Vor allem in Südeuropa wird anders als in Deutschland weiter im Klassenzimmer unterrichtet. Schlechte Erfahrungen mit dem Fernunterricht sind der Hauptgrund.
Kinder in Frankreich
Ein Mitarbeiter einer Schule verteilt Handdesinfektionsmittel an Schüler in Antibes.
Bild: dpa
Athen, Madrid, Paris, Rom, Stockholm, Zürich Für Angela Merkel war die Sache klar: Wegen der Mutation des Coronavirus bleiben die Schulen in Deutschland noch mindestens bis Mitte Februar zu. Auch die Niederlande und Großbritannien haben ihre Schulen jüngst erneut geschlossen. Und das, obwohl zahlreiche Regierungen in Europa nach der ersten Pandemiewelle beteuert hatten, den Kindern nicht so schnell wieder die Pforten der Klassenräume zu verschließen.
Doch Europa ist bei diesem Thema geteilter Meinung. Vor allem im Süden – in Frankreich, Griechenland und Spanien, aber auch in der Schweiz – bleiben die Schulen offen, obwohl sich der Rest des Landes im Lockdown befindet.
Die wichtigsten Gründe dafür sind psychische Belastungen der Kinder durch Fernunterricht, Lernverluste samt späterer Einkommenseinbußen sowie die Benachteiligung von sozial Schwachen, die zu Hause keine eigenen Computer oder keinen schnellen Internetanschluss für den Online-Unterricht besitzen.
Portugal und die Schweiz haben in der vergangenen Woche einen neuen Lockdown verhängt – die Schulen aber offengehalten.
Portugals Premier António Costa begründete das mit der „Notwendigkeit, die aktuelle Generation der Schüler nicht erneut zu opfern“. Es geht vor allem darum, die Bildung aufrechtzuerhalten und die Ungleichheiten nicht zu vergrößern. „Die Kosten für die Schließung von Schulen sind viel höher als das Risiko, das möglicherweise besteht“, sagte Bildungsminister Tiago Brandão Rodrigues.
Doch schon wenige Tage später sah das ganz anders aus: Am Donnerstag beschloss Costa, sofort sämtliche Schulen zu schließen. Grund für die schnelle Kehrtwende waren Informationen zur Ausbreitung der deutlich ansteckenderen britischen Virus-Variante. „Wir haben eine Bürgerpflicht, unseren Lockdown zu verstärken“, sagte der portugiesische Premier.
Die britische Virus-Mutation sei derzeit für 20 Prozent der Neuinfektionen verantwortlich und könne in den kommenden Wochen 60 Prozent erreichen. „Angesichts dieser neuen Variante und der Geschwindigkeit ihrer Übertragung müssen wir Vorsicht walten lassen und alle schulischen Aktivitäten für die nächsten 15 Tage unterbrechen“, so Costa.
Dabei kommt das Europäische Zentrum für die Prävention und Kontrolle von Infektionskrankheiten (ECDC) zu demselben Schluss wie zuvor der portugiesische Bildungsminister. Das ECDC erklärte im Dezember, es sei Konsens, dass Schul-Lockdowns „nur als letztes Mittel eingesetzt werden sollten. Die negativen physischen, psychischen und pädagogischen Auswirkungen proaktiver Schulschließungen auf Kinder sowie die wirtschaftlichen Auswirkungen auf die Gesellschaft im weiteren Sinne würden wahrscheinlich den Nutzen überwiegen.“
Die französische Regierung hat deshalb beschlossen, auf keinen Fall noch einmal ihre Schulen dichtzumachen. „Ein Lockdown mit geschlossenen Schulen führt zu einer höheren Zahl von Abbrechern“, hat Bildungsminister Jean-Michel Blanquer mehrfach erklärt.
Das französische Schatzamt hat eine ausführliche Studie zu den sozialen Folgen des Lockdowns ohne Präsenzunterricht angefertigt. Sie listet die Faktoren auf, die zu einer gravierenden Verschärfung des Scheiterns von Kindern aus sozial schwachen Familien führen – selbst wenn die Lehrer nicht einfach nur Hausaufgaben aufgeben, sondern Unterricht per Videokonferenz erteilen.
Der erste Faktor: In der unteren Mittelschicht und Unterschicht haben nur 63 Prozent der Familien einen Computer, während in den höheren Schichten nahezu 100 Prozent darüber verfügen. Faktor zwei besteht im geringeren Wohnraum. Arbeiterfamilien haben im Schnitt 95 Quadratmeter zur Verfügung, Angestellte 120 Quadratmeter. Entsprechend schwieriger ist es, für ein oder mehrere Kinder getrennte Tische für den Fernunterricht einzurichten.
In seiner Studie verweist das Schatzamt auf andere Untersuchungen, die schon länger nachgewiesen haben, dass Zeiten der Inaktivität wie während der Sommerferien einen großen Teil des schulischen Misserfolgs von Kindern der Unterschicht erklären. Im Gegensatz zu Kindern aus der Mittel- und Oberschicht können ihre Eltern ihnen keine anderen sozial und intellektuell stimulierenden Aktivitäten bieten.
Das französische Schatzamt verweist zudem auf eine aktuelle Studie der OECD vom vergangenen Jahr, die zeigt, dass Schulschließungen während der Lockdowns in verschiedenen Ländern die Benachteiligung der Unterschicht bei der Bildung verschärft haben.
Doch nicht nur die sozial Schwachen leiden. Die OECD kommt zu dem Schluss, dass der Lernverlust durch die bisherigen Schließungen der Schulen zu einem Minus von rund drei Prozent beim Lebenseinkommen aller heutigen Schüler führen kann. „Benachteiligte Schüler werden so gut wie sicher größere Auswirkungen sehen“, heißt es in der Studie „Die wirtschaftlichen Folgen von Lernverlusten“ vom vergangenen September. Mit den sich abzeichnenden weiteren Störungen im regulären Unterricht würden die Kosten noch steigen.
„Für die Staaten könnten die Auswirkungen optimistischerweise 1,5 Prozent weniger Bruttoinlandsprodukt für den Rest des Jahrhunderts betragen und proportional sogar noch weniger, wenn die Bildungssysteme nur langsam zu ihrem früheren Leistungsniveau zurückkehren“, so die OECD.
Die Wissenschaft ist uneinig über den Zusammenhang von Präsenzunterricht und Infektionsgefahr. Vielerorts heißt es, die Schulen hätten sich als sicher erwiesen. „Schulen sind keine Haupttreiber der Epidemie“, schreiben etwa die wissenschaftlichen Berater der Schweizer Regierung in einer Empfehlung von Mitte Dezember, die nach wie vor gilt. „Das Grundrecht auf Bildung muss so weit wie möglich gewahrt bleiben.“
Die bisherigen Erkenntnisse aus dem Schweizer Bildungssystem zeigten zudem, so die Schweizer Argumentation, dass sich Kinder hauptsächlich zu Hause und nur selten im Klassenzimmer ansteckten.
Ähnlich argumentiert man auch in Spanien, wo je nach Region mehr oder weniger strikte Lockdowns gelten, aber überall die Schulen geöffnet sind. Die katalanische Gesellschaft für Pädiatrie erklärt, als die Schulen geöffnet waren, hätten sich weniger Kinder angesteckt als in den Monaten, in denen die Schulen geschlossen waren. Gründe dafür könnten eine weniger genaue Kontrolle der Kinder oder mehr Kontakte mit infizierten Erwachsenen sein.
Doch wie so oft sind die Daten nicht eindeutig. In Schweden waren die Grundschulen einer Studie zufolge in der vorletzten Dezemberwoche für 45 Prozent aller Corona-Ausbrüche im öffentlichen Bereich verantwortlich.
Schulbeginn in Spanien
Kinder mit Mundschutz gehen durch einen Gang in der Privatschule Alameda de Osuna in Madrid.
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Das Land, das zu Beginn der Pandemie einen Sonderweg eingeschlagen und Grundschulen sowie Kindertagesstätten offengehalten hatte, ist nach den Erkenntnissen vom Dezember davon abgewichen. Zwar gilt weiterhin die Empfehlung der Gesundheitsbehörde, nur die Gymnasien zu schließen. Gleichzeitig wird aber den einzelnen Schulen die endgültige Entscheidung überlassen, ob sie den Präsenz- oder Fernunterricht wählen.
Auch eine Schweizer Studie liefert ein Argument für Schulschließungen: Sie könnten die Mobilität der Menschen um 21,6 Prozent einschränken und die Viruszirkulation verlangsamen, da Kinder und Eltern sich dann vor allem zu Hause aufhielten. In Italien war just das ein Grund, die weiterführenden Schulen nicht zu öffnen: Das öffentliche Nahverkehrssystem ist zu stark ausgelastet. Es hätte vielerorts aufgestockt werden müssen, um trotz Andrang der Schüler genug Distanz in Bahnen und Bussen zu ermöglichen.
Bei dem umstrittenen Thema wählen einige Länder einen Mittelweg: Sie öffnen nur die unteren Jahrgangsstufen, da jüngere Kinder sich tendenziell seltener mit dem Virus anstecken. Ein Beispiel ist Griechenland. Dort haben die Grundschulen nach zwei Monaten Zwangspause seit Anfang Januar wegen sinkender Infektionszahlen wieder geöffnet, Mittelschulen und Gymnasien bleiben aber vorerst geschlossen.
„Die Öffnung der weiterführenden Schulen ist zwar unsere Priorität, aber wir müssen auf dem Weg in die Normalität Schritt für Schritt vorangehen“, sagt Erziehungsministerin Niki Kerameos.
Italien
Eine Schülerin (l.) sitzt in einer Schule in Rom während ihrer Abschlussprüfungen mit Mundschutz vor der Prüfungskommission.
Bild: dpa
Auch in Italien sind die meisten Grund- und Mittelschulen geöffnet. Die Schulen für die Älteren haben nur in den Regionen auf, die nicht sehr stark von der Pandemie betroffen sind. Selbst in der Schweiz werden die Rufe nach einer ähnliche Regelung laut. Die Berater der Regierung empfehlen zumindest in Corona-Hotspots in der Oberstufe sowie an Berufsschulen Distanzunterricht. Konkrete Inzidenzwerte nennen sie jedoch nicht.
In Frankreich sind derlei Überlegungen dagegen kein Thema. Staatspräsident Emmanuel Macron hat schon Ende Oktober eine klare Entscheidung getroffen: „Wir dürfen unseren Kindern den Unterricht nicht vorenthalten, deshalb bleiben die Kinderkrippen, Vor- und Grundschulen sowie Gymnasien geöffnet.“
Überall, wo es möglich ist, wurden die Klassen geteilt. Aber auch wenn es mangels eines geeigneten Raumangebots nicht möglich ist, auf diese Weise die Abstände in den Räumen zu vergrößern, findet der Unterricht weiter statt. Die einzige Ausnahme betrifft den Schulsport, der eingeschränkt wurde. In den Schulkantinen wird darauf geachtet, dass immer dieselben Kinder zusammen essen.
In Spanien werden ähnlich wie in Deutschland zu der Zeit, als die Schulen noch offen waren, sogenannte Blasen gebildet, bei denen Schüler so lange wie möglich in ihrem Klassenverband bleiben und nicht mit allen Schülern vor Ort in Kontakt kommen. In beiden Ländern müssen die Schüler ebenso wie in Griechenland Masken tragen. Auch eine gute Durchlüftung gehört überall zum Konzept.
Griechenland staffelt Beginn und Ende des Unterrichts für die einzelnen Klassen zeitlich, damit nicht alle Schüler gleichzeitig zum Unterricht eintreffen und wieder nach Hause gehen. Zudem führen die Teams der staatlichen Gesundheitsbehörde in den Grundschulen stichprobenartig Coronatests durch.
In Spanien bieten einige Schulen den Unterricht zur Hälfte in Präsenzform und zur anderen Hälfte online an, damit nicht alle Schüler gleichzeitig in der Klasse sind.
Portugal hat 100.000 Computer an die Schüler verliehen und weitere 335.000 gekauft – um allen Online-Unterricht anbieten zu können, falls sich der wie jetzt geschehen nicht mehr vermeiden lässt, und die ohnehin geplante Digitalisierung der Schulen voranzutreiben. Auch Griechenland unterstützt einkommensschwache Familien mit einem staatlichen Zuschuss von 200 Euro für die Anschaffung von Tablets oder Laptops.
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