Grüne Welle für Radfahrer, Lastenradrouten, Platz für Bäume und Wasserspeicher in der Stadt: Verkehrsplaner wollen den Straßenraum neu verteilen.
Fahrradstraße in Berlin
Bislang hatte das Auto in der Verkehrsplanung Vorfahrt. Das ändert sich gerade.
Bild: dpa
Berlin Das Programm für den Straßen- und Verkehrskongress könnte kaum politischer sein: Wenn sich Anfang Oktober in Dortmund vor allem Bauingenieure aus der Industrie, Verkehrsplaner aus der Wissenschaft und obendrein die Fachleute aus den Verwaltungen von Bund, Ländern und Kommunen treffen, dann geht es nicht etwa um neue Kiesmischungen für Beton und andere technische Fragen – so wie oft in der Vergangenheit. Es geht darum, den Platz für das Auto zu verringern – zugunsten von Fußgängern, Radfahrern, Bussen und Bahnen.
Die Mitglieder der einladenden Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen reden über „Verkehrsplanung auf dem Weg zur klimaneutralen Mobilität“. Sie eröffnen sogar ein Klimaforum. „Wir schaffen Grundlagen für den Verkehr von morgen“, sagt jene Gesellschaft von sich.
In der Tat: Die Experten legen unbeobachtet von der Öffentlichkeit seit Jahrzehnten die Spielregeln auf den Straßen fest und teilen den Platz zwischen Autos (immer mehr), Radfahrern (zwei Meter für beide Fahrtrichtungen) und Fußgängern (180 Zentimeter) auf, entscheiden, wie lange eine Ampel grün leuchten soll, und mahnen, sie möglichst auch nachts einzuschalten.
Und nun, nach fast 100 Jahren, ist bei der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) erstmals nicht mehr das Auto das Maß aller Dinge. In dem privatwirtschaftlich organisierten Klub könnte in Dortmund der Startschuss fallen, damit die Kommunen den öffentlichen Raum für die Menschen „zurückerobern“, wie etwa der Deutsche Städtetag fordert. Kritiker der FGSV dürften sich wundern.
„Höher, schneller, weiter“ und „Vorfahrt für das Auto“ habe bisher das Motto gelautet, erklärt Professor Oliver Schwedes von der Technischen Universität Berlin. Wurden Autos größer, dann mussten auch Straßen und Parkplätze breiter werden.
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Schließlich war die FGSV 1924 gegründet worden, um geeignete Fahrwege fürs Automobil zu entwickeln. „Der Verein kommt aus einer anderen Zeit“, kritisiert Verkehrsplaner Schwedes. Er fordert parlamentarische Kontrolle, weil sich die Mobilität in einer Transformation befinde und Dinge neu gedacht würden.
Die FGSV setzt Standards und Normen. Bei der Stadt Köln hieß es auf Nachfrage, die Stadt wende „selbstverständlich“ das technische Regelwerk an. In Leipzig erklärte die Sprecherin, die Stadt weiche nur „in begründeten Ausnahmefällen“ ab. Und der Stadtstaat Berlin findet sich vor Gericht wieder, weil die in der Coronazeit auf die Straßen gemalten sogenannten Pop-up-Radspuren in Tempo-30-Zonen den „Empfehlungen für Radverkehrsanlagen“ widersprechen.
Die technischen Regelwerke erhalten ein einleitendes „grünes Blatt“ des Bundesverkehrsministeriums. Es wirkt wie grünes Licht: Die Regeln sind dann auf Autobahnen und Bundesstraßen verbindlich, für Landes- und Kommunalstraßen empfiehlt der Bundesminister den Ländern eindringlich, sich auch dort an die Vorgaben zu halten.
Nun aber reagiert die FGSV – auf Kritik und auch auf die per Gesetz festgelegten Klimaziele. „Es muss etwas passieren, und es passiert auch was“, sagt Professor Jürgen Gerlach, Professor für Verkehrsplanung der Universität Wuppertal.
Der Bauingenieur und Verkehrsplaner leitet nicht nur die FGSV-Arbeitsgruppe zur Verkehrsplanung, in der die politisch brisanten Fragen verhandelt werden. Seit Anfang des Jahres steht er auch einer Ad-hoc-Gruppe vor. Sie sollte herausfinden, wie sich die bestehenden Regelwerke schnell ändern lassen, um vor Ort auf den Straßen mehr für den Klimaschutz tun zu können.
Das Ergebnis klingt wie eine kleine Revolution. Die Gruppe hat alle Regelwerke in drei Kategorien eingeteilt. Erstens: jene, die weiterhin gut und richtig sind. Dazu gehört die Empfehlung, Verkehr regional und überregional zu planen. Schließlich entstehen die meisten Emissionen bei Fahrten von mehr als 20 Kilometern. „Weniger Fahrten, kürzere Strecken, mehr öffentlicher und Schienenverkehr“ laute das Gebot der Stunde, sagt Gerlach.
Die zweite Kategorie umfasst Regeln, die „ergänzende Hinweise“ erhalten sollen. Da geht es etwa um das „Handbuch zur Bemessung von Straßenverkehrsanlagen“. In ihm ist festgelegt, welche Qualitätsstandards Ampeln, Vorfahrtzeichen oder eine Autobahnabfahrt haben müssen.
Diese anzupassen dauerte bislang immer viele Jahre. Nun soll kurzfristig Neues gelten, etwa will die FGSV Grünphasen für Radfahrer und Fußgänger verlängern und grüne Wellen für Radfahrer einführen. „Das ist ein Paradigmenwechsel“, sagt Gerlach.
Die dritte Kategorie umfasst Regeln, die überarbeitet werden müssen. Da geht es etwa um den umstrittenen Parkraum in der Stadt. Muss er mit den immer größeren Autos wachsen? Andere Kriterien rücken in den Fokus: Es geht um mehr Grün, um mehr Bäume als Temperaturregler in der Stadt, um Wasserspeicher in Zeiten von Dürre und Starkregen.
Weil die Zeit drängt, will die Forschungsgesellschaft zunächst „Korrekturblätter“ veröffentlichen. Dies ermöglicht Änderungen, später soll das klimagerechte Regelwerk folgen. „Wir müssen den Straßenraum umbauen, nicht in 30 Jahren, sondern jetzt“, mahnt Gerlach. Autofahrer müssten im Zweifel vom Parkplatz bis ans Ziel „auch mal zehn Minuten laufen“.
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Es geht auch um eine Grundsatzfrage: Warum fährt das Rad immer rechts und das Auto in der Mitte? Warum nicht sicher in der Mitte wie im spanischen Barcelona auf Radschnellwegen?
Über innerstädtische Lastenradrouten diskutieren die Experten auch und damit über mehr Platz, den etwa der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club seit Langem einfordert. Mit den bisher festgelegten zwei Meter breiten Radwegen komme man „nicht weiter“, räumt Gerlach ein.
Nach dem Kongress will die FGSV Teile der Klimadebatten online veröffentlichen – und dann mit Interessengruppen diskutieren. „Wir wollen in den Dialog treten“, versichert Gerlach. Zugleich stellte er klar, die FGSV stelle nur die Instrumente bereit. „Entscheiden müssen Politik und Gesellschaft.“
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