Geflüchtete aus der Ukraine sollen ohne Asylverfahren ein befristetes Aufenthaltsrecht in der EU bekommen. Innen- und Arbeitsministerium in Berlin verhandeln noch über den Arbeitsmarktzugang.
Eine Gruppe von Ukrainern erreicht das polnische Przemysl
Mehr als 450.000 Ukrainer haben sich bereits über die Grenze ins Nachbarland Polen gerettet.
Bild: dpa
Berlin Der Ukrainekrieg führt auch zu einer Zeitenwende in der europäischen Flüchtlingspolitik. Die Innenminister der EU-Staaten haben am Donnerstag entschieden, erstmals die sogenannte „Massenzustrom“-Richtline zu aktivieren, die schon 2001 als Reaktion auf die Kriege im früheren Jugoslawien verabschiedet worden war. Sie folgten damit einem entsprechenden Vorschlag der EU-Kommission vom Mittwoch.
In EU-Länder geflüchtete Ukrainer erhalten damit einen zeitlich befristeten Aufenthaltsstatus abseits des Asylverfahrens und Zugang zu sozialen Mindeststandards. Außerdem hatte die Brüsseler Behörde nicht bindende Empfehlungen veröffentlicht, wie sich Grenzformalitäten für Geflüchtete auf das Nötigste reduzieren lassen.
Die EU-Länder hätten mit dem einstimmigen Beschluss eine „historische Entscheidung“ getroffen, teilte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson mit: „Die EU steht geeint, um Leben zu retten.“
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) teilte am Abend mit, man werde jetzt schnellstens die praktische Umsetzung in Deutschland regeln. „Darüber bin ich mit den Ländern auch heute im engen Kontakt.“ Man werde sicherstellen, dass für Geflüchtete aus der Ukraine Krankenversicherungsschutz und Zugang zum Arbeitsmarkt bestehe.
„Mit der Aufnahme von geflüchteten Menschen aus der Ukraine im Rahmen eines vereinfachten Verfahrens kann die Europäische Union größtmögliche Solidarität zeigen“, sagt Petra Bendel, Vorsitzende des Sachverständigenrats für Integration und Migration (SVR). Nach Angaben des Uno-Flüchtlingshilfswerks UNHCR haben bislang bereits mehr als eine Million Ukrainer ihre Heimat verlassen.
Nach Angaben der Bundesinnenministeriums wurden in Deutschland bisher gut 5500 Geflüchtete aus der Ukraine registriert. Da es in der EU keine Grenzkontrollen gebe, könnten es aber auch mehr sein. Ukrainer, die über einen biometrischen Pass verfügen, können auch ohne Visum in die Nachbarländer einreisen und von dort in andere EU-Staaten fahren.
Nach der Richtlinie sollen sie in EU-Ländern nun befristeten Schutz für zunächst ein Jahr erhalten. Die Dauer kann laut Faeser auf maximal drei Jahre verlängert werden. Neben dem Anspruch auf Unterbringung, Sozialleistungen oder medizinische Versorgung erhalten Geflüchtete laut EU-Kommission auch Zugang zum Arbeitsmarkt oder zum Bildungssystem.
Für die Anwendung der Richtline, etwa infolge des Syrien-Kriegs, hatte es bisher nie eine Mehrheit unter den EU-Mitgliedstaaten gegeben – auch weil Uneinigkeit über die Verteilung der Flüchtlinge und der Kosten innerhalb der Union bestand. Diese werde durch die Richtlinie auch nicht geregelt, sagt der Konstanzer Asylrechtler und Vizevorsitzender des SVR, Daniel Thym.
„Die in den vergangenen Tagen erkennbare große Solidarität und Aufnahmebereitschaft stimmt uns aber optimistisch, dass jetzt darüber Einigkeit besteht, dass sich alle Länder an der Aufnahme beteiligen“, berichtet Thym. So zeigten sich die ukrainischen Nachbarländer Polen oder Ungarn, die bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus Syrien oder Afghanistan sehr zurückhaltend gewesen waren, sofort bereit, Geflüchtete aus dem Nachbarland aufzunehmen.
Die EU-Kommission will eine neue „Solidaritätsplattform“ einrichten, die über die Aufnahmebereitschaft und -kapazitäten der Mitgliedstaaten informiert. Alle EU-Staaten seien zur Aufnahme von Schutzsuchenden bereit, sagte eine Sprecherin der Bundesregierung. „Europa steht zusammen.“
In Berlin beraten das Innen- und das Arbeitsministerium sowie die Länder noch über die konkrete Umsetzung der Richtlinie. Nach Paragraf 24 des Aufenthaltsgesetzes werden Geflüchtete, denen Deutschland vorübergehenden Schutz gewährt, nach dem Königsteiner Schlüssel auf die Bundesländer verteilt, wo ihnen ein Wohnort zugewiesen wird. Während die EU-Richtlinie laut Thym eindeutig ein Recht auf Arbeitsmarktzugang vorsieht, heißt es im Aufenthaltsgesetz nur, dass Geflüchteten mit vorübergehendem Schutz eine Beschäftigung erlaubt werden kann.
Von der Möglichkeit des Arbeitsmarktzugangs hängt beispielsweise ab, ob Geflüchtete Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten oder nach dem Sozialgesetzbuch II, also der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Aus Regierungskreisen hieß es am Mittwoch, man sei bestrebt, Ukrainern unkompliziert auch Zugang zum Arbeitsmarkt zu gewähren.
Unter Integrationsgesichtspunkten wäre dies sicher die bessere Wahl, sagt der Chef der Bundesagentur für Arbeit (BA), Detlef Scheele, bei der Präsentation der aktuellen Arbeitsmarktdaten am Mittwoch. Vorrangig gehe es momentan aber um die humanitäre Unterbringung der Geflüchteten, vorwiegend Frauen und Kinder.
Es sei „völlig unangemessen“, sich jetzt schon Gedanken darüber zu machen, was die Fluchtbewegung möglicherweise für die Fachkräftesituation in Deutschland bedeuten könne. Nach Daten der BA übten Mitte vergangenen Jahres knapp 54.000 Ukrainer eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung in Deutschland aus, knapp 12.000 einen Minijob.
Wirtschaftsverbände wie der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) haben bereits betont, Geflüchtete bei der Integration in den Arbeitsmarkt zu unterstützen. Auch Asylrechtler Thym sieht eine Chance, dass die Idee eines „Spurwechsels“ – von der Zuwanderung aus humanitären Gründen hinein in den Arbeitsmarkt – im Falle der geflüchteten Ukrainer gut funktionieren könnte.
Nach einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) waren die früher zugezogenen Migrantinnen und Migranten aus der Ukraine mit einem Akademiker-Anteil von rund der Hälfte überdurchschnittlich gut qualifiziert. Zugleich war der Frauenanteil mit rund 57 Prozent außergewöhnlich hoch.
Bisher konzentriert sich die Flüchtlingsbewegung noch auf die direkten Anrainerstaaten der Ukraine und die nähere Umgebung. In Polen waren bis Mittwoch laut UNHCR fast 454.000 Menschen angekommen. Mehr als 116.300 Menschen erreichten demnach Ungarn, mehr als 79.300 das Nicht-EU-Land Moldau und 67.000 die Slowakei. Tschechien zählte nach Regierungsangaben 20.000 Geflüchtete, Rumänien 120.000, von denen die Hälfte in andere westliche Länder weitergereist sei.
Wie die Deutsche Bahn mitteilte, können Flüchtlinge aus der Ukraine ab sofort rund 40 internationale Fernzüge nutzen, um aus Polen, Österreich und Tschechien nach Deutschland zu fahren. Damit sind nun Fahrten über die drei genannten Länder bis Berlin, Dresden, Nürnberg und München ohne Fahrkarte möglich.
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