Maximal 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner in einer Woche: Dieses Ziel begründet der Bund mit Kapazitätsgrenzen der Gesundheitsämter. Belege dafür existieren nicht.
Kampf gegen Corona
Soldaten der Bundeswehr helfen in der Region Hannover bei der Nachverfolgung von Corona-Infektionsketten.
Bild: dpa
Berlin Bund und Länder richten ihre Corona-Politik an einem Ziel aus: Die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen soll wieder unter den Wert von 50 fallen. Dann, so die Begründung, könnten die Gesundheitsämter die Kontakte der Infizierten wieder nachverfolgen und die Pandemie kontrollieren.
Belege für diese Kapazitätsgrenze der Behörden kann die Bundesregierung aber nicht liefern. „Die Kontaktverfolgungsrate variiert von Gesundheitsamt zu Gesundheitsamt“, heißt es in einer Antwort des Bundesgesundheitsministeriums auf eine parlamentarische Anfrage der FDP, die dem Handelsblatt vorliegt.
Aus den Meldedaten des Robert Koch-Instituts (RKI) „lässt sich nicht ableiten, welcher Prozentsatz der Covid-19-Fälle nachverfolgt werden kann bzw. welcher nachverfolgt werden konnte“.
Auch zur Wirksamkeit der seit November geltenden Maßnahmen kann die Bundesregierung keine Auskunft geben. Zwar spiegele sich „die Wirksamkeit des gesamten Maßnahmenpakets unter anderem in einer Abflachung der Neuinfektionszahlen“, heißt es. Allerdings könnten „die Ansteckungsumstände aktuell in einem Großteil der Fälle keinem konkreten Ausbruchsgeschehen bzw. Ausbruchssetting zugeordnet werden“.
„Bundes- und Landesregierungen befinden sich in einem Überbietungswettbewerb für immer härtere Schutzmaßnahmen“, sagte der FDP-Gesundheitspolitiker Wieland Schinnenburg. Dabei könne die Bundesregierung nicht einmal beantworten, ob die bestehenden Maßnahmen alle sinnvoll seien.
„Schlimmer noch: Die Begründung, dass erst bei einem Inzidenzwert von 50 pro 100.000 Einwohnern die Nachverfolgung der Corona-Fälle möglich wäre, stimmt nicht.“ Derzeit liegt diese Sieben-Tage-Inzidenz in Deutschland bei rund 130.
Auch einige Fachleute zweifeln an der Zielsetzung der Politik. „Die Seuchenbekämpfung braucht ein ambitioniertes, aber erreichbares Ziel, um die Bevölkerung auf dem Weg mitzunehmen. Das Ziel der 50er-Inzidenz ist aber nicht realistisch“, sagte der Virologe und Epidemiologe Klaus Stöhr, der lange für die Weltgesundheitsorganisation arbeitete und dort das globale Influenza-Programm sowie die Forschung zum Sars-Virus leitete.
„In den Wintermonaten, in denen sich Atemwegserkrankungen in unserer gemäßigten Klimazone viel leichter verbreiten, ist dies kaum, und wenn, dann nur durch heftigen Dauerdruck zu erreichen.“ Selbst wenn es gelänge, den Inzidenzwert unter höchsten Anstrengungen auf unter 50 zu senken, würden die Fälle in der kalten Jahreszeit wieder ansteigen, sobald gelockert würde.
„Auch im Oktober ist es den Gesundheitsämtern ja nicht gelungen, bei noch relativ niedrigen Inzidenzwerten die Infektionsketten unter Kontrolle zu halten“, sagte Stöhr dem Handelsblatt.
Der WDR veröffentlichte in der vergangenen Woche eine Umfrage unter 29 der 53 Gesundheitsämter in Nordrhein-Westfalen. Demnach schafften es die Behörden selbst in Hotspots mit einem Inzidenzwert über 200 Fällen, zügig die Kontaktnachverfolgung aufzunehmen.
Fast 90 Prozent der teilnehmenden Gesundheitsämter gaben laut WDR an, dass sie die Kontaktverfolgung innerhalb von 24 Stunden oder sogar „ohne zeitlichen Verzug“ schaffen – solange Infizierte die richtigen Kontaktdaten liefern. Nur drei der 29 befragten Gesundheitsämter hätten angegeben, dass sie zeitweise zwei oder drei Tage bräuchten.
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