Der russische Angriffskrieg könnte den Plan der Ampel zunichte machen: Ministerpräsidenten aus den neuen Ländern stellen den Ausstieg 2030 infrage.
Berlin Angesichts wachsender Zweifel an der Zuverlässigkeit russischer Gaslieferungen bekommen Kohlekraftwerke einen neuen Stellenwert. Die Ministerpräsidenten der ostdeutschen Länder mit Braunkohlerevieren machen sich dafür stark, den Zeitplan für den Kohleausstieg zu überdenken. Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) sagte dem RBB vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs, man müsse sich Gedanken machen, „ob die Zeitschiene für den Kohleausstieg 2030 real ist“.
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) sagte der „Sächsischen Zeitung“, die Ausstiegsbeschlüsse zu Kohle oder Atomkraft müssten neu diskutiert werden. Man müsse „die Scheuklappen beiseitelassen, was Braunkohle und was Atom angeht“, so Kretschmer.
Noch deutlicher wird Reiner Haseloff (CDU). Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt sagte der „Welt“ mit Blick auf die Zielsetzung von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und der Ampelkoalition, schon 2030 völlig aus der Kohleverstromung auszusteigen: „Unter den gegebenen Bedingungen wird es nun wohl zur Makulatur.“ In der aktuellen Lage deutsche Kohlekraftwerke schnell abschalten zu wollen, halte er für unverantwortlich.
Auch in NRW wachsen die Zweifel. NRW-Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart (FDP) hatte dem Handelsblatt kürzlich gesagt, der doppelte Ausstieg aus Kohle und Kernkraft habe Deutschland „ein Klumpenrisiko beschert, aus dem wir uns herausarbeiten müssen“. Auf der Suche nach Alternativen gelte es, alle Optionen zu prüfen. Allerdings setzt NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst den Überlegungen Grenzen. Er hält einen Kohleausstieg 2030 trotz der Unsicherheiten durch den Ukrainekrieg nach wie vor für möglich, hatte er am Dienstag gesagt.
Wüst und Pinkwart weisen damit den Weg zu einem Kompromiss: Man könnte versuchen, am Ausstiegsdatum 2030 festzuhalten, in den nächsten drei bis fünf Jahren aber die Abschaltung von Kohlekraftwerken verlangsamen. Danach könnte sie wieder Fahrt aufnehmen.
Fachleute gehen davon aus, dass es bis zu fünf Jahre dauern kann, ehe der künftige Gasbezug diversifiziert und gesichert ist. Damit würden die Kohlekraftwerke dann wieder an Bedeutung verlieren. Die Ampelkoalition im Bund hat sich in ihrem Koalitionsvertrag darauf verständigt, „idealerweise“ bereits 2030 aus der Kohleverstromung auszusteigen. Laut Kohleausstiegsgesetz soll der Ausstieg erst 2038 vollzogen sein.
Robert Habeck hat sich für eine pragmatische Herangehensweise zur Bewältigung der aktuellen Engpasssituation in der Energieversorgung ausgesprochen. Er schließe nicht aus, dass Kohlekraftwerke länger laufen müssen, um das Land energiepolitisch unabhängiger von Russland zu machen. „Da muss der Pragmatismus jede politische Festlegung schlagen, die Versorgungssicherheit muss gewährleistet sein“, hatte er am Mittwoch gesagt. Im Zweifel sei die Versorgungssicherheit wichtiger als Klimaschutz.
Die Branche sieht das ebenso. Angesichts der Lage stünden „Krisenbewältigung und Energie-Versorgungssicherheit im Mittelpunkt“, sagte Kerstin Andreae, Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW).
„Wir müssen alle Optionen prüfen, um unabhängig von Gas- und Kohlelieferungen aus Russland zu werden. Das schließt auch die Option ein, zur Sicherung der Versorgung eventuell Kohlekraftwerke aus der Sicherheitsbereitschaft zu aktivieren“, sagte sie. Bei der Sicherheitsbereitschaft handelt es sich um stillgelegte Braunkohlekraftwerke, auf die Stromnetzbetreiber unter bestimmten Bedingungen zurückgreifen können.
Andreae ergänzte, die derzeitige Lage könne dazu führen, „dass wir auf dem Weg der CO2-Minderung mal einen Schritt zur Seite gehen müssen“. Das Ziel der Klimaneutralität habe man dennoch weiterhin klar vor Augen. Kraftwerksbetreiber orientieren sich bereits um.
So erwägt der Essener Chemiekonzern Evonik sein firmeneigenes Kohlekraftwerk im Chemiepark Marl länger als geplant in Betrieb zu lassen. Auch RWE hatte die Bereitschaft angedeutet, Kohlekraftwerke länger laufen zu lassen.
>>Lesen Sie hier auch: Wegen drohender Gasknappheit: Evonik will eigenes Kohlekraftwerk länger laufen lassen.
Allerdings regt sich auch innerhalb der Landesregierungen der Kohle-Länder Kritik an Plänen, Kohlekraftwerke länger laufen zu lassen oder gar den Kohleausstieg insgesamt infrage zu stellen. Sachsens Vizeministerpräsident Martin Dulig (SPD) kritisierte die Diskussion als „Phantomdebatte“.
Sachsens grüner Vizeministerpräsident und Energieminister Wolfram Günther lehnte eine Laufzeitverlängerung für Braunkohlekraftwerke ab. „Die Lösung liegt im beschleunigten Ausbau der Erneuerbaren“, sagte Günther dem Handelsblatt.
So sehen es auch die Grünen in Brandenburg. „Wir streben ganz klar einen Kohleausstieg bis 2030 an und sehen uns durch den Krieg in der Ukraine in der Wichtigkeit des Ausbaus der Erneuerbaren bestärkt“, sagte Clemens Rostock, energiepolitischer Sprecher der Grünen-Landtagsfraktion, dem Handelsblatt. Habecks Pragmatismus wird längst nicht von allen Grünen geteilt.
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