Immer mehr westliche Politikerinnen und Politiker machen sich vor Ort ein Bild von der Lage in der Ukraine – nur Kanzler Scholz bisher nicht. Das sorgt für Unmut.
Olaf Scholz beim SPD-Wahlkampf in Lübeck
Der Kanzler an Wladimir Putin: „Du zerstörst die Zukunft deines eigenen Landes.“
Bild: IMAGO/Andre Lenthe
Berlin Nach den Reisen von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und mehreren europäischen Regierungschefs nach Kiew wächst der Druck auf Bundeskanzler Olaf Scholz, ebenfalls die Ukraine zu besuchen. Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk sprach von einem „starken Signal“, wenn Scholz nach Kiew reisen würde. Auch die Politiker von CDU und CSU sehen Scholz in der Pflicht.
Er wünsche sich, dass ebenso der Bundeskanzler dem Beispiel westlicher Politiker folgt und sich vor Ort ein Bild macht, sagte der Unions-Obmann im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages, Roderich Kiesewetter (CDU), dem Handelsblatt. „Deutschland sollte seine so wichtige Scharnierfunktion in Europa ausfüllen und bei der Unterstützung der Ukraine, der Bewältigung der Krise und dem erforderlichen Erlassen von Maßnahmen, die hoffentlich zum Kriegsende führen, vorangehen.“
Auch die CSU sieht den Kanzler am Zug. „Es wäre ein wichtiges Signal der Solidarität, wenn auch Olaf Scholz Kiew besuchen und Präsident Selenski treffen würde“, sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der CSU im Bundestag, Stefan Müller, dem Handelsblatt. „Vermutlich würde er dann vor Ort sehen, dass die Ukraine mehr Unterstützung benötigt, als die Bundesregierung bereit ist, zu geben.“
Der CSU-Innenpolitiker Volker Ullrich ergänzte via Twitter: „Mehr denn je wäre es jetzt ein wichtiges Zeichen, dass auch der führende Vertreter der Bundesregierung, also Olaf Scholz, in die Ukraine reisen würde.“
Die FDP-Politikerin Agnes Strack-Zimmermann wies den Unions-Vorstoß zurück. „Ob überhaupt und wenn, ab wann der Bundeskanzler in die Ukraine reist, muss ihm allein überlassen bleiben. Ihn an dieser Stelle aus dem Warmen heraus diesbezüglich zu treiben, finde ich deplatziert“, sagte die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag dem Handelsblatt.
Gleichwohl forderte Strack-Zimmermann zu mehr Führungsstärke in der Ukrainekrise auf. Deutlich wichtiger, als nach Kiew zu reisen, sei, dass der Kanzler „anfangen sollte seine Richtlinienkompetenz zu nutzen und zu führen. Die Sicherheit der Bundesrepublik kann man nicht Zufällen überlassen. Deutschland und Europa warten darauf.“
Melnyk betonte, für den Fall einer Ukrainereise sollte Scholz nicht mit leeren Händen kommen. „Es wäre von zentraler Bedeutung, dass der Besuch vom Kanzler Scholz gleichzeitig von neuen strategischen Entscheidungen der Ampelkoalition begleitet würde.“
Gemeint sind Waffenlieferungen. Melnyk fordert die sofortige Lieferung von Leopard-Kampfpanzern, Marder-Schützenpanzern, Panzerhaubitzen 2000 und Artillerieortungsgeräten vom Typ Cobra aus den Beständen der Bundeswehr. „Das alles wäre laut unserer Analyse für die Bundesrepublik durchaus verkraftbar, ohne die Landesverteidigung oder die Verpflichtungen in der Nato zu schwächen“, sagte er.
Eine stärkere militärische Unterstützung war auch Thema eines Telefonats zwischen dem ukrainischen Präsident Wolodimir Selenski und Scholz. Beide hätten betont, dass alle Schuldigen an Kriegsverbrechen identifiziert und bestraft werden müssten, schrieb Selenski am Sonntag auf Twitter. „Besprochen haben wir auch antirussische Sanktionen, Verteidigungs- und finanzielle Unterstützung für die Ukraine.“
Nach dem Besuch des britischen Premierministers Boris Johnson und des österreichischen Bundeskanzlers Karls Nehammer am Samstag in Kiew hatte Selenski einen größeren Druck des Westens auf Russland verlangt.
Auch in der SPD wird ein Ukrainebesuch von Scholz nicht unbedingt für notwendig gehalten. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich verwies im Interview mit dem Handelsblatt auf die Solidarität, die Deutschland mit der Ukraine zeige. „Das entscheidet sich aber nicht durch Bilder, sondern durch Handeln.“
Scholz selbst nahm am Samstag an einer Wahlkampfveranstaltung der SPD in Lübeck in Schleswig-Holstein statt, wo am 8. Mai ein neuer Landtag gewählt wird. Dem russischen Präsidenten Wladimir Putin warf er in einer Ansprache ein imperialistisches Denken vor, „wie wir es aus dem 19., dem 18., dem 17. und anderen Jahrhunderten kennen“.
Der Kanzler forderte von Putin erneut einen sofortigen Waffenstillstand und den Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine. „Du zerstörst die Zukunft deines eigenen Landes“, sagte Scholz. Die westlichen Sanktionen zeigten „jetzt schon dramatische Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung Russlands“. Man werde der Ukraine zudem helfen, sich selbst zu verteidigen. „Es ist richtig, dass wir sie mit Verteidigungswaffen ausstatten. Wir haben es getan und werden es weiter tun.“
Andere europäische Politiker zeigten ihre Solidarität mit der Ukraine mit Kurzbesuchen in Kiew. Großbritanniens Premier Johnson sagte dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski in Kiew weitere Waffenlieferungen zu. Österreichs Kanzler Nehammer versprach Selenski, dass die EU die Sanktionen gegen Russland noch weiter verschärfen werde.
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Der CDU-Politiker Kiesewetter betonte mit Blick auf Scholz, es sei wichtig, dass ein solcher Besuch „nicht bloß ein Zeichen der Solidarität“ bleibe. „Es geht vor allem darum, die Sicht und Lage der Ukraine zu erfassen und die Brutalität des kriegsverbrecherischen Vorgehens Russlands zu begreifen.“ Russland führe einen Vernichtungskrieg.
Die Dimension, die dieser Krieg für ganz Europa habe, zu erfassen, „sollte dann dazu beitragen, dass Deutschland vorangeht und noch schneller und effektiver die Ukraine mit Waffen unterstützt, effektivere Sanktionen wie ein Embargo unterstützt und der Ukraine eine klare Zukunftsperspektive eröffnet“.
Neben den Gräueltaten von Butscha, wo nach dem Abzug der russischen Soldaten vor einigen Tagen Hunderte Leichen entdeckt worden waren, sorgte auch die Tragödie in Kramatorsk weiter für Entsetzen. Tausende hatten dort auf Züge gewartet, als durch die Explosion einer Rakete nach ukrainischen Angaben mindestens 52 Menschen ums Leben kamen.
Die EU hatte ebenso wie die USA Russland für den Angriff auf den Bahnhof verantwortlich gemacht. Man sei zutiefst schockiert, sagte der außenpolitische Sprecher der EU in einer Mitteilung am Samstag. „Das war ein brutaler, wahlloser Bombenangriff auf unschuldige Zivilisten, darunter viele Kinder, die auf der Flucht waren aus Angst vor einem weiteren russischen Angriff auf ihre Heimat und ihr Land.“ Die Verantwortlichen für dieses Kriegsverbrechen müssten zur Rechenschaft gezogen werden.
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