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03.12.2021

15:02

Analyse

Die ÖVP lässt Kurz fallen – die jetzt wohl wichtigste „Spielerin“ ist eine ehemalige Wegbereiterin

Von: Ivo Mijnssen

Mit dem großen Personalumbau demonstriert die ÖVP hektisch Handlungsfähigkeit. In Regierung und Partei hat die Suche nach einem neuen Gleichgewicht aber gerade erst begonnen.

Hoch geflogen, tief gefallen – und das Land gespalten. imago images/SEPA.Media

Sebastian Kurz

Hoch geflogen, tief gefallen – und das Land gespalten.

Wien Man befinde sich „auf dünnem Eis“, sagte der damalige Bundeskanzler Alexander Schallenberg Mitte Oktober, nachdem er in einer Hauruckaktion zum Nachfolger von Sebastian Kurz bestimmt worden war. Angesichts der dramatischen Ereignisse der vergangenen 24 Stunden muss man konstatieren: Es ist an entscheidenden Stellen gebrochen, und keiner weiß, ob der Rest an harter Oberfläche stark genug ist, um Österreichs Regierung weiter zu tragen.

Auf den vollständigen Rückzug des einstigen konservativen Hoffnungsträgers am Donnerstag folgten weitere Rücktrittsankündigungen: In den frühen Abendstunden stellte zunächst Schallenberg sein Amt zur Verfügung, wohl, um Platz zu machen für den bisherigen Innenminister Karl Nehammer, der neuer Kanzler und Vorsitzender der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) in Personalunion wird. Mit Finanzminister Gernot Blümel geht zudem der engste Wegbegleiter von Kurz, am Freitag werden weitere Rochaden vorgenommen.

Umso hektischer demonstriert sie nun Handlungsfähigkeit: In der Defensive, wegen der Fehler im Coronamanagement, Anklagen gegen ihr Spitzenpersonal und einbrechender Umfragewerte, lässt die seit 35 Jahren fast ununterbrochen mitregierende Partei Kurz und seine Vertrauten inmitten des vierten Lockdowns fast panikartig fallen.

Diese hatten 2017 die damals strauchelnde Volkspartei übernommen – mit dem Versprechen einer Modernisierung. Eine neue, „türkise“ Machtstruktur wurde auf die alte „schwarze“ Führung aufgepfropft.

Kurz-Abgang sorgt für Machtverschiebung in der ÖVP

Die neue Farbe verschwand mit dem Politstar, und darunter kommen die alten Strukturen zum Vorschein. Die mächtigen Landeshauptleute geben wieder den Ton an. Sie denken bereits laut darüber nach, die weitgehenden Kontrollrechte, die sich Kurz als Parteichef ausbedungen hat, wieder rückgängig zu machen.

Das atemberaubende Tempo dieser Machtverschiebung ist eine Gegenreaktion auf den disruptiven Politikstil, den Kurz geprägt hatte. Seine Entscheidung, die traditionelle Große Koalition mit den Sozialdemokraten zu sprengen, war ebenso nachvollziehbar wie rücksichtslos.

Sie polarisierte und destabilisierte die Politik: Kurz wurde zwei Mal Kanzler, zuerst für 17 Monate, dann für 21. Die ÖVP-Minderheitsregierung hielt 2019 sogar nur ein paar Tage, das Expertenkabinett unter Brigitte Bierlein war sieben Monate im Amt, Schallenberg nun voraussichtlich weniger als zwei. Dieser wird die Funktion des Außenministers wieder übernehmen.

Die wohl wichtigste „Spielerin“ ist die niederösterreichische Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner, die der mächtigsten Formation in der Volkspartei vorsteht. Aus dieser stammen nicht nur Nehammer und der neue Innenminister, sondern etwa auch der neu-alte ÖVP-Fraktionschef August Wöginger.

Als Landeshauptfrau von Niederösterreich gilt Mikl-Leitner als eine der mächtigsten ÖVP-Politikerinnen. dpa

Johanna Mikl-Leitner

Als Landeshauptfrau von Niederösterreich gilt Mikl-Leitner als eine der mächtigsten ÖVP-Politikerinnen.

Mikl-Leitner und ihr Vorgänger waren Wegbereiter der Karriere von Sebastian Kurz. In Niederösterreich, in Wien und in der Jugendorganisation hatten er und seine Vertrauten ihre Basis. Das Verhältnis mit anderen Regionalfürsten, in Tirol, Oberösterreich und Salzburg, war distanzierter – jenes mit der Steiermark zuletzt angespannt. Alle stützten Kurz, solange er als Erfolgsgarant alternativlos schien. Als er zur Hypothek wurde, ließen sie ihn fallen.

Es ist kein Geheimnis, dass die neu-alte ÖVP-Führung das Regierungsbündnis noch stärker als Zweckehe betrachtet als dies Kurz tat. Er ging es ein, weil ihm die Alternativen fehlten; die Sozialdemokraten und die rechtspopulistische FPÖ waren ihm angesichts der belasteten gemeinsamen Geschichte in leidenschaftlicher Abneigung verbunden. Die „schwarze“ ÖVP wäre einem Wiederaufleben der Großen Koalition deutlich weniger abgeneigt.

Dies ist umso mehr der Fall, als dass viele Konservative den Entzug der Unterstützung für Kurz durch die Grünen im Oktober als Verrat werten. Dafür zeigt sich die Ökopartei bei der momentanen Regierungsumbildung zuvorkommend und streut Nehammer Rosen. Sie wirkt wie eine Gefangene der gegenwärtigen Zwangslage: Fällt die Regierung, sind auch Prestigeprojekte der Grünen wie die ökosoziale Steuerreform und die Einführung eines Generalabonnements akut gefährdet.

Parteien fürchten Neuwahlen

Mit der Begründung, die politische Stabilität erfordere rasche Lösungen, betraten die Akteure bei den Wechseln immer wieder Neuland und strapazierten die Verfassung, ohne sie zu brechen. Bundespräsident Alexander Van der Bellen spielte dabei ebenso die Rolle des willigen Partners wie des Garanten für die Einhaltung der Grundregeln.

Und doch erwecken die Rochaden seit Kurz’ Rücktritt im Oktober den Eindruck, die ÖVP verwende ihre Politiker wie Schachfiguren – wobei heute deutlich weniger klar ist, wer sie bewegt.

An vorgezogenen Neuwahlen hat keine Partei wirklich ein Interesse: Die politischen Akteure sind allesamt knapp bei Kasse, und der ÖVP droht ein Einbruch. Sozialdemokraten und FPÖ könnten zwar mit Zugewinnen rechnen, kämpfen aber mit internen Konflikten und würden die Konservativen kaum entscheidend distanzieren.

Dazu kommt die Furcht aller etablierten Parteien außer den coronaskeptischen Freiheitlichen vor einem Wahlkampf, der sich absehbar um Fehler im Pandemiemanagement und die geplante Impfpflicht drehen würde. Dennoch haben die Turbulenzen und der Kontrollverlust der letzten Monate einen vorgezogenen Urnengang deutlich wahrscheinlicher gemacht.

Nehammer sieht sich mit einer Mammutaufgabe konfrontiert: Er muss die Pandemie bewältigen, die Konflikte in der Regierung schlichten und zwischen den innerparteilichen Begehrlichkeiten vermitteln, die angesichts des Wiederauflebens der traditionellen Machtzentren widersprüchlicher werden dürften.

Letztere hatte Kurz unter Kontrolle gehalten – durch seine persönliche Strahlkraft, durch die Förderung von Loyalisten, aber auch durch einen mit Ausnahme der Migrations- und Steuerpolitik äußerst flexiblen politischen Kurs. Er hat die Partei verändert, eine einfache Rückkehr in die Vergangenheit ist für die ÖVP nicht möglich. Vielmehr beginnt die Suche nach einem neuen Gleichgewicht – innerparteilich wie in der Regierung. Der Gang auf dünnem Eis bleibt gefährlich.

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