Nach dem historischen Einbruch der Staatseinkünfte in der Krise prognostizieren die Steuerschätzer ein geringes Plus. Doch das reicht nicht, um die Löcher im Haushalt und den Sozialkassen zu stopfen.
Olaf Scholz
Ein immer größerer Anteil der Steuermehreinnahmen landet bei Ländern und Kommunen, während der Bund ziemlich leer ausgeht.
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Berlin Das stellt insbesondere den Bund und damit die neue Bundesregierung vor ein Problem. Auf der einen Seite tun sich in den Sozialkassen riesige Lücken auf. So fordert Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) einen Steuerzuschuss für Gesundheits- und Pflegeversicherung von künftig weit über 20 Milliarden Euro im Jahr. Bislang lag er bei 14,5 Milliarden Euro. Auch im Rentensystem tut sich allein 2023 eine Lücke von zehn Milliarden Euro auf, die durch Steuermittel geschlossen werden soll.
Steuerschätzer haben es in diesen Tagen nicht leicht. Wegen der Pandemie fällt das persönliche Treffen aus und damit auch die übliche Sightseeing-Tour. Der Arbeitskreis der Steuerschätzer trifft sich normalerweise jedes Mal an einem anderen Ort in der Republik.
Auch die tatsächliche Arbeit ist in der Corona-Pandemie deutlich schwieriger als sonst. Wegen der Krise gab es einige steuerliche Veränderungen, die eine Prognose verkomplizieren. Am Mittwoch legen die Experten ihre neue Schätzung vor. Eine Tendenz zeichnet sich zumindest ab: Nach dem historischen Absturz in der Coronakrise erholen sich die Steuereinnahmen wieder etwas.
Bis einschließlich 2025 werden die Einnahmen von Bund, Ländern und Kommunen um 18 Milliarden Euro gegenüber der Steuerschätzung aus dem vergangenen November steigen. Dies geht nach Handelsblatt-Informationen aus der Vorlage des Bundes für die neue Schätzung des Arbeitskreises Steuerschätzung hervor.
Sollte sich die Prognose bewahrheiten, fällt das Steuerplus unterm Strich allerdings alles andere als gigantisch aus. Womit die Frage im Raum steht: Wie will eine neue Regierung die immensen Löcher in den Sozialkassen stopfen, zugleich die Corona-Schulden tilgen und all die Versprechungen erfüllen, die alle Parteien gerade so euphorisch in ihre Wahlprogramme schreiben?
Die Wahl scheint nur noch zwischen zwei Optionen zu bestehen: Entweder erhöht die nächste Regierung Steuern und Sozialbeiträge, oder sie höhlt die Schuldenbremse aus.
Die leicht bessere Prognose ist unter anderem der optimistischeren Wachstumsprognose der Bundesregierung geschuldet. Allerdings fallen die Steuerzuwächse erst am Ende des Prognosezeitraums an.
In Regierungskreisen hieß es: „Die fetten Jahre liegen erst ganz am Ende.“ Vor allem aber schreibt sich eine Entwicklung fort: Ein immer größerer Anteil der Steuermehreinnahmen landet bei Ländern und Kommunen, während der Bund ziemlich leer ausgeht.
So entfällt der größte Teil der Mehreinnahmen laut der Schätzvorlage auf die Gemeinden, die ein Plus von 9,9 Milliarden Euro verzeichnen. Vor dem Hintergrund sind die jüngsten Forderungen der kommunalen Spitzenverbände, Städte und Gemeinden nach einem Rettungsschirm des Bundes auch in diesem Jahr zumindest fragwürdig.
Auf die Länder entfallen laut der Schätzvorlage noch 5,9 Milliarden Euro der Mehreinnahmen, auf den Bund unterm Strich dagegen nur 2,2 Milliarden Euro. Dies hat auch damit zu tun, dass sich der Bund in den vergangenen Jahren gönnerhaft zeigte und Steuern dauerhaft zu den Ländern umverteilte.
Die Prognose könnte auch noch besser ausfallen, als der Bund es in seiner Schätzvorlage annimmt. In Verhandlungskreisen heißt es dazu: „Derzeit ist alles im Fluss.“ So ist es etwa nicht so leicht, die Wirkung des steuerlichen Verlustrücktrags zu beziffern, der in der Krise eingeführt wurde und bei dem Unternehmen Verluste in der Coronakrise mit Gewinnen aus den Vorjahren steuerlich verrechnen können, um sich über Wasser zu halten.
Auch könnte die Schätzung tendenziell besser ausfallen, da die Bundesregierung in ihrer Wachstumsprognose – die die Grundlage für die Steuerschätzung bildet – pessimistischer ist als einige Forschungsinstitute.
So zeigte sich Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) zuletzt zuversichtlich, das Wachstum könnte in diesem Jahr auch höher ausfallen als bislang gedacht. Derzeit rechnet die Bundesregierung mit einem Wachstum im Jahr 2022 in Höhe von 3,6 Prozent.
Allerdings liegen die Steuereinnahmen selbst bei einem Plus von deutlich über 20 oder gar 30 Milliarden Euro weit unter den prognostizierten Einnahmen von vor der Coronakrise.
Die Einnahmen liegen bislang um rund 40 bis 45 Milliarden Euro im Jahr niedriger. Gleichzeitig wird der Staat zur Bekämpfung der Coronakrise laut dem Wirtschaftsinstitut IW insgesamt rund 650 Milliarden Euro ausgeben.
Das stellt insbesondere den Bund und damit die neue Bundesregierung vor ein Problem. Auf der einen Seite tun sich in den Sozialkassen riesige Lücken auf. So fordert Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) einen Steuerzuschuss für Gesundheits- und Pflegeversicherung von künftig weit über 20 Milliarden Euro im Jahr. Bislang lag er bei 14,5 Milliarden Euro. Alleine der Zuschuss zum Gesundheitsfonds wird im kommenden Jahr laut eines Kompromisses von Scholz und Spahn von fünf auf sieben Milliarden Euro ansteigen. Auch im Rentensystem tut sich allein 2023 eine Lücke von zehn Milliarden Euro auf, die durch Steuermittel geschlossen werden soll.
Die Lücken könnten zwar auch über höhere Sozialbeiträge gedeckt werden. Die „Sozialgarantie“ der Großen Koalition schreibt allerdings vor, die Beiträge bei 40 Prozent zu deckeln.
Deshalb fordern die Minister Spahn und Hubertus Heil (SPD) höhere Steuerzuschüsse für Gesundheit und Rente – was aber neue Löcher in den Bundeshaushalt reißen würde.
Auf der anderen Seite muss der Bund gemäß der Schuldenbremse die Corona-Schulden tilgen. Ab 2023 sind es nur zwei Milliarden Euro im Jahr, ab 2026 könnten es dann aber schon 19 Milliarden Euro Euro im Jahr sein - je nachdem, wie hoch die Verschuldung infolge der Coronakrise letztlich ausfällt.
Und als ob das alles nicht genug wäre, muss der Bund zugleich die Schuldenbremse einhalten. Für 2022 ist sie noch ausgesetzt. Doch ewig kann man nicht die Notfalloption der Schuldenregel ziehen. Denn die Schuldenbremse ist in der Verfassung verankert, schnell würden Verfassungsklagen drohen.
Die Hoffnung der Bundesregierung besteht darin, wie nach der Finanzkrise aus den Schulden rauszuwachsen. Was die Schuldenquote angeht, stimmt dies auch. Sollte das Wachstum halbwegs ordentlich ausfallen, dürfte die Verschuldung gemessen am Bruttoinlandsprodukt schnell wieder von derzeit 75 in Richtung 60 Prozent sinken.
Die Löcher im Haushalt und im Sozialsystem müssen aber dennoch gestopft werden, und hier wird Wachstum aller Wahrscheinlichkeit nicht ausreichen, um sie zu schließen.
Ökonomen haben deshalb zuletzt durchgespielt, wie der Staat mehr finanziellen Handlungsspielraum gewinnen könnte. Laut DIW-Finanzexperte Stefan Bach könnte etwa eine Vermögensabgabe 9,5 Milliarden Euro, eine höhere Erbschaftsteuer sechs Milliarden Euro und ein Corona-Soli 6,5 Milliarden Euro mehr im Jahr einbringen.
Würde man noch Steuerschlupflöcher für Unternehmen schließen und die Grundsteuer erhöhen, kämen im Jahr Mehreinnahmen von insgesamt 34 Milliarden Euro zusammen.
Allerdings halten fast alle Volkswirte breit angelegte Steuererhöhungen in der jetzigen Zeit für konjunkturelles Gift. Sie würden nach der Coronakrise Investitionen, Kaufkraft und damit Wachstum abwürgen. Der Ökonom Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) plädiert daher für einen anderen Ansatz.
Er schlägt vor, den Zeitraum für die Tilgung der Corona-Schulden viel länger zu strecken, statt wie derzeit geplant über 20 Jahre sollen es demnach 40 werden. Daneben sollte der Bund über einen „Deutschlandfonds“ abseits der Schuldenbremse über zehn Jahre 450 Milliarden Euro an Investitionen ausgeben.
Aber auch an die Schuldenbremse will Hüther ran. So solle auch den Ländern die Möglichkeit gegeben werden, zumindest ein wenig Schulden zu machen, etwa in Höhe von 0,15 Prozent. Bislang gilt für die Länder ein Neuverschuldungsverbot. Und auch der Spielraum für den Bund könnte etwas großzügiger ausgestaltet werden, so Hüther.
Stefan Körzell, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), warnt die öffentliche Hand davor, nun einen Sparkurs einzulegen. „Die Bundesregierung muss jetzt alles tun, um die wirtschaftliche Erholung nicht zu gefährden und die Infrastruktur nicht weiter verfallen zu lassen“, sagte Körzell dem Handelsblatt.
Statt den Gürtel enger zu schnallen, sollte Deutschland sich ein Beispiel an den USA nehmen und viel mehr Geld investieren. „Nur mit massiven öffentlichen Investitionen lassen sich Klimawandel und Digitalisierung erfolgreich bewältigen.“ Das heiße aber auch, dass der Staat insgesamt mehr finanziellen Spielraum brauche. „Die Schuldenbremse darf nicht wieder angezogen, die Corona-Schulden dürfen nicht überhastet getilgt werden“, forderte Körzell.
Allerdings gibt es auch Kritik an dem Plan, mit einem höheren Neuverschuldung im Bundeshaushalt die Sozialversicherung zu stabilisieren. „Denn wenn wir heutige Sozialleistungen auf Pump finanzieren und Tilgung sowie Zinszahlungen auf die Zukunft verlagern, lassen wir künftige Generationen für unseren heutigen Konsum bezahlen“, sagt Rainer Schlegel, Vorsitzender des Bundessozialgerichts. Deren Freiheit werde eingeschränkt. „Und dass man Schulden so einfach durch einen Federstrich des Gesetzgebers beseitigt, sehe ich nicht.“
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