Russland könnte seine Gaslieferungen komplett einstellen. Die deutsche Wirtschaft würde das hart treffen – auch Branchen die nicht im Zentrum der Debatte stehen.
Berlin Aktuell läuft 60 Prozent weniger Gas aus Russland über die Ostseepipeline Nord Stream 1 nach Deutschland. Kommt es zu einem kompletten Stopp würde das nicht nur die Chemie- und Stahlindustrie hart treffen. Wie aus einer dem Handelsblatt vorliegenden Studie des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) und der Marktforscher von Calculus Consult hervorgeht, müssten noch viel mehr Branchen wirtschaftliche Einbußen hinnehmen. Dazu gehören Industrien, die Getränke, Textilien oder Druckerzeugnisse produzieren.
Die Berechnungen der Ökonomen zeigen erstens, wie groß der Gasanteil am gesamten Energieverbrauch ist. Konkret: Wie viel Gas aus Russland und den umliegenden Ländern setzen die Unternehmen einer Branche ein. Zweitens zeigen die für die Stiftung Familienunternehmen erstellten Berechnungen, wie viel Wertschöpfung durch das fehlende Gas wegfallen könnte.
Mitarbeiter in einem Stahlwerk
Die Stahlindustrie steht bereits stark im Fokus der Debatte über die Auswirkungen eines Gas-Lieferstopps.
Bild: dpa
Rund ein Viertel der in der Getränkeindustrie eingesetzten Energie ist Gas aus Russland beziehungsweise dem russischen Umland. Wenn es um die Frage geht, wieviel russisches Gas die Branche braucht, um Waren im Wert von 1000 Euro kommen 72 Kilowattstunden heraus. Das liegt im Mittelfeld. An der Spitze liegt die Metallindustrie, am Ende die Elektronikbranche.
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Holger Eichele, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Brauer-Bundes, ist alarmiert. „Ein Lieferstopp hätte dramatische Auswirkungen für die gesamte Getränkeindustrie – auch indirekt“, warnt er. Denn nicht nur Getränkehersteller seien etwa mit Braukesseln und sonstigen energieintensiven Abläufen in der Produktion in hohem Maße von Importgas abhängig. Es beginne schon bei Vorlieferanten, etwa Mälzereien oder den Produzenten für Glas, Dosen, Kartonagen und anderen Verpackungen. Russischer Gasanteil am Energieverbrauch: 24,3 Prozent / Russischer Gasanteil bei Produktion von 1000 Euro Warenwert: 72 Kilowattstunden
Die Tabak-Industrie benötigt vor allem Prozesswärme aus Gas. Bei der Verarbeitung von Tabak wird Dampf insbesondere für die Lagerung bei passender Luft und Trocknung gebraucht. Allerdings gilt Gas in diesem Fall als vergleichsweise leicht ersetzbar durch andere Brennstoffe wie Öl. Russischer Gasanteil am Energieverbrauch: 24 Prozent / Russischer Gasanteil bei Produktion von 1000 Euro Warenwert: 7 Kilowattstunden
Von einem Gas-Lieferstopp wäre nicht nur klassische Kleidung betroffen, sondern auch Güter wie Airbags, Feuerwehrschläuche oder Arbeitsschuhe. Damit diese Funktionsgewebe etwa feuerabweisend oder wasserundurchlässig sind, werden unterschiedliche Chemikalien aufgetragen, die wiederum trocknen müssen. Dafür werden laut Textilverband große Mengen Gas benötigt. Russischer Gasanteil am Energieverbrauch: 21,5 Prozent / Russischer Gasanteil bei Produktion von 1000 Euro Warenwert: 79 Kilowattstunden
Auch bei der Erstellung und Vervielfältigung zum Beispiel von Printmedien geht es vor allem um für die Herstellung nötige Prozesswärme. Der Sektor ist in der Debatte aber deshalb nicht so sehr in den Vordergrund getreten, weil sich die Produkte zum Teil auch aus dem Auslandbeschaffen lassen. Russischer Gasanteil am Energieverbrauch: 19,8 Prozent / Russischer Gasanteil bei Produktion von 1000 Euro Warenwert: 63 Kilowattstunden
Ein Stopp der Lieferung von Gas an die Pharmaindustrie in Deutschland könne die Produktion lebenswichtiger Medikamente gefährden, warnen Branchenvertreter. Sowohl Dax-Unternehmen wie auch Mittelständler aus der Branche sind zum Teil in erheblichem Umfang auf den Energieträger angewiesen, sowohl in der eigenen Herstellung als auch mit Blick auf chemische Vorprodukte. Russischer Gasanteil am Energieverbrauch: 18,7 Prozent / Russischer Gasanteil bei Produktion von 1000 Euro Warenwert: 20 Kilowattstunden
Impfstoff-Herstellung
Auch die Pharmaindustrie ist zu einem großen Teil auf Gaslieferungen aus Russland und den umliegenden Ländern angewiesen.
Bild: dpa
Zu diesem Sektor gehören alle Fahrzeuge, die keine Autos sind: Boote, Züge und so weiter. Ob der Schaumstoff in den Sitzen, Batterien oder Katalysatoren – Etliches ist von Chemikalien abhängig, die auf Gas basieren. Russischer Gasanteil am Energieverbrauch: 18,6 Prozent / Russischer Gasanteil bei Produktion von 1000 Euro Warenwert: 11 Kilowattstunden
Kaum eine andere Branche braucht so viel Gas wie die Chemieindustrie. Gas ist in doppelter Hinsicht wichtig: Für die mehr als 2000 Chemie-Unternehmen in Deutschland ist es der wichtigste Energieträger, aber auch Rohstoff für viele Produkte, zum Beispiel für die Basischemikalie Ammoniak.
>>Lesen Sie hier: Frühwarnstufe ausgerufen: Diese Industrien würde ein Gas-Lieferstopp am härtesten treffen
Die 2,5 Millionen Tonnen Ammoniak, die mithilfe von Gas und Wasserstoff jedes Jahr hergestellt werden, sind Ausgangsstoff für Düngemittel oder die bereits erwähnten medizinischen Produkte. Russischer Gasanteil am Energieverbrauch: 17,3 Prozent / Russischer Gasanteil bei Produktion von 1000 Euro Warenwert: 322 Kilowattstunden
Die Herstellung von Metallerzeugnissen ist eine wichtige Zulieferindustrie für weitere Branchen des produzierenden Gewerbes. Zu den Abnehmern gehören neben anderen Betrieben aus dem eigenen Wirtschaftszweig vor allem der Kraftfahrzeug- und Maschinenbau sowie das Baugewerbe.
Für viele metallverarbeitende Betriebe käme ein Gaslieferstopp einem Produktionsstopp gleich. Der Energieträger wird in vielen Prozessen für die Öfen benötigt, ohne die sich bestimmte Werkstoffe nicht bearbeiten lassen. Russischer Gasanteil am Energieverbrauch: 16,9 Prozent / Russischer Gasanteil bei Produktion von 1000 Euro Warenwert: 34 Kilowattstunden
Ein möglicher Lieferstopp für russisches Erdgas wegen des Ukrainekriegs könnte nach Branchenangaben die Papierherstellung erheblich beeinträchtigen. „Ein Gasembargo würde für die Papierindustrie praktisch einen flächendeckenden Produktionsstopp bedeuten“, sagt Alexander von Reibnitz, Hauptgeschäftsführer des Branchenverbands „Die Papierindustrie“.
Ein Produktionsstopp würde etwa Lebensmittel- und Medikamentenverpackungen betreffen, aber auch Hygienepapiere für Medizin, Pflege und für zu Hause, Spezialpapiere wie Filter und Messstreifen sowie Druckpapier für Zeitungen, Zeitschriften, Kataloge oder Prospekte. Russischer Gasanteil am Energieverbrauch: 16,1 Prozent / Russischer Gasanteil bei Produktion von 1000 Euro Warenwert: 271 Kilowattstunden
Auch für die Stahlkocher und Eisenindustrie würde ein Gas-Lieferstopp wohl weiträumige Produktionsunterbrechungen bedeuten. Davon betroffen wären auch alle anderen Branchen, die Stahl benötigen – zum Beispiel die Automobilbranche. Russischer Gasanteil am Energieverbrauch: 14,9 Prozent / Russischer Gasanteil bei Produktion von 1000 Euro Warenwert: 344 Kilowattstunden
Erstpublikation: 28.06.22, 11:16 Uhr.
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Kommentare (7)
Account gelöscht!
28.06.2022, 12:28 Uhr
Momentan droht Russland NICHT damit, das Gas komplett abzudrehen, lieber Autor des Artikels. Man sollte allerdings als Westen, insbesondere als deutsches Industrieland, nicht mit Steinen werfen, wenn man selbst im Glashaus sitzen. Diese Weisheit ist älter als alle Politiker zusammen, die derzeit an den Hebeln sitzen und nur Mist bauen.
Wie ist der Stand der Waffenstillstandsverhandlungen zwischen Moskau und Kiew, unter Einbeziehung der EU, oder zumindest der europäischen G7 Staaten ? Irgendein Versuch der Annäherung ? Vermutlich Fehlanzeige.