Staaten wie Russland oder China streben nach Ansicht Herdegens eine neue internationale Ordnung an. Beim Ukraine-Krieg hält er ein baldiges Ende für möglich.
Containerhafen
Europa muss reagieren, wenn im pazifischen Raum große Handelsblöcke entstehen.
Berlin Die Weltwirtschaft ist mit dem Ukrainekrieg in Unordnung geraten. Der Völkerrechtler Matthias Herdegen fordert vor allem in Europa „eine neue Dosis an Realismus in unserer Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik“.
Staaten wie Russland oder China hätten nicht das Ziel, sich die westlichen Werte zu eigen zu machen. „Russland und China wollen eine internationale Ordnung, in der das Innere der Staaten, Menschenrechte und die Herrschaftsform tabu sind.“ Insofern sei es „völlig naiv“ gewesen zu glauben, mit dem Zusammenbruch des Ostblocks sei das Ende der Geschichte erreicht.
Wichtig sei es nun, dass Deutschland sich von seiner „Selbstverzwergung“ verabschiedet und selbstbewusst seine Interessen vertritt. Dazu gehöre auch, kleinere Staaten mit Investitionen an sich zu binden, wie dies China praktiziere.
„Wir werden uns bei unseren weiteren Investitionen genauer überlegen müssen, welche Abhängigkeiten wir erzeugen und ob wir dauerhaft damit unsere Ziele erreichen, etwa die Erderwärmung zu begrenzen. Wir müssen unsere Erwartungen bei Investitionen deutlich machen und bei Enttäuschungen entsprechend reagieren“, sagt Herdegen.
Der Völkerrechtler sieht Chancen für eine neue Globalisierung – über Freihandelsabkommen aber auch mit einem Schiedsrichter wie der Welthandelsorganisation. An ihr habe vor allem China großes Interesse. „Staaten wie China haben wie wir ein Interesse daran, dass die wirtschaftlichen Beziehungen in berechenbaren und rechtlich gefestigten Bahnen verlaufen“, ist sich der Professor der Universität Bonn sicher.
Herr Professor Herdegen, befindet sich die westliche Welt im Wirtschaftskrieg mit Russland?
Wir befinden uns in einer Auseinandersetzung, die uns zwingt, das Reservoir wirtschaftlicher Gegenmaßnahmen auszuschöpfen. Der russische Vernichtungskrieg lässt uns keine Alternative. Russland ist für andere Signale nicht mehr empfänglich.
Russland reagiert und begründet den Mangel an Gas und Getreide in Europa und der Welt mit den westlichen Sanktionen. Wie viel ist die Idee der liberalen Weltordnung samt Sanktionen bei Völkerrechtsverletzungen noch wert?
Russland vermengt bewusst Ursache und Folgen miteinander. Die liberale Weltordnung hat als wertegestützte Ordnung immer nur auf einem Teil unseres Globus funktioniert. Jetzt erleben wir etwas Neues: Eine Großmacht, die auch noch ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats ist, kündigt jede Bindung an internationales Recht auf.
Nord Stream 1
Russland drosselt seine Gaslieferungen.
Bild: AP
Was bedeutet das für unser Gesellschafts- und Wirtschaftssystem?
Wir brauchen vor allem in Kontinentaleuropa eine neue Dosis an Realismus in unserer Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik. Wir hatten mit dem Zusammenbruch des Ostblocks eben nicht das Ende der Geschichte erreicht. Dieses europäische Denken war völlig naiv.
China und Russland haben bereits 2016 vor den Vereinten Nationen klargestellt, dass sie Sanktionen als völkerrechtliches Instrument ablehnen.
Beide Staaten haben diese Position kürzlich erneuert. Russland und China wollen eine internationale Ordnung, in der das Innere der Staaten, Menschenrechte und die Herrschaftsform tabu sind. Das oberste Ziel der chinesischen Führung etwa sind nicht irgendwelche Werte. Es geht um den Führungsanspruch der Kommunistischen Partei und deren Legitimation kraft inhaltlicher „Richtigkeit“. Alle anderen Interessen sind dem untergeordnet und haben nur eine Bedeutung, wenn sie gerade auch im eigenen Land von Nutzen sind.
China hat in Taiwan ähnliche Interessen wie Russland in der Ukraine. Was bedeutet es für die Weltwirtschaft, wenn es ebenfalls zu einer Intervention samt Sanktionen des Westens käme?
China beobachtet den Ukrainekonflikt sehr genau und ist über die Entwicklung sicher unglücklich. Der Vernichtungskrieg Russlands hat zu einer ungeahnten Geschlossenheit der westlichen Wertegemeinschaft geführt, die EU hat zu neuer Handlungsfähigkeit gefunden – und die totgesagte Nato wird wieder schlagkräftig. Die chinesische Führung selbst ist wirtschaftlich weit verletzlicher als das Kreml-Regime. Sie lebt von den Wohlstandssehnsüchten der aufstrebenden Schichten in China.
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Wird diese Erwartung erschüttert, gerät auch der erfolgsbedingte Führungsanspruch ins Wanken. Die Neigung, den wieder aufgeflammten Konflikt um Taiwan und im Südchinesischen Meer zu forcieren, hat mit dem Ukrainekrieg einen Dämpfer erhalten – auch wenn der Westen gerade unter Stress steht und westeuropäische Gesellschaften noch von steter Selbstfindung angekränkelt scheinen.
Demnach ist es unproblematisch, dass die deutsche Wirtschaft weiter in China auf Rekordniveau investiert?
Unsere Industrie ist exportabhängig, der Handelsbilanzüberschuss liegt aber bei China. Das zeigt: China ist mindestens ebenso abhängig. Wir müssen uns endlich von der Selbstverzwergung in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht verabschieden. Große deutsche Autobauer zucken sofort zusammen, wenn es eine Unmutsgeste aus China gibt, die unsere Willfährigkeit austestet. Ich bin sicher: Wenn man gelassen reagiert, wird nichts passieren. Die gegenseitigen Abhängigkeiten wirken stabilisierend und stiften Rationalität. Wir sollten die Beziehung zu China als wichtige Partnerschaft betrachten – aber konjunkturell geprägt.
Matthias Herdegen
Seit 1990 ist der Völkerrechtler Professor für öffentliches Recht an der Universität Bonn.
Bild: picture alliance/dpa
Was meinen Sie mit „konjunkturell“?
Abhängig von gemeinsamen, oft volatilen Interessen. Der Klimaschutz etwa bewegt sich in der Bedeutungsskala Chinas konjunkturell: mal nach oben und dann wieder nach unten. Hier haben wir gedacht, China helfen zu müssen. Am Ende hat China den technologischen Zugewinn genutzt, um selbst Märkte zu erobern. Wir werden uns bei unseren weiteren Investitionen genauer überlegen müssen, welche Abhängigkeiten wir erzeugen und ob wir dauerhaft damit unsere Ziele erreichen, etwa die Erderwärmung zu begrenzen. Wir müssen unsere Erwartungen bei Investitionen deutlich machen und bei Enttäuschungen entsprechend reagieren. Welchen Preis wollen wir bei Menschenrechten und Umweltschutz dafür zahlen, billigen Zugang zu Rohstoffen zu erhalten? Im Zweifel werden wir auch Lieferketten strategisch verändern und diversifizieren müssen.
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Bei der Frage nach Abhängigkeiten geht es nicht nur um Rohstoffe, sondern auch um Produkte, etwa Telekommunikationskomponenten von Huawei im deutschen und europäischen Netz.
In China gibt es keine wirklich autonomen Unternehmen, so wie wir sie kennen. Auch private Unternehmen sind immer Wünschen der chinesischen Regierung zugänglich.
Andere Staaten denken weniger kritisch.
Wir müssen uns eingestehen, dass weite Teile Asiens und Afrikas nicht unseren Werten, sondern eher Russland oder China folgen. Staaten sind in Abhängigkeit von China geraten, ohne dass China deren Systeme in eine bestimmte Richtung lenken will. So etwas hat bei Autokraten Charme. Wir müssen hier selbst Entwicklungspolitik enger mit unseren außen- und sicherheitspolitischen Zielen verknüpfen und ebenso weit mehr investieren.
Um andere Staaten an uns zu binden?
Viele Regime denken nicht in der Kategorie von Institutionen oder von Werten. Für sie sind Beziehungen entscheidend: „Russland war in der Vergangenheit unser Freund, also können wir doch nicht in der Generalversammlung der Vereinten Nationen gegen dieses Land stimmen, nur weil es einen Krieg gegen die Ukraine vom Zaun gebrochen hat." Diese Denkmuster mögen uns schockieren. Sie prägen aber weithin Politik auf dem Globus.
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Welchen Wert hat da noch eine Welthandelsorganisation (WTO)?
Staaten wie China haben wie wir ein Interesse daran, dass die wirtschaftlichen Beziehungen in berechenbaren und rechtlich gefestigten Bahnen verlaufen. China wollte vehement in die WTO und kann es sich als aufstrebende Macht nicht erlauben, außerhalb solcher Systeme zu stehen. Ich gehe davon aus, dass die WTO ihre wichtige Rolle behalten wird, bei allen Mängeln im Einzelnen.
Aber sind nicht regionale Freihandelsabkommen die Alternative?
Europa muss reagieren, wenn im pazifischen Raum große Handelsblöcke entstehen. Bieten sie ausreichend große Märkte, dann wächst dort die Chance, neue globale Standards zu setzen. Deswegen haben wir das allergrößte Interesse, die Hinwendung Amerikas in den pazifischen Raum einzudämmen und die transatlantische Partnerschaft mit den USA endlich entschieden voranzubringen.
Aber die Regierung tut sich schon schwer, das Freihandelsabkommen Ceta mit Kanada zu akzeptieren.
Die Auseinandersetzungen um das Abkommen mit Kanada sind Anlass zur Sorge um Europa. Kaum ein anderes Land steht uns in allen grundlegenden Werten und der inneren Ordnung näher als Kanada. Wie zäh sollen die Verhandlungen erst bei anderen Staaten werden? Wir müssen die transatlantischen Beziehungen durch neue Abkommen vorantreiben, damit diese Achse in der Weltwirtschaft ihren Stellenwert behält.
Zum Schluss die Frage: Haben Sie eine Idee, wie der Ukrainekrieg enden könnte?
Ich gehe davon aus, dass es ein regional begrenzter Konflikt bleiben wird. Wenn der Westen die Ukraine weiter konsequent unterstützt und sich gegen den Beschwichtigungs-Chor ängstlicher Weltverbesserer stellt, dann könnte der Krieg noch in diesem Jahr enden.
Wie das?
Aus schlichter Ermattung beider Seiten.
Und dann?
Wir können dann die Hoffnung haben, dass eine freiheitliche Ukraine in ihrem Gebietsbestand weitgehend intakt ist.
Wird sich das russische Regime bei so einem Ergebnis halten können?
Wir werden wohl in einigen Jahren ein neues Russland erleben. Es wird keine rasche Implosion geben. Aber das Bewusstsein, militärisch wie wirtschaftlich deklassiert und isoliert zu sein, wird nachhaltig wirken, gerade auch bei Jüngeren. Wenn sich Russland dann im Innern verändert hat, wird es uns auch wieder als wichtiger strategischer Partner willkommen sein.
Herr Professor Herdegen, vielen Dank für das Gespräch.
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