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07.04.2022

12:15

Ukraine-Krieg

Streit um Flüchtlingskosten: „Die Ministerpräsidenten sind auf 180“

Von: Heike Anger, Daniel Delhaes, Jan Hildebrand, Dietmar Neuerer

Kanzler Olaf Scholz und die Länderchefs beraten heute über eine Kostenteilung bei der Versorgung von Geflüchteten. Die Länder fordern einen Milliardenbetrag, der Bund reagiert reserviert.

Ukraine-Krieg: Flüchtlinge am Berliner Hauptbahnhof dpa

Geflüchtete am Berliner Hauptbahnhof

Die Ministerpräsidenten fordern vom Bund mehr finanzielle Unterstützung bei der Versorgung der Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine.

Berlin Olaf Scholz (SPD) hat den Druck erhöht. Er hoffe, Bund und Länder würden sich „schnell und zügig einigen“ bei den Kosten für die Versorgung der ukrainischen Flüchtlinge, sagte der Bundeskanzler. „Ich wünsche mir, dass wir nicht eine ewig lange Diskussion über finanzielle Fragen zwischen den verschiedenen Ebenen haben.“

Am Donnerstagnachmittag wird der Kanzler mit den Ministerpräsidenten in einer Videoschalte über die Versorgung der Geflüchteten beraten. Kurz vor Beginn der Gespräche lagen die Positionen noch weit auseinander.

Scholz’ Appell kann ein Hinweis an die eigene Koalition und Finanzminister Christian Lindner (FDP) sein, bei der Unterstützung der Länder nicht zu knausern. Mindestens ebenso ist es aber auch eine Ansage an die Regierungschefs der Länder, mit ihren Forderungen nicht zu überziehen. 

In den vergangenen Wochen hat eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe versucht, einen Kompromiss vorzubereiten – allerdings nur mit mäßigem Erfolg. Die Ministerpräsidenten seien „auf 180“, hieß es. Es wurde mit langen Verhandlungen am Donnerstag gerechnet. 

Wie es im Kreise der eingesetzten Bund-Länder-Arbeitsgruppe hieß, liegen die durchschnittlichen Kosten für einen Flüchtling bei 1400 Euro im Monat. Dazu gehören auch die Wohnungskosten, Kosten für Krankenkassen, Schulen und Kitas oder auch psychologische Betreuung der vom Krieg traumatisierten Menschen. Angesichts von in der Verhandlungsrunde unterstellten 300.000 Menschen geht es um eine stattliche Summe, über deren Aufteilung sich Bund und Länder verständigen müssen.

Ministerpräsidentin Giffey: „So kann das nicht laufen“

Die Liste der Länderforderungen ist lang. So fordern sie unter anderem eine Übergangspauschale für die Zeit, in der vor allem die Länder die Kosten tragen. Dafür soll der Bund ihnen eine Summe zwischen 450 Millionen bis zu einer Milliarde Euro überweisen, wie aus einer Beschlussvorlage der Ministerpräsidentenkonferenz hervorgeht, die dem Handelsblatt vorliegt.

Des Weiteren wollen die Länder eine Integrationspauschale. Sie bewegt sich je nach Vorschlag zwischen zwölf und 75 Millionen Euro pro 10.000 Geflüchtete. Für das laufende Jahr soll es eine Abschlagszahlung von bis zu 1,3 Milliarden Euro geben, so der Wunsch einiger Länder. Allerdings stehen die Stellen zu den Pauschalen im Beschlussentwurf noch in Klammern, es besteht also keine Einigkeit. 

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Dabei machen nicht nur unionsregierte Länder Druck auf die Ampelkoalition im Bund. Auch die SPD-Regierungschefs fordern mehr Engagement, allen voran Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD). Die Hauptstadt ist für viele Flüchtlinge der erste Anlaufpunkt. Giffey fordert die vollständige Übernahme der Integrationskosten durch den Bund. Bei den Integrationskosten für Kita und Schule sowie den Kosten der Unterkunft trage der Bund momentan 75 Prozent. „Wir wollen, dass ähnlich wie 2015 die kompletten Kosten vom Bund übernommen werden“, sagte Giffey, die auch stellvertretende Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz ist, dem Handelsblatt.

Die Kosten habe so niemand planen können, argumentiert Giffey. Das seien Auswirkungen von internationalen Konflikten. „Jetzt kann man sich nicht einfach bequem zurücklehnen und sagen: Dann haben die Städte halt Pech. So kann das nicht laufen.“

Das sieht auch die ehemalige Integrationsbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen und heutige Bundestagsabgeordnete Serap Güler (CDU) so. Der Bund entscheide, ob Menschen ins Land kommen dürfen und wie lange sie bleiben, sagte Güler dem Handelsblatt. „Der Bund kann die Rechnung nicht einfach an die Kommunen durchreichen.“ Bund und Länder sollten sich auf eine gerechte Verteilung verständigen, die die Kommunen freihalte.

Allein in Nordrhein-Westfalen sind nach Prognosen der Landesregierung inzwischen 100.000 Ukrainer angekommen, darunter rund 60 Prozent Kinder. Das Land hat kurzfristig 1,6 Milliarden Euro bereitgestellt. Der Bund indes forderte zuletzt, dass die Länder die Kosten in den ersten drei Monaten tragen, danach sei der Bund bereit mitzuzahlen – befristet bis Ende 2022.

Insgesamt dürften sich die Länderforderungen auf bis zu zehn Milliarden Euro summieren, wird in Regierungskreisen geschätzt. In der Ampelkoalition reagiert man reserviert auf die vielen Wünsche. Aus Sicht der Haushälter im Bundestag darf sich die Lastenteilung der Coronapandemie nicht wiederholen: In den vergangenen zwei Jahren hatte der Bund die Länder mit Milliarden unterstützt. Ergebnis: Während der Bund im vergangenen Jahr Rekordschulden machte, schafften viele Länder wieder einen ausgeglichenen Haushalt.

Systemfrage: Asylbewerberleistung oder Grundsicherung?

Mit der Finanzierung verknüpft ist auch die Frage, welche Leistungen Geflüchtete erhalten sollen. Die Länder wollen, dass die Ukraineflüchtlinge künftig nicht mehr nach dem Asylbewerberleistungsgesetz versorgt werden, sondern Grundsicherungsleistungen erhalten.

„Die Erwartung ist, dass die individuelle Leistungserbringung nicht über die Sozialämter und über das Asylbewerberleistungsgesetz läuft, sondern dass die Versorgung über die Jobcenter nach dem Sozialgesetzbuch II abgewickelt wird“, sagte Giffey. „Damit können die Flüchtlinge Deutschkurse und eine bessere Integration in den Arbeitsmarkt bekommen, und die gesundheitliche Versorgung ist sichergestellt.“ Das müsse vom Bund geleistet werden.

Den Wechsel vom Asylbewerberleistungsgesetz zur Grundsicherung werde der Bund wohl mitmachen, so die Erwartung in Länderkreisen. Darauf deutet auch der letzte Beschlussentwurf zur Ministerpräsidentenkonferenz. Ansonsten sei die Bundesregierung aber sehr zurückhaltend, etwa auch bei den Kosten für die Unterkunft. Eine Pauschale lehnt sie bisher ebenfalls ab.

Ein Unterschied besteht bei der Leistungshöhe. Nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten Alleinstehende oder Alleinerziehende 367 Euro im Monat. Die Regelsätze in der Grundsicherung für Arbeitsuchende, umgangssprachlich Hartz IV, nach dem Sozialgesetzbuch liegen höher. Alleinstehende erhalten aktuell 449 Euro. Für Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz waren ursprünglich die Länder, Landkreise und Kommunen zuständig. Angesichts der hohen Flüchtlingszahlen ab dem Jahr 2015 hat der Bund aber die Länder sukzessive entlastet, vor allem durch einen höheren Anteil an den Mehrwertsteuereinnahmen.

Der Regelbedarf in der Grundsicherung für Arbeitsuchende wird vom Bund finanziert, die Kommunen sind für die Kosten von Unterkunft und Heizung zuständig. Der Bund hat aber seine Beteiligung an diesen Kosten seit Einführung der Grundsicherung beständig erhöht, zuletzt im Jahr 2020 auf bis zu 75 Prozent.

Die Geflüchteten aus der Ukraine ins SGB II einzubeziehen hätte den Vorteil, dass die Betreuung „aus einer Hand“ erfolgen könnte. Aktuell ist für die Zahlung von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz in der Regel das Sozialamt zuständig, für die Arbeitsvermittlung die Arbeitsagentur. Nach dem SGB II läge sowohl die Leistungsgewährung als auch die Arbeitsvermittlung dagegen allein beim Jobcenter.

Kommunen kritisieren den Bund-Länder-Poker

Der Landkreistag hat die Debatte über die Flüchtlingskosten zwischen Bund und Ländern kritisiert. „Es sollte nicht so sein, dass in der Kostenfrage gepokert wird“, sagte der Hauptgeschäftsführer des kommunalen Spitzenverbands, Hans-Günter Henneke, dem Handelsblatt. Diesen Eindruck könne man gewinnen, da sich die diskutierten Summen nahezu täglich ändern.

Henneke fordert, dass Bund und Länder die Landkreise und Städte „vollständig von den Flüchtlingskosten freihalten“. „Die Kommunen brauchen auch finanziell eine Perspektive und müssen wissen, was in der Flüchtlingskrise finanziell auf sie zukommt“, sagte er. Henneke erinnerte daran, dass immer die Länder gegenüber den Kommunen auch längerfristige Aufgaben wie Integration und Bildung finanzieren müssten. „Wenn sich der Bund ihnen gegenüber mit einer ordentlichen Summe beteiligt, erleichtert das die ganze Sache natürlich.“

Eine besondere Belastung ergibt sich für Länder und Kommunen auch dadurch, dass unter den Geflüchteten viele Kinder sind. Die Kinder ukrainischer Schutzsuchender haben in Deutschland grundsätzlich Anspruch auf einen Kita-Platz.

Auf Anfrage teilte ein Sprecher des Bundesfamilienministeriums mit: „Es ist absehbar, dass derzeit nicht für alle Kinder genügend Kita-Plätze zur Verfügung stehen werden.“ Bundesweit übersteige der Bedarf an Plätzen immer noch den Ausbaustand. „Daher ist es besonders wichtig, dass die Maßnahmen von Bund, Ländern und Kommunen zum Kita-Ausbau und zur Fachkräftesicherung fortgesetzt werden und nicht nachlassen“, sagte ein Sprecher des Ministeriums. Das spiele auch bei den aktuellen Haushaltsverhandlungen eine wichtige Rolle.
Laut Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) fehlen derzeit ohnehin schon bundesweit 350.000 Kitaplätze und mindestens 240.000 Fachkräfte. Durchschnittlich kostet ein Betreuungsplatz demnach zwischen 600 und 2400 Euro pro Monat.

Offen ist weiter, wie die Flüchtlinge registriert werden, die privat unterkommen und entsprechend drei Monate lang sich frei im Land bewegen dürfen. In Polen zahlt der Staat jedem zehn Euro für jeden Tag, an dem er einen Flüchtling privat aufnimmt. Wie es hieß, haben die Länder den Vorschlag verworfen, da es zu viele rechtliche Fragen gebe, etwa, ob dann die Kommune gewissermaßen Mietverträge mit den privaten Helfern schließen müsse. „Es kann nicht um Klein-Klein gehen“, kritisierte CDU-Politikerin Güler.

Gülers Parteifreund, der Europapolitiker Dennis Radtke fordert Kanzler Olaf Scholz auf, dem Beispiel Polen zu folgen. „Ich möchte von Bundeskanzler Scholz wissen, warum wir die Ehrenamtlichen und die Kommunen allein lassen und es nicht einmal eine geringe Entschädigung gibt“, sagte der stellvertretende Bundesvorsitzende der CDU-Sozialausschüsse (CDA).

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