Die Entwicklung hin zur Invasion war logisch, aber nicht geradlinig. Auch wenn die russische Führung die Befürchtungen des Westens stets verlachte, so war der Krieg wohl länger geplant als gedacht.
Russische Truppen
Seit Jahren war die Ukraine zum Reizfaktor im Kreml geworden. Die Westorientierung konnte Russland nicht akzeptieren.
Bild: action press
Moskau Moskau ist am Donnerstag friedlich aufgewacht und war doch schon mitten im Krieg. Russlands Präsident Wladimir Putin hatte am frühen Morgen der Ukraine den Krieg erklärt, kurz nach sechs Uhr fielen die ersten Bomben im Nachbarland, doch davon bekamen die Moskauer, 500 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt, nichts mit.
Keine Sirenen, keine Einschränkungen. In Moskau ging am ersten Kriegstag alles seinen gewöhnlichen Gang. Die Kinder liefen zur Schule. Aus der Metro Baumanskaja strömten die Studenten zur Uni und die Erwachsenen zur Arbeit. Erst langsam verbreitete sich über die sozialen Netzwerke die Nachricht vom Krieg. Apothekerin Darja macht große Augen, als sie vom Kriegsbeginn erfährt. Für viele ist es ein Schock.
Einen Krieg gegen die Ukraine wollen die wenigsten. Doch eine große Antikriegsbewegung in Russland ist wohl nicht zu erwarten. Aktivisten, die am Donnerstag wie auch in den vergangenen Tagen Einzelmahnwachen – die einzige noch zugelassene Protestform in Russland – gegen den Krieg abhielten, wurden schnell von der Polizei festgenommen.
Immerhin haben sich am Donnerstag auch einige Prominente in den sozialen Netzwerken gegen den Krieg gestellt: Die bekannten Entertainer Maxim Galkin und Iwan Urgant, der Sänger Waleri Meladse oder auch Schach-Vizeweltmeister Iwan Nepomnjaschtschi drückten ihre Trauer, Angst und Fassungslosigkeit aus.
Dabei hat sich die Situation über Monate lang hin darauf zugespitzt. Vor knapp einem Jahr, im Frühjahr 2021, läuteten zum ersten Mal die Alarmsirenen: Ukrainische und westliche Aufklärungsdienste sprachen Ende März von einer Konzentration russischer Truppen nahe der Grenze.
Anti-Kriegsproteste
Aktivisten, die Einzelmahnwachen – die einzige noch zugelassene Protestform in Russland – gegen den Krieg abhielten, wurden schnell von der Polizei festgenommen.
Bild: imago images/SNA
Die Schätzungen reichten von 100.000 bis 120.000 Soldaten. Russland stritt lange ab, erst Mitte April räumte Verteidigungsminister Sergej Schoigu die Verlegung von zwei Armeen und drei Fallschirmjägereinheiten in die Region ein, die an Manövern teilnähmen.
Ein Teil der Truppen wurde einige Wochen später wieder zurückgezogen, doch das Muskelspiel war eine unverhohlene Drohung und nach Angaben des Washingtoner „Zentrums für strategische und internationale Studien“ (CSIS) eine Vorübung für den Ernstfall: Es gebe Gründe zu der Annahme, „dass die russischen Militärstreitkräfte nahe der ukrainischen Grenzen entweder einen begrenzten Schlag trainiert haben, der die Ukraine vom Schwarzen Meer abtrennen sollte, oder einen ambitionierteren Plan, um alle ukrainischen Kräfte im Osten einzukreisen“, analysierte der Thinktank bereits im Herbst.
Die Ergebnisse der Übung müssen dem Kreml gefallen haben. Seit Ende Oktober wurden erneut Truppen zusammengezogen. Ohnehin sind seit der Annexion der Krim 87.000 Soldaten in der Region stationiert. Die Aufstockung auf bis zu 150.000 Soldaten bedeutete aber eine klare Verschärfung des Konfliktpotenzials
Spätestens hier beginnt die Inszenierung. Denn die russische Führung hat einerseits die vom Westen geäußerten Befürchtungen, dass Moskau einen Einmarsch in der Ukraine plane, stets verlacht und als Kriegstreiberei des Westens abqualifiziert, andererseits die Drohkulisse bewusst aufgebaut, um ein Ultimatum zu stellen.
Wladimir Putin
Russlands Präsident Putin ging es schon lange nicht mehr um die Anerkennung der Separatisten im Donbass. In seiner Rede ließ er schon am Dienstag durchblicken, dass er die Ukraine als Ganzes nicht anerkennt.
Bild: imago images/ZUMA Wire
Dieser Forderungskatalog, abgegeben kurz vor der katholischen Weihnacht, war womöglich die letzte Chance auf eine friedliche Einigung. Seit Jahren war die Ukraine zum Reizfaktor im Kreml geworden. Die Westorientierung ihrer neuen Regierung konnte Putin nicht akzeptieren. In Moskau bestand nach 2014 die Hoffnung, dass die durch den Verlust der Krim und der zerstörten Industrie im Donbass geschwächte Ukraine am Ende selbst implodiert.
Anzeichen dafür waren da: Die Verluste der ukrainischen Armee im Konflikt 2014 waren auch aufgrund der Korruption kolossal, der dem Krieg folgende BIP-Einbruch war es ebenso. Die Ukraine verwandelte sich in das Armenhaus Europas. Doch die mit der Abwahl von Petro Poroschenko verbundenen Hoffnungen erfüllten sich für Moskau nicht, auch Nachfolger Wolodimir Selenski änderte den Westkurs der Ukraine nicht.
Die Befürchtung, dass die Ukraine tatsächlich irgendwann der Nato beitritt, gipfelte im Dezember-Ultimatum Russlands. Die zentralen Forderungen: keine Nato-Osterweiterung und keine militärische Zusammenarbeit des Bündnisses mit der Ukraine, keine Raketenstationierung auf fremdem Territorium und Rückbau aller Nato-Basen auf den Stand von 1997.
Die Forderungen hatten einen rationalen Kern – tatsächlich waren die russischen Forderungen nach Sicherheitsgarantien lange vom Westen ignoriert worden. Doch in der Form und als ganzes Paket waren sie kaum annehmbar. Europa wäre ohne US-Waffensysteme zu einem wehrlosen Kontinent gegenüber Russland geworden. Das musste auch dem Kreml bei der Übergabe der Forderungen klar gewesen sein.
Daher kamen nach der Antwort der USA, die einen Dialog über Raketenfragen vorschlug, Russlands faktisches Vetorecht bei der Nato aber ablehnte, zunächst auch Signale aus Moskau. Russland wäre bereit, trotz der „unbefriedigenden Antwort“ weiterzuverhandeln. Doch irgendwann Ende Januar/Anfang Februar muss die Entscheidung für die Eskalation gefallen sein.
Offenbar hatte sich zu der Zeit im Kreml bereits die Ansicht durchgesetzt, dass der Dialog mit dem Westen sinnlos sei und dass die im Feld ausgesetzten Streitkräfte nun eingesetzt werden müssten. Dass die Vermittlungsmissionen von Emmanuel Macron und Olaf Scholz nichts bewirkt hatten, wurde schon aus den Abschlusspressekonferenzen ersichtlich.
Gerade gegenüber dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz reagierte Putin scharf und beharrte darauf, dass im Donbass mindestens ein ähnlicher „Genozid“ stattfinde wie im Kosovo. Damals habe sich die Nato das Recht herausgenommen, Serbien ohne UN-Mandat zu bombardieren.
Scholz’ aus Kiew mitgebrachte Gesetzesinitiativen zum Donbass-Status, Wahlen und einer Verfassungsreform interessierten den Kremlchef da schon nicht mehr. Er nahm keinerlei Bezug darauf – und betonte stattdessen nur, dass Kiew das Minsker Abkommen nicht einhalte und nicht einhalten wolle.
Insofern dürfte auch der verkündete Truppenabzug da schon Attrappe gewesen sein. Alle folgenden Ereignisse waren jedenfalls gestellt. Die plötzliche Verschärfung der Lage im Donbass war eine schlechte Inszenierung. Sie erfolgte auf Kommando aus Moskau.
Zuerst der – im Voraus aufgezeichnete – Evakuierungsaufruf wegen angeblichen Beschusses, dem 40.000 bis 60.000 Zivilisten, vor allem Frauen, Kinder und Alte folgten, die teilweise am Straßenrand abgesetzt wurden. Dann kam die Show um die Anerkennung. Putin zwang seine Führungsclique in der Sitzung des Sicherheitsrats, ihm Loyalität zu schwören und ihn zur Anerkennung zu „überreden“, die längst abgezeichnet war, wie sich später anhand der Uhrzeiger rekonstruieren ließ.
Putin ging es dabei schon lange nicht mehr um die Anerkennung der Separatisten im Donbass. In seiner Rede ließ er schon am Dienstag durchblicken, dass er die Ukraine als Ganzes nicht anerkennt, als er sein pseudohistorisches Traktat vom Sommer wiederholte, wonach eine Ukraine nie existiert habe und ihre Existenz einzig und allein der Willkür Lenins zu verdanken sei, der sie zum Überfluss auch noch mit urrussischen Gebieten beschenkte.
Die will sich Putin jetzt zurückholen. Wie, ist am Ende egal, ob als Teil eines neuen Großrusslands, oder als Satellitenstaat von Moskaus Gnaden.
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