Handelsblatt App
Jetzt 4 Wochen für 1 € Alle Inhalte in einer App
Anzeigen Öffnen
MenüZurück
Wird geladen.

05.04.2022

18:30

Ukraine-Krieg

Aus der Defensive in die Offensive – Die westlichen Aufrüstungspläne für die Ukraine

Von: Moritz Koch, Frank Specht

PremiumDie Ukraine benötigt schwere Waffen, um die russische Armee aus besetzten Gebieten zu vertreiben. Nato-Staaten wollen ihre Militärhilfen ausweiten. Auch in Berlin gibt es ein Umdenken.

Ukraine-Krieg imago images/Chris Emil Janßen

Schützenpanzer Marder

Die Ukraine fordert schwere Waffen für eine Gegenoffensive.

Berlin, Brüssel Eineinhalb Monate Krieg haben Furchen in das Gesicht des ukrainischen Präsidenten gegraben. Schmerz und Zorn waren Wolodimir Selenski anzusehen, als er am Montag die Kleinstadt Butscha besuchte. Der Schmerz über die dort kaltblütig ermordeten Zivilisten. Und der Zorn über das Wüten der russischen Soldaten.

Auch in Europa und den USA bestehen kaum Zweifel daran, dass Russlands Militär für schwere Kriegsverbrechen verantwortlich ist. Die Schreckensbilder, die jetzt nach dem Abzug der russischen Armee aus den Gebieten um Kiew ans Licht kommen, geben der Debatte über die Aufrüstung der ukrainischen Streitkräfte eine neue Dynamik. Eine Diskussion, die auch das Treffen der Nato-Außenminister am Mittwoch und Donnerstag in Brüssel prägen wird. 

„Wir werden unsere Unterstützung für die Verteidigung der Ukraine noch einmal verstärken“, kündigt Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) an. Und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg betont, es ist „extrem wichtig, dass die NATO-Verbündeten Unterstützung leisten, damit wir in der Lage sind, die ukrainischen Streitkräfte mit Waffen und Ausrüstung zu versorgen“.

Der Krieg ist in eine neue Phase eingetreten. Die Abwehrschlacht um Kiew ist entschieden, in dieser Region sind die Russen geschlagen. Vorerst stellen ihre Truppen keine Gefahr mehr für die ukrainische Hauptstadt dar. 

Der Kreml ist mit seinem wichtigsten Ziel gescheitert, Selenskis demokratisch gewählte Regierung in einem Blitzkrieg zu stürzen und durch ein Marionettenregime zu ersetzen. Aber die russische Aggression ist damit noch lange nicht vorbei.

Die Invasionsarmee sammelt ihre Kräfte für eine neue Offensive im Osten, voraussichtlich auch im Süden. Moskau hat die „Befreiung“ des Donbass als neues Kriegsziel ausgegeben. Zugleich, so die Analyse der Nato-Partner, wolle Russland eine Landbrücke zur Halbinsel Krim freikämpfen und könnte einen erneuten Versuch zur Eroberung von Odessa unternehmen – der wichtigsten Hafenstadt der Ukraine.

„Russlands Neupositionierung ist eine militärische Notwendigkeit, nicht unbedingt die Aufgabe des strategischen Ziels, die Ukraine zu unterwerfen“, mahnt Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations. Durch die Konzentration der Streitkräfte im Osten könnte es gelingen, die Ukraine in einem monate-, vielleicht jahrelangem Krieg aufzureiben.

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock im Nato-Hauptquartier IMAGO/photothek

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock im Nato-Hauptquartie

„Wir werden unsere Unterstützung für die Verteidigung der Ukraine noch einmal verstärken.“

Mit dem Charakter des Kriegs verändert sich auch der Ausrüstungsbedarf der ukrainischen Streitkräfte. „Wenn wir uns einig sind, dass Putin mit seinem Angriffskrieg keinen Erfolg haben soll, auch keinen Teilerfolg wie eine Landbrücke zur Krim, dann müssen wir mehr tun – sowohl bei den Sanktionen als auch bei Waffenlieferungen“, sagt Sicherheitsexpertin Claudia Major von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).

Panzerfäuste und tragbare Flugabwehrwaffen, die bisher den Hauptbestandteil der westlichen Waffenlieferungen ausmachen, eignen sich vor allem für die Defensive. Jetzt geht es darum, auch die Offensivfähigkeit der Ukraine zu verbessern. Um russische Truppen zurückzudrängen, benötigt die Ukraine Panzer, gepanzerte Fahrzeuge, Artillerie und Radare zur Artillerieerkennung.

Für die Nato-Staaten wirft das komplexe Fragen auf. Die Lieferung schwerer Waffen hatten die Bündnispartner bisher vermieden – auch um die Gefahr einer direkten Konfrontation der Nato mit Russland zu verringern.

Die Allianz betont weiterhin, dass sie selbst keine Waffen schicke, sondern dass es sich bei den Militärhilfen um Entscheidungen der Mitgliedstaaten handele. „Viele Verbündete liefern tödliche Ausrüstung an die Ukraine“, bestätigt Julianne Smith, Nato-Botschafterin der USA. Dies seien aber souveräne Entscheidungen der einzelnen Länder, nicht Entscheidungen der Nato.

Ukraine fordert Panzer und Raketenwerfer

Die US-Regierung hat ankündigt, ihre Waffenlieferungen auszuweiten. Darunter sollen sich panzerbrechende Kamikaze-Drohnen befinden, die sich etwa dazu eignen, feindliche Artilleriestellungen zu zerstören. 

Auch der Druck auf Deutschland, mehr für die ukrainische Armee zu tun, wird von Tag zu Tag stärker. „Was wir heute brauchen, sind schwere Waffen, sind Panzer, gepanzerte Wagen, sind Artilleriesysteme, Mehrfach-Raketenwerfer – das, womit man auch die Gebiete im Süden, im Südosten befreien kann“, sagte Kiews Botschafter Andrij Melnyk im Deutschlandfunk. „Man kann keine Gegenoffensive starten mit einer Panzerfaust, leider.“

Auf der Wunschliste stehen beispielsweise Schützenpanzer des Typs „Marder“, die die Bundeswehr im Bestand hat, die aber nach und nach durch „Puma“-Panzer ersetzt werden sollen.

Die Ukraine habe eine aktuelle Liste übersandt, welche Waffen und welches Material sie benötige, sagte die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), dem Handelsblatt. „Gemeinsam mit Politik, Militär und Industrie prüfen wir, was wir noch zusätzlich aus Beständen liefern können und was wir mit der Industrie zusammen direkt an die Ukraine senden können.“ Bei eventuellen Umwidmungen von Lieferverträgen müsse aber auch klar sein, dass dies nicht zulasten der Einsatzfähigkeit der Bundeswehr gehen dürfe.

Deutschland genehmigte im ersten Quartal Rüstungsexporte für 186 Millionen Euro für die Ukraine

Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) weigert sich bisher, Details über deutsche Lieferungen zu nennen – jedes Detail gefährde die Transporte und erlaube Russland Rückschlüsse auf militärische Fähigkeiten der Ukraine.

Bekannt geworden ist die Lieferung von Panzer- und Flugabwehrwaffen oder Schutzausrüstung. Je mehr Treibstofflager die russische Armee in der Ukraine zerstört, desto wichtiger wird aber auch die Versorgung mit Kraftstoff.

Das Bundeswirtschaftsministerium veröffentlichte am Dienstag Zahlen zu deutschen Rüstungsexporten im ersten Quartal. Demnach wurden „für die Selbstverteidigung der Ukraine“ in den ersten drei Monaten dieses Jahres Ausfuhrgenehmigungen im Wert von 186 Millionen Euro erteilt, das Gesamtvolumen der in diesem Zeitraum genehmigten Exporte betrug 2,9 Milliarden.

Der CDU-Politiker Thorsten Frei kritisierte die Unterstützung als „beschämend“: Deutschland liefere deutlich weniger als viele kleinere EU-Länder. Zwar hat die Bundesregierung der Ukraine eine Liste mit Material zur Verfügung gestellt, das die Industrie kurzfristig liefern kann. Diese enthält nach ukrainischen Angaben allerdings kein schweres Gerät, das dringend gebraucht werde.

Bundesregierung ändert Lagebeurteilung

Nach den Berichten über das Massaker in Buschta zeichnet sich innerhalb der Bundesregierung eine neue Lageeinschätzung ab. Für Millionen von Menschen in der Ukraine gehe es um Leben und Tod, sagte Außenministerin Baerbock: „Wir schauen uns daher jetzt auch Systeme an, die wir bisher nicht geliefert haben.“

Ein erstes klares Indiz für den Kurswechsel ist, dass die Bundesregierung dem tschechischen Plan zugestimmt hat, Schützenpanzer, die sich einst im Besitz der Nationalen Volksarmee befanden, der Ukraine zu vermachen.

Verteidigungsexperten weisen jedoch darauf hin, dass sich hier schon das nächste Problem abzeichne – irgendwann werden die Materialvorräte aus Sowjetzeiten erschöpft sein. SWP-Sicherheitsexpertin Major fordert daher: „Je länger der Krieg dauert, desto intensiver sollten wir darüber nachdenken, ob es nicht doch lohnt, ukrainische Soldaten auch auf westlichen Waffensystemen zu schulen.“ Da könnten dann die „Marder“-Schützenpanzer wieder ins Spiel kommen.

Kommentare (7)

Selber kommentieren? Hier zur klassischen Webseite wechseln.  Selber kommentieren? Hier zur klassischen Webseite wechseln.

Account gelöscht!

06.04.2022, 08:17 Uhr

Ich bin immer mehr davon überzeugt, dass wir uns sehr nah am WW3 bewegen.
@Herr Peter: Sie haben absolut recht, nur weil wir im Westen den Krieg verurteilen, ist das noch lange kein Konsens auf diesem Planeten.
@Herr Winter: Wenn Sie sich die Verbreitung der Demokratie in dieser Welt anschauen, kommen Sie zu einem anderen Schluss. Lt. einer Studie aus dem Hause Bertelsmann sind von 137 untersuchten Ländern nur noch 67 Demokratien, die Zahl der Autokratien liegt bei 70. Und der Vergleich zu den Alliierten im WW2 hinkt insoweit, als dass es 1945 kein übermächtiges China, aufstrebendes Indien und weltweit verstreutes Atomarsenal gab.

Direkt vom Startbildschirm zu Handelsblatt.com

Auf tippen, dann auf „Zum Home-Bildschirm“ hinzufügen.

Auf tippen, dann „Zum Startbildschirm“ hinzufügen.

×