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22.04.2022

11:01

Planungsverfahren

Chaos beim Schienennetz: Warum das deutsche Chemiedreieck von der Bahn abgehängt ist

Von: Daniel Delhaes

Viele Unternehmen würden gern mehr auf der Schiene transportieren. Doch der Netzausbau stockt. Die Gründe dafür sind unangenehm – für die alte wie die neue Regierung.

Deutsche Bahn dpa

Bauarbeiten am Bahnknoten

Der Ausbau des deutschen Schienennetzes kommt nicht schnell genug voran.

Berlin Die Absage traf BASF, OMV, Wacker Chemie und andere Industrieunternehmen im Südosten Bayerns unerwartet. Und die Begründung stiftete Verwirrung: Die Schienenstrecke von München über Mühldorf nach Burghausen und Freilassing, mitten durchs Chemiedreieck im Südosten Bayerns, baut die Netzgesellschaft der Deutschen Bahn AG doch nicht bis 2030 aus. Dies teilte DB Netz kürzlich im Projektbeirat der Ausbaustrecke 38 (ABS 38) mit.

Schlimmer noch: Die Inbetriebnahme verzögere sich um Jahre, so die DB Netz. „Eine konkrete Jahreszahl kann derzeit noch nicht genannt werden.“ Der Grund? Ein Gesetz, mit dem die alte Bundesregierung den Bau eigentlich beschleunigen wollte: das Maßnahmengesetzvorbereitungsgesetz.

Demnach werden politisch bedeutsame Infrastrukturprojekte nicht laufend im Verfahren verfeinert, sondern vorab durch Anhörungen und andere Elemente des klassischen Planfeststellungsverfahrens definiert. Danach entscheidet das Bundesverkehrsministerium, ob der Bundestag das Projekt als Gesetz auf den Weg bringt. Die Baugenehmigung per Gesetz erübrigt dann den Planfeststellungsbeschluss – und die Klagewege über die Verwaltungsgerichte. Projektgegner müssen sich direkt an das Bundesverfassungsgericht wenden.

Bei der Strecke durch Südostbayern gibt es nur ein Problem: Das Projekt war schon weit nach den klassischen Verfahren geplant. Erstellte Unterlagen kann die Bahn nun plötzlich erst nach einer neuen Reihenfolge im Verfahren bei der Zulassungsbehörde, dem Eisenbahn-Bundesamt (EBA), einreichen. Personalnot beim EBA kostet obendrein Zeit.

Eineinhalb Jahre hat die Bahn so bereits nach eigenem Bekunden verloren und rechnet mit weiteren zweieinhalb Jahren, soll das Projekt tatsächlich als Einzelgesetz rechtssicher im Gesetzblatt stehen. Die DB Netz habe vergeblich beim Ministerium interveniert, um das Gesetz nicht anwenden zu müssen, wie aus dem Protokoll der Beiratssitzung hervorgeht.

Das neue Gesetz sollte Vorhaben eigentlich beschleunigen

Die schlechte Kunde trifft nicht nur die Unternehmen in der Region, sie trifft auch die Ampelkoalition in Berlin: Jenes von der Bahn als Bremse angeführte Gesetz sollte der neuen Regierung als Blaupause dienen. Das Baurecht per Gesetz sollte nicht nur helfen, bald mehr Züge Richtung Südeuropa via Brennertunnel fahren zu lassen, sondern auch wichtige Stromtrassen und Brücken „beschleunigt auf den Weg zu bringen“, wie es im Koalitionsvertrag heißt. 13 Schienen- und drei Trassenprojekte finden sich dort. „Weitere Vorhaben werden hinzukommen.“

Die Grünen hatten aber bereits damals die Vorahnung, dass das Gesetz Vorhaben verzögern werde. Einen Beleg liefert nun die Lage in Bayern. Die Wirtschaftsinitiative Chem Delta Bavaria hatte zuletzt noch von 2020 bis 2030 „beim Schienengüterverkehr einen weiteren signifikanten Anstieg der Transportmengen um über 70 Prozent“ erwartet. Mit einer zweigleisigen elektrifizierten Strecke wäre das kein Problem. Aber die wird nun vorerst nicht kommen.

„Die Erhöhung der Kapazitäten im Schienengüterverkehr ist insbesondere wegen steigender Transportmengen aus der chemischen Produktion und der zunehmenden Kreislaufwirtschaft von hoher Bedeutung für die Region“, hieß es beim Öl-, Gas- und chemischen Industriehersteller OMV.

Die Österreicher hatten erst vor Kurzem in Gleisanalagen investiert. „Die zeitliche Verzögerung des Ausbauprojektes bedeutet einen Standortnachteil für den drittgrößten Chemiestandort in Deutschland, dies insbesondere angesichts des Wettbewerbs um immer knapper werdende Fachkräfte und Transportkapazitäten.“

Wacker Chemie etwa transportiert an seinem weltweit größten Standort Burghausen und in der Umgebung die Hälfte seiner Güter mit der Bahn, die andere Hälfte per Lkw – je eine Millionen Tonnen allein 2021. Wacker sieht „deutliches Potenzial für weitere Verlagerungen von der Straße auf die Schiene“ – gäbe es nicht die Engpässe auf dem eingleisigen und nicht-elektrifizierten Teil. Elektrifizierter Schienenverkehr sei „essenziell“ für eine klimaneutrale Transportlogistik.

BASF, Wacker und Co. drängen auf den Ausbau

„Schnellere Laufzeiten und eine erhöhte Transportzuverlässigkeit auf der Strecke“ hatte sich BASF erhofft, um seinen Standort Trostberg via Bahn mit Vorprodukten aus der Zentrale in Ludwigshafen zu beliefern. Die mitgeteilten Verzögerungen würden nun „die Versorgung unseres Standorts und unserer Kunden gefährden“. Schließlich wollen die Unternehmen wachsen. Bei BASF wie bei Wacker lautet die Forderung daher: Das Projekt muss „zügig realisiert werden“. Alles andere sei „inakzeptabel“.

Die Bahn sieht den Bund in der Pflicht, da das Projekt im Gesetz steht. Der ehemalige Eisenbahnbeauftragte der Bundesregierung, Enak Ferlemann (CDU), verteidigt das Gesetz. Die Bahn habe die Option, das Verfahren mit der regulären Planfeststellung abzuschließen oder aber das Gesetz anzuwenden. „Die Verzögerungen können deshalb gar nicht am Verfahren liegen: Entweder gab es Fehler in der Vorplanung oder aber es wurden Planungsgrundlagen nicht berücksichtigt.“

Die Bahn begehe leider oft Planungsfehler. Es sei sinnvoll, das Gesetz in einem frühen Stadium anzuwenden. „In dem konkreten Projekt waren Teile schon weiter in der Planung.“

CSU-Generalsekretär für Runden Tisch

Die Bahn verweist hingegen auch darauf, dass der damalige Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) noch im August 2021 entschieden habe, eine Eisenbahnüberführung in Weidenbach in das Projekt aufzunehmen. Da aber sei die Planung schon abgeschlossen gewesen. Nun müsse das Projekt „bei null starten“, wie Projektleiter Klaus-Peter Zellmer den verdutzten Mitgliedern im Beirat mitteilte. Damit verzögere sich auch die Elektrifizierung.

„Die zusätzliche Brücke sorgt nicht für Verzögerungen. Die Menschen vor Ort verlangen diese Brücke ausdrücklich, ansonsten werden sie gegen das Projekt klagen und es so um Jahre verzögern“, konterte CSU-Generalsekretär Stephan Mayer. Er hat selbst als örtlicher Bundestagsabgeordneter für die Brücke geworben.

Inzwischen hat Mayer an Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) und Bahnchef Richard Lutz geschrieben und einen „Runden Tisch“ angemahnt. Die Hiobsbotschaft sei „in der gesamten Region wie eine Bombe eingeschlagen“. Industrie, Mittelständler, die Pendler nach München: Sie alle hätten auf den Ausbau gesetzt, den die Bahn einst für 2027, dann für 2028 und zuletzt für 2030 zugesagt habe.

Nun müsse schnell geklärt werden, „wie wir gemeinsam zu einer Beschleunigung des Verfahrens kommen“.

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