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08.03.2022

15:45

Regulierung

„Giftliste“ der EU-Bürokratie – Unions-Wirtschaftsflügel fordert Belastungsmoratorium

Von: Martin Greive, Christoph Herwartz, Frank Specht

Ukrainekrieg, Russlandsanktionen und Corona belasten Unternehmen stark. Da können sie nicht noch zusätzliche Regulierung aus Brüssel verkraften, finden CDU und Wirtschaftsverbände.

Die CDU-Politikerin sagt: „Wir brauchen eine Vollbremsung für Belastungen.“ dpa

MIT-Bundesvorsitzende Gitta Connemann

Die CDU-Politikerin sagt: „Wir brauchen eine Vollbremsung für Belastungen.“

Berlin, Brüssel Die deutsche Wirtschaft steuert auf unsichere Zeiten zu. Die Coronapandemie ist noch nicht überwunden, da drohen schon neue Rückschläge durch den Ukrainekrieg, die Russlandsanktionen und die unaufhörlich steigenden Energiepreise. Jede zusätzliche Belastung ist aus Sicht der Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT) Gift für die Konjunktur.

Umso erstaunter war der Wirtschaftsflügel der CDU/CSU darüber, was aktuell an neuer Bürokratie aus Brüssel droht. In einer Art Giftliste, die dem Handelsblatt vorliegt, führt die MIT auf 55 Seiten fast 50 EU-Regulierungsvorhaben auf, die Unternehmen und Verbraucher belasten würden. Das Spektrum reicht von der geplanten Taxonomie und dem europäischen Lieferkettengesetz über die Überarbeitung der Chemikalienverordnung Reach bis hin zur Beimischung von Biokraftstoffen zum Flugbenzin.

Dabei sehe sich die Wirtschaft aktuell mit einer „beispiellosen Lage“ konfrontiert, in der es kein „Weiter-so“ und keine Denkverbote geben dürfe, sagte die MIT-Bundesvorsitzende und CDU-Bundestagsabgeordnete Gitta Connemann dem Handelsblatt. „Gesetz- und Verordnungsgeber können und dürfen nicht wegsehen.“ Das gelte für Bund, Länder und vor allem für die EU. Regulierungsvorhaben müssten auf Eis gelegt werden. „Wir brauchen eine Vollbremsung für Belastungen.“

Auch der CDU-Bundesvorstand schreibt in seiner „Saarländischen Erklärung“, die Anfang März bei der Klausurtagung in St. Ingbert beschlossen wurde, dass die Energiepreisinflation und die durch den Überfall auf die Ukraine verursachten Lieferkettenunterbrechungen Deutschlands Wirtschaft bereits ganz erheblich belasteten. Zudem hätten viele Unternehmen entschieden, ihre Geschäftsbeziehungen zu Russland einzuschränken und so hohes Verantwortungsbewusstsein bewiesen.

„Jede weitere Belastung durch politische Regulierung ist deshalb abzuwenden“, heißt es in der Erklärung. „Neben einem nationalen Belastungsmoratorium ist ein Reset auf europäischer Ebene erforderlich.“

Nach einer Ende Februar veröffentlichten Umfrage des Ifo-Instituts klagen aktuell fast drei von vier Industrieunternehmen über Engpässe und Probleme bei der Beschaffung von Vorprodukten und Rohstoffen. Und schon vor dem Angriff auf die Ukraine berichteten vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) befragte Unternehmen, dass sie weltweit immer öfter auf Handelshemmnisse stoßen.

Angesichts solcher Schwierigkeiten passe zusätzliche Regulierung nicht in die Zeit, heißt es bei der MIT. So bringe beispielsweise die Taxonomie-Verordnung, mit der die EU nachhaltige Investitionen definieren will, einen „Dschungel neuer Berichterstattungspflichten“, durch den sich nach dem Willen des EU-Parlaments auch Mittelständler kämpfen müssten.

Das geplante europäische Lieferkettengesetz zum Schutz der Menschenrechte gehe weit über die nationale Regelung hinaus; die EU überziehe Unternehmen bis ins Handwerk hinein mit nicht erfüllbaren Sorgfaltspflichten. Rechtsunsicherheit und möglicherweise lange Streitigkeiten vor Gericht wären die Folge.

Zahlreiche Regulierungspläne aus Brüssel belasten Unternehmen und Verbraucher. Bloomberg

Europa-Flaggen vor dem Sitz der EU-Kommission in Brüssel

Zahlreiche Regulierungspläne aus Brüssel belasten Unternehmen und Verbraucher.

Kritisch sieht der Unions-Wirtschaftsflügel aber auch neue Pläne zur Kapitalmarktregulierung, zum CO2-Grenzausgleich oder neue Berichtspflichten zur nachhaltigen Unternehmensführung. Mit der Mindestlohn- oder der Lohntransparenz-Richtlinie greife Brüssel zudem tief in die Kompetenzen der Nationalstaaten oder der Sozialpartner ein.

Die MIT ist aber auch in Sorge, dass Russlands Krieg in der Ukraine „als Vorwand zur systematischen dauerhaften Staatsverschuldung in Europa“ genutzt wird. Denn inzwischen werde offen infrage gestellt, ob die EU 2023 zu den zeitweilig ausgesetzten Maastricht-Verschuldungsregeln zurückkehren solle.

Wie der Unions-Wirtschaftsflügel fordern deshalb auch Wirtschaftsverbände eine Anpassung an die neuen Realitäten und einen Kursschwenk auch auf europäischer Ebene: „Alle reden von Zeitenwende und neuen Prioritäten“, sagte der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Steffen Kampeter, dem Handelsblatt. „Es ist an der Zeit, dass auch die Verantwortlichen in Brüssel ihre Prioritäten auf Wachstum und Wirtschaftsförderung setzen.“ Europa dürfe nicht zur Wachstumsbremse werden.

Die Unternehmen trügen die Sanktionen gegen Russland voll mit, aber immer mehr sähen bereits, dass die Sanktionen große „Kollateralschäden“ zu Hause anrichteten, sagt auch der Hauptgeschäftsführer des Verbands Die Familienunternehmer, Albrecht von der Hagen. Vor diesem Hintergrund sei ein Belastungsmoratorium dringend notwendig. „Die nächsten zwei bis drei Jahre werden für die Unternehmen und ihre Arbeitsplätze ganz schwierig“, betont von der Hagen. „Da ist das Mindeste, dass den Unternehmern jetzt keine neuen Belastungen aufgehalst werden.“

Die EU-Kommission verwies auf ihren Grundsatz „one in, one out”, nach dem „alle neu eingeführten Belastungen durch die Beseitigung gleichwertiger Belastungen im selben Politikbereich ausgeglichen werden”. Insbesondere kleine und mittlere Unternehmen stünden dabei im Fokus, sagte eine Sprecherin. Der Ansatz wurde bisher nur in einem Pilotprojekt getestet, soll 2022 aber voll angewendet werden.
Schon seit Jahren arbeite die Kommission daran, regulatorische Belastungen zu reduzieren. Seit 2015 können sich Unternehmen mit Stellungnahmen an Gesetzgebungsprozessen beteiligen. Außerdem werde bei jeder Folgenabschätzung für ein neues Gesetz das Potenzial für eine Verringerung des Verwaltungsaufwands analysiert.

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