Die Ungleichheit in Deutschland hat sich verringert, weil die Mittelschichtseinkommen steigen. Doch die Coronakrise ändert das, zeigt der WSI-Verteilungsbericht.
Einfamilienhäuser am Rande Leipzigs
Seit 2016 ist die Einkommensungleichheit in Deutschland leicht zurückgegangen.
Bild: dpa
Berlin Die Einkommen der Mittelschicht in Deutschland haben sich in den Jahren vor der Coronakrise positiv entwickelt, sodass die Einkommensungleichheit zurückgegangen ist. Während der Pandemie kam es aber zu Einbußen. Dies zeigt der jährliche Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung.
„In den 2000er-Jahren waren Abstieg und Schrumpfung der Mittelschicht ein häufiges Thema, auch in wissenschaftlichen Analysen“, kommentierte die Wissenschaftliche Direktorin des WSI, Bettina Kohlrausch, die Ergebnisse. „In den späteren 2010er-Jahren hat sich ihre Situation entspannt.“
So haben die Nettohaushaltseinkommen der Mittelschicht zwischen 2010 und 2018 real um sieben Prozent zugelegt. Beim untersten Zehntel der Einkommensbezieher sind die Haushaltseinkommen dagegen zwischenzeitlich gesunken und lagen 2018 erst wieder auf dem Niveau des Jahres 2010. Die Einkommen der oberen zehn Prozent sind noch leicht stärker gestiegen als die der Mittelschicht.
Trotzdem ist die Ungleichheit, gemessen am Gini-Koeffizienten, seit 2016 leicht zurückgegangen. Dieser nimmt für 2018 den Wert 0,29 an. Erreicht er null, bekommt jeder Arbeitnehmer den gleichen Betrag, beim Wert eins erhält eine Person das gesamte Einkommen.
Die WSI-Forscher Aline Zucco und Anil Özerdogan haben für den Verteilungsbericht Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) ausgewertet, einer repräsentativen jährlichen Wiederholungsbefragung in rund 16.000 Haushalten. Daten zum Einkommen liegen bis 2018 vor. Zur Mittelschicht werden dabei Erwerbspersonen gezählt, deren Haushaltsäquivalenzeinkommen netto zwischen 70 und 150 Prozent des Medianeinkommens in Deutschland und damit zwischen 16.000 und 35.000 Euro im Jahr liegt.
Die Angst vor dem Jobverlust ist in dieser Gruppe deutlich zurückgegangen. Machten sich 2010 noch 54 Prozent der im Rahmen des SOEP Befragten Sorgen, ihre Arbeit zu verlieren, so waren es 2019 nur noch 30 Prozent. Zwar sind auch die Sorgen um die eigene finanzielle Situation geringer geworden. Doch wurden sie zuletzt noch von 56 Prozent der Befragten geteilt. „Die Tatsache, dass sich die Angst vor Arbeitslosigkeit und finanzielle Unsicherheit erheblich entkoppelt haben, zeigt, dass Erwerbsarbeit auch für Angehörige der Mittelschicht keine langfristige Garantie für soziale Sicherheit darstellt“, betonte die WSI-Direktorin.
Vor allem Befürchtungen, dass das Geld im Alter nicht reichen könnte, sind weit bis in die Mittelschicht hinein verbreitet. 63 Prozent der Befragten machten sich im Jahr 2019 Sorgen um die Altersvorsorge, immerhin aber neun Prozentpunkte weniger als zu Beginn des Jahrzehnts.
Da die SOEP-Daten die Pandemiejahre nicht abdecken, hat das WSI zusätzlich die Erwerbspersonenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung herangezogen. An der letzten Welle von Ende Juni bis Mitte Juli 2021 nahmen rund 5000 Personen teil. Als Mittelschicht werden hier Erwerbspersonen eingestuft, die ein bedarfsgewichtetes monatliches Haushaltsnettoeinkommen zwischen 1500 und 3500 Euro haben.
Rund die Hälfte davon hat durch die Coronapandemie Einkommenseinbußen erfahren. In der unteren Mittelschicht mit 1500 bis 2000 Euro Haushaltseinkommen liegt der Anteil mit 54 Prozent aber höher als in den darüber liegenden Einkommensgruppen.
Zumindest für diesen Teil der Mittelschicht könnte sich die zuvor relativ gute Entwicklung in den Coronajahren 2020 und 2021 umgekehrt haben – mit dem möglichen Resultat wieder zunehmender sozialer Ungleichheit, folgert das WSI. Den größten Anteil an Erwerbspersonen, die Einbußen durch Corona hinnehmen mussten, gibt es mit gut 62 Prozent aber bei den Geringverdiener-Haushalten mit Äquivalenzeinkommen bis 1500 Euro.
Um die finanzielle Situation der Mittelschicht abzusichern, stellt das WSI konkrete Forderungen an die Politik: Nötig sei eine aktive Industriepolitik zur Stärkung des verarbeitenden Gewerbes, sagte Kohlrausch: „Denn hier entstehen die Arbeitsplätze, in denen die guten Löhne gezahlt werden.“
Auch müsse der klimaverträgliche Umbau der Wirtschaft durch Investitionen so gestaltet werden, dass eine tragfähige Beschäftigungsbasis in Deutschland langfristig erhalten bleibe.
Zudem trage ein Ausbau der Mitbestimmung und der Tarifbindung zu sicheren Jobs und höheren Löhnen bei.
Auf jeden Fall sollte die künftige Bundesregierung der Versuchung widerstehen, Anreize für geringfügige Beschäftigung noch weiter auszubauen, mahnt das gewerkschaftsnahe Institut. Denn sozial nicht abgesicherte Minijobber zählten zu den Hauptleidtragenden der Coronakrise.
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