PremiumDer deutsche Regierungschef verurteilt Russlands Schritt und stoppt das Genehmigungsverfahren für die Gasleitung. Die US-Regierung begrüßt die Entscheidung, Russland bleibt gelassen.
Anlandestation für Nord Stream 2 bei Lubmin
Ein Projekt gegen jedes politische Gespür.
Berlin Olaf Scholz hat sich entschieden: Die Inbetriebnahme der Ostseepipeline Nord Stream 2 wird angesichts der Eskalation der Ukrainekrise gestoppt. Der Bundeskanzler verurteilte die Entscheidung von Russlands Präsident Wladimir Putin zur Anerkennung der selbst ernannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk als unabhängige Staaten als „schwerwiegenden Bruch des Völkerrechts“.
„Die Lage ist heute eine grundlegend andere“, sagte Scholz am Dienstag in Berlin bei einer Pressekonferenz mit dem irischen Ministerpräsidenten Micheál Martin. Putin breche mit seinem Vorgehen im Osten der Ukraine nicht nur das Abkommen von Minsk, sondern auch die UN-Charta, die die Wahrung der territorialen Integrität und Souveränität von Staaten vorsehe.
Die russische Regierung reagiert gelassen auf die Entscheidung, die Ostsee-Pipeline auf Eis zu legen. Die Regierung habe keine Angst und glaube nicht an Tränen, sagt Vize-Außenminister Andrej Rudenko der Nachrichtenagentur Tass zufolge.
Was sich konkret hinter dem Stopp verbirgt, ist ein administrativer Vorgang: Er habe das Wirtschaftsministerium gebeten, den bestehenden Bericht zur Analyse der Versorgungssicherheit bei der Bundesnetzagentur zurückzuziehen, sagte Scholz. „Das klingt zwar technisch, ist aber der nötige verwaltungsrechtliche Schritt, damit jetzt keine Zertifizierung der Pipeline erfolgen kann.“ Ohne diese Zertifizierung könne Nord Stream 2 nicht in Betrieb gehen, betonte er.
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Zugleich habe er das Wirtschaftsministerium angewiesen, eine Neubewertung der Versorgungssicherheit vorzunehmen. „Das wird sich sicher hinziehen“, erklärte Scholz. Die Pipeline ist fertig gebaut, aber noch nicht in Betrieb. Die Betriebserlaubnis der Bundesnetzagentur fehlt noch – und wird nun auch erst mal nicht kommen.
Der Kanzler hat damit seine bisherige Linie verlassen. In den vergangenen Tagen hatte er immer wieder betont, dass Russland einen sehr hohen Preis zahlen müsse, wenn es die territoriale Integrität der Ukraine verletze; sich gleichzeitig aber offen für einen Dialog gezeigt. Diese Botschaft sei auch verstanden worden, hatte Scholz zuletzt betont. Diese Positionierung war nun nicht mehr zu halten.
Am Dienstagmorgen hatte das Bundeswirtschaftsministerium der zuständigen Netzagentur mitgeteilt, den Versorgungssicherheitsbericht für Nord Stream 2 zurückzuziehen. „Ich bin der Meinung, dass die Entwicklung in der Geopolitik und auf den Gasmärkten uns zu der Neubewertung gerade zu zwingt“, erklärte Minister Robert Habeck (Grüne). Solange die neue Prüfung nicht abgeschlossen sei oder positiv verlaufe, könne die Pipeline nicht genehmigt werden.
Der zurückgezogene Bericht stammte noch aus der Feder der alten Bundesregierung. Einen Tag bevor diese entlassen wurde und die Ministerinnen und Minister nur noch geschäftsführend im Amt waren, war der Bericht fertiggestellt worden. Er attestierte Nord Stream 2, die Versorgung in Deutschland nicht zu gefährden. Nord Stream wird also nicht direkt sanktioniert.
Wirtschaftsminister Habeck sagte außerdem: „Mit der Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk hat das Putin-Russland einen schweren Bruch das Völkerrechts begangen.“ Es werde wirtschaftliche Sanktionen als auf Antwort darauf geben müssen.
Für den aktuellen Winter sei die Gasversorgung dennoch sicher, erklärte Habeck. Allerdings werde die Entscheidung, vor allem aber die Zuspitzung des militärischen Konflikts in der Ukraine, kurzfristig für höhere Preise sorgen. „Krieg treibt die Preise“, betonte Habeck. Langfristig habe er die Hoffnung auf sinkende Preise. Dafür müsse aber die politische Versorgungssicherheit gestärkt werden.
Putin hatte am Montag die Volksrepubliken anerkannt und dann umgehend die Entsendung von Truppen in den umkämpften Osten der Ukraine angeordnet.
Der Widerstand gegen die Pipeline war ohnehin enorm, in Europa, aber auch in den USA. Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte sich im vergangenen Sommer mit US-Präsident Joe Biden auf eine gemeinsame Erklärung verständigt, die Sanktionen vorsieht, auch gegen Nord Stream 2.
„Sollte Russland versuchen, Energie als Waffe zu benutzen, oder weitere aggressive Handlungen gegen die Ukraine begehen, wird Deutschland auf nationaler Ebene handeln und in der Europäischen Union auf effektive Maßnahmen einschließlich Sanktionen drängen, um die russischen Kapazitäten für Exporte nach Europa im Energiesektor, auch in Bezug auf Gas, zu beschränken“, heißt es darin. „Diese Zusage zielt darauf ab sicherzustellen, dass Russland keine Pipeline, einschließlich Nord Stream 2, zur Erreichung aggressiver politischer Ziele einsetzt.“
Die US-Regierung begrüßte die Entscheidung der Bundesregierung, die Ostseepipeline Nord Stream 2 vorerst zu stoppen. „Nach Russlands Anerkennung der sogenannten Republiken von Donesk und Luhansk und der Verlegung von Truppen in die beide Regionen ist die Zeit gekommen, zur Liste der Konsequenz zu greifen“, auf die sich die westlichen Alliierten zuvor verständigt hatten, sagte die Nato-Botschafterin der USA, Julianne Smith, dem Handelsblatt. Nord Stream 2 habe sich auf dieser Liste befunden. „Deutschland hat das Richtige getan.“
Ein Ende von Nord Stream 2 sei für Russland nicht allzu schlimm, meint der russische Energieexperte Wadim Ponkratow von der Finanzuniversität der russischen Regierung. Werde Russland nun verstärkt aus dem EU-Markt verdrängt, „können wir bereits einen Teil des von uns produzierten Gases auf asiatische Routen umleiten“, so Pankratow. Sein Land sei schon jetzt dabei, immer größere Verflüssigungsanlagen für Erdgas aufzubauen und wolle „mittelfristig zu den drei größten LNG-Lieferanten der Welt aufzusteigen“.
Dazu dienten die Gazprom-Anlagen in Ust-Luga an der russischen Ostseeküste und die LNG-Fabrik vom Rivalen Novatek auf der Jamal-Halbinsel im Eismeer. Daneben gibt es auch LNG-Anlagen auf Sachalin und in Primorje am Pazifik. Ponkratow ist überzeugt, dass Russland relativ schnell für Europa gedachte Gasmengen nach China umlenken könne.
Denn die nach China führende Erdgaspipeline Sila Sibirii (Kraft Sibiriens) sei momentan nur zu zwölf bis 15 Prozent ausgelastet. Allerdings gibt es bisher noch keine Einspeisungspunkte für Erdgas in Westsibirien an das nach Osten führende Netz. Diese müssten erst gebaut werden. Das Gas aus Westsibirien wird traditionell nach Europa verkauft.
Allerdings würde Russland finanziell durchaus erheblich getroffen, sollte Europa weniger russisches Gas abnehmen und Gazprom dieses nach China schicken: Der 35-Jahres-Vertrag für Sila Sibirii sieht in den ersten neun Jahren nur einen Gaspreis von 171 Dollar pro 1000 Kubikmeter Erdgas vor – nicht einmal ein Fünftel des aktuellen Gaspreises in Europa.
Zusätzlich zur Betriebserlaubnis der Bundesnetzagentur müsste auch die EU-Kommission Nord Stream 2 noch bewerten – und die Brüsseler Behörde macht keinen Hehl daraus, dass sie das Projekt ablehnt.
Die Ampelkoalition dagegen hatte zuletzt keine klare Position zu Nord Stream 2. In der SPD hat die Pipeline prominente Unterstützer, etwa Manuela Schwesig, Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern.
Die Grünen und große Teile der FDP halten das deutsch-russische Projekt dagegen für einen schweren Fehler. Am Dienstag hat sich als erstes Kabinettsmitglied Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir nachdrücklich für einen Stopp der Erdgasleitung ausgesprochen.
„Das müssen wir in der Bundesregierung gemeinsam durchsetzen“, sagte der Grünenpolitiker im Deutschlandfunk. „Ich hoffe, dass auch unsere Koalitionspartner das nicht anders sehen.“ Spätestens jetzt sei der Zeitpunkt, dieses „Projekt auf Halt zu stellen“.
Angesichts der neuen Lage wird es für die Anhänger der Pipeline immer schwerer, eine Inbetriebnahme zu rechtfertigen. Der Bundesregierung blieb damit keine andere Wahl, als das Projekt zu stoppen – Berlin hätte ansonsten den letzten Funken Vertrauen bei ihren osteuropäischen Partnern verspielt und ein schweres Zerwürfnis mit den USA riskiert.
Kanzler Scholz
Nord Stream 2 zunächst gestoppt.
Bild: Bloomberg
Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba lobt die Entscheidung, die Gaspipeline auf Eis zu legen. „Das ist moralisch, politisch und praktisch der richtige Schritt unter den gegenwärtigen Umständen“, schreibt Kuleba auf Twitter. „Wahre Führung bedeutet harte Entscheidungen in schwierigen Zeiten. Deutschlands Schritt beweist genau das.“
Der Stopp des Zertifizierungsverfahrens für Nord Stream 2 trifft auch mehrere europäische Unternehmen, die neben dem russischen Energiekonzern Gazprom an der Finanzierung des Projekts beteiligt sind. Engie, OMV, Shell, Uniper und Wintershall Dea haben jeweils rund zehn Prozent beziehungsweise 950 Millionen Euro in die Pipeline investiert. Wenn sie nicht in Betrieb geht, ist dieses Geld sowie die damit verbundene Rendite für die Unternehmen womöglich verloren.
Auf Handelsblatt-Anfrage wollten sich allerdings zunächst weder Shell noch Uniper zu dem Zertifizierungsstopp äußern. Auch bei der OMV war Dienstagmittag niemand für eine Stellungnahme zu erreichen.
Der Kasseler Gaskonzern Wintershall äußerte sich ebenfalls nicht konkret mit Blick auf die Entscheidung der Bundesregierung. Ein Sprecher des Unternehmens teilte lediglich mit, dass es falsch sei, sich bei der Frage zu wirtschaftlichen Folgen allein auf Erdgaslieferungen und Pipelines zu fokussieren. Eine weitere kriegerische Eskalation „würde neben furchtbaren menschlichen Leid unseren ganzen Kontinent und mit ihm die Wirtschaft in Russland und in Europa um Jahre zurückwerfen“, so Wintershall.
Mecklenburg-Vorpommern trägt den Sanktionskurs gegen Russland mit und hat die vom Gasleitungsprojekt Nord Stream finanzierte „Klimastiftung Mecklenburg-Vorpommern“ gebeten, ihre Arbeit vorerst ruhen zu lassen. Am Dienstagabend werde die Landesregierung erneut zusammentreten, um über die weitere Entwicklung zu beraten, sagte Vize-Ministerpräsidentin Simone Oldenburg (Linke) am Dienstag in Schwerin nach einer Kabinettssitzung.
Die Stiftung war Anfang 2021 unter anderem mit dem Ziel gegründet worden, die Fertigstellung der Gaspipeline Nord Stream 2 zu unterstützen. Dazu war ein wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb gegründet worden, um Unternehmen zu unterstützen, die an der Pipeline trotz der bereits damals bestehenden Sanktionsdrohungen der USA mitbauen wollten. Das Land Mecklenburg-Vorpommern stattete die Stiftung mit 200.000 Euro aus, Nord Stream kündigte 20 Millionen Euro an.
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