Noch läuft das Leben in Südafrika weitgehend normal – trotz der neuen Virusvariante und der massiv steigenden Infektionen. Doch für das Land steht einiges auf dem Spiel – es ist ein Balanceakt.
Johannesburg in Südafrika
Schüler mit Mund-Nasen-Schutz spielen in der Kgololo Academy im Township Alexandra.
Bild: dpa
Kapstadt Die Zeitungen im Land berichten noch immer unaufgeregt – und nur im kleineren Rahmen von der Pandemie. In der „Sunday Times“ etwa, dem auflagenstärksten Blatt Südafrikas, wird nur auf der Titelseite und im Wirtschaftsteil auf die neue Mutation und ihre Folgen für den Tourismus verwiesen. Ansonsten überwiegen andere Themen, die Übernahme der großen Städte Johannesburg und Pretoria durch die liberale Opposition zum Beispiel. Oder es geht um die jüngsten Arbeitslosenzahlen, die mit 46,6 Prozent auf ihren bislang höchsten Stand geklettert sind.
Doch der Schein trügt. Ganz allmählich wächst auch die Angst im Land. Die erst vor drei Wochen neu entdeckte Coronavariante Omikron hat die Fallzahlen am Kap beängstigend steigen lassen und ist bereits jetzt zum dominanten Virusstamm mutiert.
Michelle Groome vom National Institute for Communicable Diseases (NICD) spricht von einer „exponentiellen Zunahme“ an Infektionen in den beiden vergangenen Wochen – von einem wöchentlichen Durchschnitt von 300 neuen Fällen am Tag auf 1000 in der vergangenen Woche und nun auf 3500 Fälle.
Am Mittwoch verzeichnete das Land bereits über 8500 Fälle. Eine Woche zuvor hatte die tägliche Zahl mit knapp 1300 bei weniger als einem Fünftel davon gelegen. Hoffnungsvoll stimmt allenfalls, dass die Zahl der Krankenhauseinweisungen offenbar noch immer geringer als vor einem Jahr bei fast gleichen Fallzahlen ist.
Das könnte auf eine womöglich harmlosere Ausprägung des neuen Virus hindeuten. Aber gewiss ist das nicht – und das macht die Situation so prekär. Für das Land und seine Nachbarn geht es um viel: Ein erneuter Ausfall der Touristensaison dürfte nur sehr schwer zu verkraften sein.
Tatsächlich hatte genau dieser rasante Anstieg der Infektionen in kurzer Zeit die Wissenschaftler am Kap bereits vor drei Wochen argwöhnisch werden und vermuten lassen, dass womöglich eine neue Variante dahinterstecken könne. Nun zeigt sich deren Ausmaß. „Ich erwarte, dass wir schon zum Wochenende an die Marke von 10.000 Infektionen am Tag stoßen werden – und sich der Druck auf die Hospitäler binnen der nächsten zwei bis drei Wochen dadurch stark erhöhen wird“, befürchtet der Coronaexperte Salim Abdool Karim, Virologe an der University of KwaZulu-Natal.
Zwar hatte Maria van Kerkhove von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) betont, dass Daten zur Infektiosität des neuen Virus innerhalb weniger Tage vorliegen könnten. Laut Südafrikas NICD deuten erste Erhebungen aber bereits darauf hin, dass Omikron das Immunsystem zum Teil umgehen könne.
Immerhin scheinen die vorhandenen Impfstoffe noch ausreichend Schutz gegen schweren Verläufe der Lungenkrankheit zu geben. Auch Biontech-Vorstandschef Ugur Sahin zeigte sich zuversichtlich, dass sein mit Pfizer produzierter Impfstoff diese Wirkung weiterhin gewährleiste.
Südafrikanische Wissenschaftler hatten die neue Variante erstmals am 8. November isoliert. Ihr Wissen haben sie im jahrelangen Kampf des Landes gegen die Aids- und Tuberkulose-Epidemie aufgebaut – und profitieren nun im Kampf gegen das Coronavirus und seine Mutationen davon. In Südafrika sind rund elf Prozent der 60 Millionen Einwohner mit dem HIV-Virus infiziert, der die Immunschwächekrankheit Aids auslöst.
Schon im vergangenen Jahr war es Südafrikas Forschern zudem gelungen, die Beta-Variante des Coronavirus zu identifizieren. Doch das Land war nicht in der Lage, diese Errungenschaft öffentlich zu betonen.
Nun scheint es zu spät: Mittlerweile ist Südafrika als der Ort verschrien, aus dem gefährliche Coronamutanten kommen. Auch das hohe Lob der Weltgesundheitsorganisation WHO und von Noch-Bundesgesundheitsminister Jens Spahn für Südafrikas Wissenschaftler und die Offenheit des Landes kamen zu spät.
Trotzdem zögert die Regierung noch, harte Maßnahmen zu ergreifen – angesichts der wenig guten Erfahrungen aus dem vergangenen Jahr mit weitreichenden Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Das Land bleibt auf Lockdown-Level 1, der niedrigsten Stufe, die nicht vielmehr als Maskenpflicht und eine vierstündige Ausgangssperre nach Mitternacht vorsieht.
Die Regierung versucht damit einen gewagten Balanceakt: Ein harter Lockdown ist das Letzte, was der Wirtschaft nach den regelmäßigen Stromabschaltungen und einer politisch begründeten Zerstörungsorgie zur Jahresmitte jetzt noch fehlt. Auf der anderen Seite nimmt sie damit weitere Infektionen in Kauf.
Ein Schild am Flughafen zeigt einen Flug nach Kapstadt an
Bei vielen Reiserückkehrern aus Südafrika wurde die dort entdeckte Omikron-Variante festgestellt.
Bild: dpa
Breitet sich das Virus jedoch weiter so schnell wie zuletzt aus, wird die Regierung um gewisse Maßnahmen kaum herumkommen. Weil Touristen das Land verlassen, bangen viele Menschen, gerade auch im Kleingewerbe, inzwischen um ihre Existenz. An Urlaubern hängen in Südafrika viele Existenzen, allein in Kapstadt dürften es Zehntausende von Jobs sein.
Für die Wirtschaft des Landes ist der plötzliche Exodus an Touristen ohnehin viel härter zu verkraften als mögliche neue Lockdown-Regeln. Denn nicht nur der Tourismus kommt zum Erliegen, auch Investoren und Geschäftsleute dürften künftig erst einmal Reisen ans Kap scheuen.
Für die Länder im Süden des Kontinents geht es dabei um viel: Nachdem sie bereits im vergangenen Jahr vom Auftauchen der hier entstandenen Virusvariante Beta hart getroffen worden waren, scheint nun auch die zweite Weihnachtssaison in Folge komplett verloren zu gehen. Noch stärker als Südafrika leben Botswana, aber auch Namibia trotz ihrer Diamantenindustrie vom Tourismus.
„Das extrem schlechte Timing bedeutet, dass Südafrika aber wohl auch dann keine gute Touristensaison gehabt hätte, wenn die Bekanntgabe der Variante weniger chaotisch verlaufen wäre“, schreibt Chefkolumnistin Hilary Joffe im „Business Day“. Jetzt fehlten der Regierung aber auch noch die Mittel, um dem bereits schwer gebeutelten Tourismus auch nur ansatzweise unter die Arme zu greifen. Es droht ein Desaster, weil sich das Land am Kap ohne einen florierenden Tourismussektor kaum noch von seiner schwersten Wirtschafts- und Jobkrise in fast 100 Jahren erholen könnte.
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