PremiumDer grüne Wirtschaftsminister zieht Konsequenzen aus dem Stresstest. Damit bleibt er jedoch hinter den Forderungen des Koalitionspartners FDP zurück.
Berlin Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) will zwei von drei noch laufenden Kernkraftwerken in Deutschland für den Notfall bereithalten. Damit würden sie über die geplante Abschaltung zum Jahresende hinaus in Betrieb bleiben.
Die Atomkraftwerke Isar 2 und Neckarwestheim 2 würden „in eine Reserve überführt“, sagte Habeck bei der Präsentation der Ergebnisse des zweiten sogenannten Stresstests. Sie würden genutzt, „wenn die Situation es gebietet“, so der Minister.
Habeck zufolge werden sie „bis Mitte April 2023 noch zur Verfügung stehen, um falls nötig über den Winter einen zusätzlichen Beitrag im Stromnetz in Süddeutschland 2022/23 leisten zu können“. Das heiße auch, dass „alle drei derzeit in Deutschland noch am Netz befindlichen Atomkraftwerke planmäßig Ende 2022 regulär vom Netz gehen“.
Bei dem dritten Atomkraftwerk handelt es sich um den Reaktor Emsland in Niedersachsen. Am 9. Oktober wird dort ein neuer Landtag gewählt. In Niedersachsen regiert aktuell eine vom sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Stephan Weil geführte Koalition mit der CDU.
„Am Atomausstieg, wie er im Atomgesetz geregelt ist, halten wir fest“, sagte Habeck bei der heutigen Pressekonferenz. Neue Brennelemente würden nicht eingesetzt, und Mitte April 2023 sei für die beiden Atomkraftwerke in Reserve Schluss. „Die Atomkraft ist und bleibt eine Hochrisikotechnologie, und die hochradioaktiven Abfälle belasten zig nachfolgende Generationen“, sagte der Minister.
Den Stresstest haben die vier Stromübertragungsnetzbetreiber durchgeführt: 50Hertz, Amprion, Tennet und TransnetBW. Sie haben in drei Szenarien ermittelt, ob in den kommenden Monaten zu jeder Stunde ausreichend Strom zur Verfügung steht. „Unsere Botschaft ist ganz klar: Es ist sinnvoll und notwendig, alle Erzeugungskapazitäten zu nutzen“, sagte 50Hertz-Chef Stefan Kapferer bei der Präsentation der Ergebnisse.
Der zweite Stresstest wurde im Zeitraum von Mitte Juli bis Anfang September durchgeführt. Ihre Annahmen haben sie im Vergleich zur ersten Analyse im Frühjahr stufenweise hochskaliert. Sie gingen von deutlich düstereren Auswirkungen des Ukrainekriegs auf den Energiemarkt aus. Die Berechnungen berücksichtigen auch Engpässe in der Kraftwerksverfügbarkeit.
Der Energiekonzern EnBW will nun prüfen, ob sein Kernkraftwerk Neckarwestheim über das Jahresende hinaus betriebsbereit gehalten werden kann. Für eine Betriebsbereitschaft müssten schnellstmöglich die gesetzlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden, erklärte das Unternehmen am Montag in Karlsruhe. „Darüber hinaus müssen von der Bundesregierung, möglichst im Austausch mit den Kraftwerksbetreibern, die Details der beschlossenen Vorgehensweise konkretisiert beziehungsweise geklärt werden“, hieß es.
Der Energieversorger Eon sieht eine technische und organisatorische Prüfung des Kernkraftwerks Isar 2 als notwendig an, teilte das Unternehmen am Montagabend mit. Kernkraftwerke seien in ihrer technischen Auslegung keine Reservekraftwerke, die variabel an- und abschaltbar seien. Darüber hinaus versicherte Eon, dass das Kernkraftwerk Isar 2 auch bei einem Weiterbetrieb über den 31. Dezember hinaus alle sicherheitsrelevanten Anforderungen erfülle und „zu den sichersten Anlagen der Welt gehört“.
>> Lesen Sie auch: Bilfinger-Chef fordert AKW-Weiterbetrieb – „Optimal wäre eine Kanzlerentscheidung“
Die betroffenen AKW-Betreiber werden laut Wirtschaftsminister Robert Habeck „selbstverständlich“ eine Entschädigung bekommen, für ihr Personal und sonstige Betriebskosten. Die Höhe der staatlichen Zahlungen sei noch unklar, werde aber überschaubar sein. Die Abschöpfung von „Zufallsgewinnen“ auf dem Strommarkt solle das Geld mit einspielen.
Habeck bleibt mit seiner Maßnahme jedoch weit hinter den Forderungen des Koalitionspartners FDP zurück. Die Liberalen fordern, alle drei Reaktoren mindestens im Streckbetrieb weiterzubetreiben, um das Stromversorgungssystem zu stabilisieren.
Außerdem soll der Streckbetrieb bis ins Frühjahr 2023 hinein eine preisdämpfende Wirkung auf dem Strommarkt entfalten. „Streckbetrieb“ bedeutet, dass vorhandene Brennstäbe bei kontinuierlich sinkender Leistung noch für bis zu drei Monate über ihre geplante Lebensdauer hinaus genutzt werden.
Habeck empfiehlt der Koalition nun eine andere Lösung: Die zwei Reaktoren in Süddeutschland sollen nur eine Notlösung sein. „Sie werden einsatzbereit gehalten, aber produzieren keinen Strom mehr“, sagte er. Erst wenn ein Versorgungsengpass drohe, würden sie eingeschaltet.
Kernkraftwerk Emsland
Das AKW soll wie geplant vom Netz gehen, zwei andere werden als Einsatzreserve behalten.
Bild: dpa
Die Fraktionsspitze der Grünen im Bundestag hat sich hinter Habecks Plan gestellt. „Als Fraktionsvorsitzende unterstützen wir den Vorschlag einer einmaligen befristeten Reserve für den Notfall“, teilten Britta Haßelmann und Katharina Dröge am Montag in Berlin mit. Die Grünen-Bundestagsfraktion werde diesen Vorschlag intensiv diskutieren und sich für die Beratung eingehend Zeit nehmen.
Der Netzstresstest zeige, dass Atomkraft keine Lösung sei. „Deshalb spricht nichts für einen Streckbetrieb. Atomkraft ist eine Hochrisikotechnologie und muss beendet werden“, erklärten sie. „Der Atomausstieg zum 31.12.2022 ist beschlossen und gilt.“ Eine Verlängerung der Laufzeiten werde ausgeschlossen.
Michael Kruse, energiepolitischer Sprecher der FDP-Bundestagfraktion, sagte, die Ergebnisse des Stresstests seien wenig wert. Denn die Annahmen seien zu optimistisch. „Sie sind politisch bestimmt und nicht aus der Realität abgeleitet. Längst hat sich in Deutschland nicht nur der Bedarf nach mehr Strom ergeben, sondern die explodierenden Strompreise zwingen die Wirtschaft in die Knie“, sagte Kruse.
Die ausbleibende Verlängerung für die Kernkraftwerke in Deutschland würde die Stromkunden unnötig belasten. „Statt mit verfügbaren Kraftwerken weiter günstigen Strom zu produzieren, gehen abgeschriebene Kraftwerke in die Reserve. Dabei benötigen die Strommärkte als Entlastungssignal den Weiterbetrieb vorhandener Kraftwerke.“
Vor Bekanntgabe der Ergebnisse forderte FDP-Chef Christian Lindner, alle Möglichkeiten zu nutzen, „den Strompreis für die Menschen und die Betriebe zu reduzieren“. Das sei „ein wirtschaftspolitischer Stresstest, der neben dem energiepolitischen Stresstest auch eine Rolle spielen muss“. Es spreche „viel dafür, dass zur Netzstabilität die drei Atomkraftwerke weiterbetrieben werden sollten“.
>> Lesen Sie auch: Berechnung der Bundesregierung – Ampel plant Steuersenkung von mindestens 27 Milliarden Euro
In der Koalition ist die FDP bei der AKW-Laufzeitverlängerung in der Minderheit. SPD-Chefin Saskia Esken sagte am Montag nach Beratungen der Parteispitze, alle Argumente gegen die Nutzung der Atomenergie seien „unverändert richtig“.
Die Spitze der Unionsfraktion kritisierte die Entscheidung Habecks. Die drei verbliebenen Kernkraftwerke „könnten in dieser Krise sicher, verlässlich und bezahlbar Energie, Strom für Deutschland liefern“, sagte der stellvertretende Unionsfraktionschef Jens Spahn (CDU). „Und das sollten sie auch mindestens noch in den nächsten zwei Wintern tun.“
Spahn nannte es bemerkenswert, dass das Kernkraftwerk im niedersächsischen Emsland anscheinend für einen Weiterbetrieb nicht in Betracht gezogen werde, obwohl es das neueste aller noch in Deutschland laufenden Kernkraftwerke sei. In Niedersachsen sei am 9. Oktober Landtagswahl. Die Grünen „schalten lieber klimaneutrale Kernkraftwerke ab und lassen dafür den Klimakiller Kohle in Zweifel mehr laufen. Damit geht bei den Grünen die Ideologie der Partei vor den Interessen unseres Landes.“
Auch CSU-Chef Markus Söder zeigte sich enttäuscht von den Ergebnissen des AKW-Stresstests. „Es ist eine Entscheidung gegen jede Vernunft und zum Schaden unseres Landes“, twitterte Bayerns Ministerpräsident am Montag. „Robert Habeck nimmt das Risiko eines Blackouts und weitere Anstiege beim Strompreis in Kauf“, kritisierte Söder. „Nach der Gasumlage der nächste schwere Fehler.“
Dass Habeck nur die beiden Reaktoren in Süddeutschland in Reserve halten will, hat mit einer besonderen Situation zu tun: Im Süden ist gesicherte Kraftwerksleistung knapp. „Gesicherte Leistung“ heißt, dass Stromerzeugungskapazitäten planbar eingesetzt werden können. Das ist bei Kohle-, Gas- und Kernkraftwerken der Fall. Anders ist es bei erneuerbaren Energien, deren Erzeugungsleistung volatil und begrenzt prognostizierbar ist.
Wenn im Süden die beiden Atomkraftwerke zum Jahresende 2022 abgeschaltet würden, würde ein erheblicher Teil der gesicherten Kraftwerksleistung in den Bundesländern Bayern und Baden-Württemberg wegfallen. Die Kohlekraftwerke im Süden reichen nicht aus, um das zu kompensieren.
Gaskraftwerke wiederum könnten bei einer eingeschränkten Gasversorgung Probleme bekommen. Zugleich fehlt es an Stromübertragungsleitungen, die die Versorgung des Südens mit Windstrom aus dem Norden sicherstellen könnten.
Die bayerische Wirtschaft weist seit Monaten auf die angespannte Lage im Süden hin. Sie fordert, „die drei bestehenden Kernkraftwerke für eine begrenzte Zeit weiter am Netz zu lassen, mindestens bis zum Ende der Heizperiode 2023“. Das hatte Bertram Brossardt, Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (VBW), kürzlich gesagt.
Er warnte: „Wir haben heute schon ein Angebotsproblem auf den europäischen Strommärkten, das sich sonst zu verschärfen droht, zu extrem hohen Strompreisen führt und auch die Versorgungssicherheit gefährdet.“
Bayern sei besonders betroffen, da das Übertragungsnetz nicht ausreichend ausgebaut sei, um ohne Netzengpässe Strom aus dem Norden nach Bayern zu transportieren. „Der kommende Winter wird daher eine ernste Belastungsprobe für die Energieversorgung. Deswegen brauchen wir einen breiten Energiemix. Die grundlastfähige Kernkraft ist hier eine wichtige Säule.“
Auf tippen, dann auf „Zum Home-Bildschirm“ hinzufügen.
Auf tippen, dann „Zum Startbildschirm“ hinzufügen.
×
Kommentare (14)