheitlichen Regeln im ganzen Land.

Das habe die Runde der Ministerpräsidenten mit Bundeskanzlerin Angela Merkel bislang nicht geschafft. Zudem müssten Unternehmen verstärkt in den Blick genommen werden. Es brauche noch mehr Homeoffice - und wenn dies nicht möglich sei, mehr Testkapazitäten in Firmen.

Gute Nachrichten gab es zum Fortschritt der Impfkampagne. Durch den Einstieg der Hausärzte wurden am Donnerstag in Deutschland 719.927 Impfdosen verabreicht. Bereits die rund 670.000 Impfungen am Vortag galten als Rekord, bislang pendelten die täglichen Werte zwischen 200.000 und 400.000. Mit Stand Freitagvormittag sind 14,7 Prozent der Bevölkerung zumindest einmal geimpft, insgesamt wurden mehr als 17 Millionen Dosen gespritzt.

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