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02.09.2021

18:49

Afghanistan-Krise

Eine schnelle Eingreiftruppe für die EU? Frankreich drängelt, Deutschland zögert

Von: Eva Fischer, Moritz Koch, Gregor Waschinski

Frankreich nutzt den Vertrauensbruch der USA in Afghanistan, um das Konzept der strategischen Autonomie Europas voranzutreiben. Doch Deutschland reagiert zurückhaltend.

Der Alleingang der Amerikaner in Afghanistan zwingt Europa, seine strategischen Positionen in der Welt zu überdenken. action press

Evakuierung von Flüchtlingen auf dem Kabuler Flughafen

Der Alleingang der Amerikaner in Afghanistan zwingt Europa, seine strategischen Positionen in der Welt zu überdenken.

Brüssel, Paris Für die Europäer war Abzug aus Afghanistan eine Demütigung. Die Amerikaner beschlossen, das Land zu verlassen – und den verbündeten Europäern blieb nichts anderes übrig, als es ihnen gleichzutun.

Noch nicht einmal die Luftbrücke konnten sie länger aufrechterhalten als die Amerikaner bereit waren, den Kabuler Flughafen zu sichern. Besonders bitter: Die Amerikaner hatten es nicht einmal für nötig erachtet, ihren Rückzug mit den Bündnispartnern abzusprechen.

Josep Borrell, der Außenbeauftragte der Europäischen Union, bezeichnet die Sache daher als einen „Weckruf“ – für die Europäer und für die Nato. „Um ein leistungsfähigerer Verbündeter zu werden, muss Europa mehr in seine Sicherheitsfähigkeiten investieren“, schrieb er in der New York Times“. 

Damit gibt das Debakel in Afghanistan der Debatte um Europas „strategische Autonomie“ Auftrieb, die nach dem Wahlsieg des Transatlantikers Joe Biden über den America-first-Präsidenten Donald Trump deutlich an Schwung verloren hatte.

Es ist kein Zufall, dass der französische EU-Kommissar Thierry Breton derzeit auffällig häufig über eine Stärkung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik spricht. Vor ein paar Tagen veröffentlichte Breton unter offiziellem Kommissionslogo ein Positionspapier, in dem er deutlich machte: Nach der Afghanistan-Erfahrung müsse es eine „strategische Autonomie“ mit einer gemeinsamen europäischen Verteidigung geben. „Der unilaterale Abzug der US-Truppen hat erneut die starke Abhängigkeit Europas von Washingtons Außen- und Sicherheitspolitik hervorgehoben.“ Konkret schlägt Breton vor, eine schnelle europäische Eingreiftruppe aufzubauen.

Frankreich trommelt für mehr europäische Souveränität

Da das Feld der Verteidigung eigentlich nicht zur den Kernkompetenzen des Binnenmarktkommissars gehört, dürfte vor allem seine Nationalität bei dem Vorstoß eine Rolle spielen: Frankreich trommelt seit einiger Zeit für mehr europäische Souveränität und weniger Abhängigkeit von den USA.

Die in Brüssel lancierten Vorschläge decken sich auffällig mit den Lehren, die Emmanuel Macron aus dem Afghanistan-Desaster ziehen will. In der Zeitung „Le Journal du Dimanche“ mahnte der französische Präsident kürzlich, dass die Europäische Union ihre Sicherheit endlich in die eigenen Hände nehmen müsse. „Die Zeit für das Europa der Verteidigung, für strategische Autonomie, die ist jetzt“, sagte er. 

Macron blickt dabei nicht nur nach Afghanistan, sondern spricht über „Destabilisierungen in unserer Nachbarschaft“, also in Afrika und im Nahen Osten. Auf die USA könne man dabei nicht zählen: Sie hätten „eine strategische Agenda, die vor allem auf den asiatisch-pazifischen Raum ausgerichtet ist“ und würden von der EU erwarten, dass sie sich um Konflikte vor ihren Toren selbst kümmert.

Frankreich hat immer auch geostrategische Ambitionen formuliert und scheut auch nicht vor Militäreinsätzen zurück – etwa beim Kampf gegen Islamisten in der Sahelzone. Beim Versuch, diese Politik auf die europäische Ebene zu heben, schauen die Franzosen seit geraumer Zeit ungeduldig auf Deutschland. Dort wird zwar viel über ein souveränes Europa als Ziel geredet. Die Konsequenzen sind vielen in der Bundesrepublik aber nicht geheuer.

Nicolas Baverez vom Pariser Thinktank Institut Montaigne glaubt dagegen, dass sich Deutschland von seinem romantischen Blick auf die transatlantische Allianz verabschieden müsse. „Die Lehre ist sehr klar: Der vollkommen chaotische Abzug aus Afghanistan markiert den Eintritt in eine post-amerikanische Welt“, sagt er. „Der Fall von Kabul zeigt nicht nur die Fragilität der amerikanischen Sicherheitsgarantie, sondern auch den komplett unilateralistischen Entscheidungsmodus in Washington.“

Das Afghanistan-Desaster und Europas schwache Reaktion werden auch ihr angelastet. Pool via REUTERS

Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer

Das Afghanistan-Desaster und Europas schwache Reaktion werden auch ihr angelastet.

Dennoch zögert Deutschland, sich das Konzept der strategischen Autonomie zu eigen zu machen, auch weil sich die Bundesrepublik dem französischen Führungsanspruch nicht unterordnen will. Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer machte nach einem Treffen mit ihren EU-Amtskollegen klar, dass die europäische Debatte nicht in der Frage stehen bleiben dürfe, „ob wir eine „europäische Eingreiftruppe“ wollen oder nicht“. Die entscheidende Frage sei vielmehr, „wie wir unsere militärischen Fähigkeiten in der EU endlich gemeinsam nutzen“.

Ähnlich argumentiert der Berliner Außenpolitikexperte Ulrich Speck, Autor der Strategie-Briefings „Morgenlage Außenpolitik“. Für ihn ist die Debatte um eine schnelle Eingreiftruppe eher eine Ablenkung vom fehlenden Engagement, das Europa in konkreten Problemfällen wie Afghanistan zeige. Erforderlich sei zunächst „Konsens in wichtigen Außenpolitikbereichen zwischen den wichtigen Hauptstädten“ zu schaffen – „eine schwierige und oft frustrierende Aufgabe“. Allerdings könne man nur zu einem global einflussreicheren Europa gelangen, wenn man diese dicken Bretter bohre. 

Tatsächlich liegt der Grund für den überstürzten Abzug der Europäer aus Afghanistan weniger im militärischen Können als im strategischen Wollen. Die europäischen Staaten waren kaum gewillt, ohne die Amerikaner in Afghanistan zu bleiben – selbst wenn sie es gekonnt hätten. Frankreich hatte seine Militäroperation in Afghanistan sogar schon 2014 beendet.

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