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01.09.2022

04:00

Zugverspätungen

Beschwerden über die Bahn nehmen drastisch zu – Politiker fordern Konsequenzen

Von: Dietmar Neuerer

Ökonom Hüther wirft der Bahn vor, „so unzuverlässig wie nie“ zu sein. Aktuelle Zahlen zu Beschwerden über Zugverspätungen geben ihm recht. Das ruft die Politik auf den Plan.

Hauptbahnhof Stuttgart IMAGO/Arnulf Hettrich

Stillstand am Hauptbahnhof Stuttgart im Juli dieses Jahres

Nicht nur die vielen Baustellen, auch Störungen in dem veralteten Bahnnetz sorgen immer wieder für große Verspätungen und Zugausfälle.

Berlin Die Beschwerden über die Bahn bei der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr (SÖP) haben sprunghaft zugenommen. Im ersten Halbjahr 2022 gingen 2.500 Schlichtungsanträge von Reisenden ein.

Das waren etwa 50 Prozent mehr als im entsprechenden Vorjahreszeitraum (1653 Anträge), teilte die Einrichtung auf Anfrage des Handelsblatts mit. Die meisten Beschwerden betreffen Zugverspätungen und Zugausfälle.

Dass Reisepläne mit der Bahn von großer Unsicherheit geprägt sein können, räumte jetzt auch Bahn-Chef Richard Lutz im Gespräch mit dem Handelsblatt ein. „Die Qualität und Zuverlässigkeit der Bahn sind zurzeit nicht akzeptabel“, sagte er. „Deshalb haben wir reagiert und bieten zum Beispiel in der Reisekette zu knappe Umsteigezeiten gar nicht mehr an.“

Die Pünktlichkeit verharrte indes zuletzt noch auf besonders niedrigem Niveau. Laut Bahn waren im Juli zum zweiten Mal in Folge weniger als 60 Prozent der Fernzüge pünktlich unterwegs. Lediglich 59,9 Prozent der Fahrten kamen demnach zur vorgesehenen Zeit ans Ziel.

Als Konsequenz fordern Politiker der Ampelkoalition, Reisende künftig automatisch zu entschädigen. SPD-Fraktionsvize Detlef Müller sagte dem Handelsblatt: „Eine formularfreie, unbürokratische und damit möglichst schnelle Rückerstattung ist zur Stärkung der Fahrgastrechte sinnvoll.“

IW-Chef Hüther: „Ich bin vor allem genervt von seit Wochen ausfallenden Zügen“

Auch der Grünen-Verkehrsexperte Stefan Gelbhaar hält es für geboten, das „Rückerstattungsmanagement“ im Bahnverkehr zu automatisieren. „Kundinnen und Kunden sollen ohne bürokratische und abschreckende Vorgaben ihr Ticket erstattet beziehungsweise eine Entschädigung bekommen“, sagte er dem Handelsblatt. Das schaffe „finanziellen Druck in Sachen Verlässlichkeit und Pünktlichkeit“.

Der Verbraucherzentrale-Bundesverband (VZBV) sieht ebenfalls Handlungsbedarf, weil die Bahn bei der Digitalisierung „chronisch“ hinterherhinke. „Zwar lässt sich seit einiger Zeit ein Entschädigungsantrag online stellen, aber wer kein Kundenkonto hat oder haben will, muss das Fahrgastrechte-Formular per Post schicken und lange auf eine Antwort warten“, sagte die VZBV-Mobilitätsexpertin Marion Jungbluth dem Handelsblatt. Bahnreisen dürfe sich aber „nicht weiter wie eine Fahrt mit der Zeitmaschine in die Vergangenheit anfühlen, sondern muss in Zukunft digital, einfach, zuverlässig und fair werden“.

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Die Bahn erklärt die Probleme bei der Pünktlichkeit der Züge mit einer „weiterhin intensiven Bautätigkeit“ im gesamten Netz sowie der „sehr hohen Auslastung der Züge und der zentralen Schienenwege“.

Der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther, attestierte der Bahn jüngst auf Twitter, „so unzuverlässig wie nie“ zu sein, und nannte den Konzern einen Sanierungsfall. Hüther dokumentiert in dem Kurznachrichtendienst regelmäßig seine Bahnerfahrungen. „Ich bin vor allem genervt von seit Wochen ausfallenden Zügen“, erklärte er am Montag.

Kritisch äußerte sich zuletzt auch der Wirtschaftsweise Achim Truger. Am 25. August schrieb der Ökonom auf Twitter: „Zum ersten Mal seit circa 5 Wochen wieder im ICE ... Und der Ärger geht nahtlos weiter: Mein ganzer Wagen 23 ist gesperrt, weil dort eine Temperatur von 37,6 Grad herrscht ...“ Seine Konsequenz daraus: „Ich twittere erst wieder zur DB, wenn's mal wieder halbwegs läuft ...“

Verkehrsminister Wissing will „in Zukunft wieder die Uhr nach der Bahn stellen können“

Das dürfte nicht so schnell der Fall sein. Hüther erklärt dazu: „Das Problem ist: Nach langer Fehlsteuerung und Unterfinanzierung gibt es keine schnelle Lösung.“ Den Vorstand der Bahn forderte er auf, wenigstens eine „Gesamtanalyse des Problems“ zu leisten. Denn: „Selbst da wird nur Stückwerk geboten.“

Bahn-Chef Lutz versichert indes, 2023 werde es besser. „Im Moment rollt alles, was wir haben.“ Noch nie seien so viele Züge in Deutschland unterwegs gewesen. Zudem baue man so viel wie nie. „Unsere Infrastruktur ist maximal belastet“, erläuterte Lutz. „Und dennoch: Die Pünktlichkeit muss und wird im nächsten Jahr deutlich besser werden.“ Man wolle vor allem die extremen Ausreißer bei der Unpünktlichkeit in den Griff bekommen.

Der CSU-Verbraucherpolitiker Ullrich schlägt vor, den Druck auf die Bahn zu erhöhen und den Anspruch auf eine Entschädigung weiter zu fassen. Konkret sollte die Bahn aus seiner Sicht bei Zugverspätungen viel öfter Geld zurückzahlen. Es sei zu überlegen, „ob nicht bereits bei 30-minütiger Verspätung eine Entschädigung angebracht ist“, sagte der Abgeordnete.

Auch die Verbraucherschützerin Jungbluth fordert das. „Die Bundesregierung hat die Möglichkeit, diesen Hebel mit der anstehenden nationalen Umsetzung der Fahrgastrechte-Verordnung einzuführen“, sagte sie.

Bisher gibt es ab einer Stunde Verspätung ein Viertel des Fahrpreises zurück. Ab zwei Stunden ist es die Hälfte des Fahrpreises. Fahrgäste können das per Papierformular, über die Bahn-Website oder die App DB Navigator beantragen.

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Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) setzt derweil darauf, mit einer Generalsanierung des belasteten Schienennetzes für mehr Pünktlichkeit bei der Bahn zu sorgen. Bei der Präsentation der Pläne im Juni sagte er: „Ich erwarte, dass wir in Zukunft wieder die Uhr nach der Bahn stellen können.“

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