Russland beschießt weiter Städte in der Ukraine, offenbar auch wegen mangelnder Geländegewinne. Derweil stocken die Friedensverhandlungen.
Mariupol
Die Hafenstadt ist derzeit besonders umkämpft.
Bild: IMAGO/SNA
Düsseldorf Am 22. Tag des Ukrainekrieges sind die positiven Nachrichten weiterhin äußerst selten, doch es gibt sie. Beim schweren Bombenangriff, der ein Theater in der belagerten ukrainischen Stadt Mariupol zerstört hat, in dem nach ukrainischen Angaben über 1000 Zivilisten Schutz suchten, hat der Luftschutzbunker offenbar das Schlimmste verhindert.
Der ukrainische Parlamentsabgeordnete Serhij Taruta schrieb auf Facebook: „Der Luftschutzbunker hat standgehalten“. Mit dem Entfernen der Trümmer sei begonnen worden. „Die Menschen kommen lebend heraus!“ Die Angaben ließen sich wie viele Informationen aus der Ukraine bislang nicht unabhängig überprüfen. Die Suche nach Überlebenden dauerte am Mittag an.
Insgesamt sterben jedoch weiterhin täglich viele Zivilisten bei Angriffen Russlands auf Wohngebiete ukrainischer Städte. So sind in der umkämpften nordukrainischen Stadt Tschernihiw nach Angaben des Regionalgouverneurs Wiatscheslaw Tschaus allein am Mittwoch 53 Menschen getötet worden: „Wir erleiden schwere Verluste.“
In Kiew trafen Trümmerteile einer von der Luftabwehr abgeschossenen Rakete ein 16-stöckiges Wohngebäude. Dabei wurde ein Mensch getötet, drei weitere wurden verletzt. Etwa 30 Personen wurden aus dem Haus evakuiert und ein Brand gelöscht, wie die ukrainische Zivilschutzbehörde mitteilte.
Russland bestreitet weiterhin, auf Zivilisten zu schießen, spricht aber auch von ukrainischen Nationalisten, die gezielt militärisches Gerät in Wohnviertel schaffen würden.
Die ukrainischen Behörden hoffen, am Donnerstag Zivilisten die Flucht über insgesamt neun Korridore aus umkämpften Gebieten ermöglichen zu können. Dazu zähle auch die eingekesselte Hafenstadt Mariupol, erklärt Vize-Ministerpräsidentin Iryna Wereschtschuk. Ukrainischen Angaben zufolge sind zahlreiche Menschen in der besonders hart umkämpften Stadt im Südosten des Landes seit rund zwei Wochen ohne Heizung, Strom und fließendes Wasser.
Der stellvertretende Bürgermeister von Mariupol, Serhij Orlow, sagte dem Magazin „Forbes Ukraine“, die mangelnde Wasserversorgung sei besonders dramatisch. Da die Heizungen ohnehin nicht mehr funktionierten, entnähmen manche Wasser aus den Heizungsrohren, um es zu trinken.
80 bis 90 Prozent der Gebäude in Mariupol seien inzwischen bombardiert worden, sagte Orlow weiter: „Kein einziges Gebäude ist unbeschädigt.“ Er warf den Russen vor, gezielt Zivilisten zu attackieren, um so eine Kapitulation der Stadt mit ihren zu Kriegsausbruch 400.000 Einwohnern zu erzwingen.
Nach Angaben des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski setzte Russland die Luftangriffe auf die Hafenstadt am Donnerstagmorgen fort. „Die Menschen fliehen aus Mariupol, indem sie ihre eigenen Transportmittel benutzen“, teilte Selenskis Büro mit. Das Risiko sei jedoch hoch, weil die russischen Streitkräfte zuvor auf Zivilisten geschossen hätten.
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Auch außerhalb der Ukraine stocken die Fluchtbewegungen: In weiten Teilen Polens ruht der Bahnverkehr wegen eines Ausfalls des Verkehrsleitsystems. Viele Flüchtende aus der Ukraine nutzen die polnische Bahn, um sich in Sicherheit zu bringen oder zu Freunden und Verwandten zu gelangen. Der Schienenverkehr ist nach Angaben des Bahnbetreibers PKP PLK nahezu im gesamten Land auf 820 Kilometern Strecke von dem Ausfall des Verkehrsleitsystems betroffen.
In Polens Nachbarland Tschechien sind seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine inzwischen 270.000 Kriegsflüchtlinge angekommen. Das sagte Ministerpräsident Petr Fiala am Donnerstag und rief dazu auf, ihnen „im größtmöglichen Maße“ zu helfen. Zugleich räumte er Schwierigkeiten ein: „Wir müssen uns eingestehen, dass wir an der Grenze dessen sind, was wir ohne größere Probleme absorbieren können“, sagte der 57-Jährige einem Nachrichtensender.
Das Präsidialamt in Kiew meldet weiterhin Artillerie- und Luftangriffe im ganzen Land, unter anderem in Kalyniwka und Browary nahe der Hauptstadt Kiew. Die russischen Truppen hätten außerdem versucht, in die Stadt Mykolajiw im Süden einzudringen. Aus Awdijiwka im Osten sei in der Nacht Artilleriefeuer gemeldet worden.
Russische Nachrichtenagenturen berufen sich zudem auf das Moskauer Verteidigungsministerium und melden den Beschuss eines Militärdepots im Westen der Ukraine. Dabei seien Raketen- und Munitionslager zerstört worden. Das Depot befindet sich demnach in der Stadt Sarny etwa 300 Kilometer westlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew.
Nach Angaben der Ukraine greifen die russischen Streitkräfte zunehmend auf Artillerie- und Luftangriffe zurück, seit ihr Vormarsch ins Stocken geraten ist. Der ukrainische Generalstab erklärte, der Feind habe mit seiner Bodenoperation keinen Erfolg und verübe daher weiterhin Raketen- und Bombenangriffe auf die Infrastruktur und dicht besiedelten Gebiete ukrainischer Städte.
Britische Militärgeheimdienst-Berichte stützen die Darstellung der Ukraine: In den vergangenen Tagen habe es zu Land, Wasser und Luft nur ein minimales Fortkommen des russischen Militärs gegeben. Die russischen Streitkräfte erlitten zudem schwere Verluste. „Der ukrainische Widerstand bleibt standhaft und gut koordiniert“, erklärte das Londoner Verteidigungsministerium. Der überwiegende Teil des Landes einschließlich aller großen Städte sei weiterhin in ukrainischen Händen.
Nach dem Berater des ukrainischen Präsidenten Selenski, Alexander Rodnyansky, äußert nun auch die russische Seite Zweifel an den Friedensverhandlungen. Russland investiere viel Energie in die Gespräche über ein Friedensabkommen, um eine Vereinbarung mit „klaren Parametern“ zu erreichen, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. Er beschuldigte die Ukraine, die Verhandlungen zu in die Länge zu ziehen und sagte, ein Bericht der Financial Times vom Vortag über Annäherungen sei nur teilweise korrekt.
Selenski-Berater Rodnyansky hatte am Mittwochabend in der ARD-Sendung „Maischberger“ gesagt, das russische Interesse an einer friedlichen Lösung sei ein Täuschungsmanöver.
Peskow bezeichnete Menschen, die wegen des Ukrainekriegs ihre Jobs aufgeben und Russland verlassen als „Verräter“. Die Äußerung des US-Präsidenten Joe Biden, der den russischen Präsidenten Wladimir Putin als Kriegsverbrecher bezeichnete, nannte Peskow inakzeptabel.
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Der ukrainische Verteidigungsminister Oleksii Resnikow dagegen appelliert an die Abgeordneten des Europaparlaments, Kremlchef Wladimir Putin ebenfalls zum Kriegsverbrecher zu erklären. In einer Videoschalte führt er Beispiele an, um seine Forderung zu untermauern. Er nannte auch die Zerstörung des Theaters in Mariupol, in dem viele Zivilisten Schutz gesucht hatten.
Die EU nannte die Belagerung und Bombardierung der ukrainischen Hafenstadt Mariupol durch russische Truppen danach einen „ernsthaften und schwerwiegenden Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht“. „Diese Belagerung ist unmenschlich“, erklärte ein Sprecher des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell. Die Belagerung müsse aufgehoben sowie die Bombardierung und die Angriffe auf Zivilisten müssten gestoppt werden. Die britische Außenministerin Liz Truss sagte: „Es gibt sehr, sehr starke Beweise dafür, dass Kriegsverbrechen begangen wurden und dass Wladimir Putin dahinter steckt. Es ist letztlich Sache des Internationalen Strafgerichtshofs zu entscheiden, wer Kriegsverbrecher ist und wer nicht, und wir müssen die Beweise vorbringen.“
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hat am Morgen zum Bundestag über die Lage in seinem Land gesprochen. Wie am Tag zuvor im US-Senat berichtete er von Zerstörungen und unzähligen zivilen Opfern im Ukrainekrieg. „Wir kämpfen um unser Leben, um unsere Freiheit“, sagt Selenski. Inmitten Europas gebe es eine Mauer zwischen Freiheit und Unfreiheit. Diese vergrößere sich mit jeder Bombe, die in der Ukraine falle.
Wolodimir Selenskij im Bundestag
Der ukrainische Präsident sprach per Live-Schaltung in der 20. Sitzung des Deutschen Bundestags.
Bild: action press
Selenski berichtete eingehend von der dramatischen Lage in der Hafenstadt Mariupol, die seit Tagen unter Beschuss steht. Alles werde dort zerstört, „rund um die Uhr“, berichtet Selenski. Seit Tagen sei es kaum möglich, die Menschen aus der Stadt zu retten. Wegen russischer Bomben sei es auch unmöglich, eine Luftbrücke aufzubauen.
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Selenski kritisierte auch das zurückhaltende Agieren vieler europäischer Länder, die Sanktionen auf die lange Bank geschoben hätten. Bereits vor dem Krieg habe es Warnungen gegeben – insbesondere vor dem Bau der Pipeline Nord Stream 2. Mit Blick auf die Hilfen der USA fragte Selenski: „Warum ist ein Land, das über dem Ozean liegt, näher an uns dran?“ Er appellierte an Deutschland und andere europäische Staaten, ihre Bemühungen, den Krieg zu beenden, zu verstärken.
Er rief insbesondere Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) dazu auf, in Europa voranzugehen und den Krieg zu stoppen. „Geben Sie Deutschland die Führungsrolle, die Deutschland verdient.“ Selenski beendete seine Rede mit den Worten „Slawa Ukrajini!“ – „Es lebe die Ukraine!“ – unter minutenlangem Beifall der Abgeordneten.
Später am Donnerstagvormittag kritisierten Scholz und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg Russland erneut scharf für die Angriffe in der Ukraine. Zugleich betonten sie, dass die Nato nicht in den Konflikt eingreifen wird. „Die Nato trägt die Verantwortung dafür, diesen Konflikt nicht weiter eskalieren zu lassen“, sagte Stoltenberg. „Putin setzt allein auf Gewalt“, kritisierte Scholz. Der russische Präsident löse entsetzliches Leid in der Ukraine aus. Scholz und Stoltenberg sicherten der Ukraine weitere, auch militärische Unterstützung zu.
Scholz macht Putin auch persönlich für den Tod vieler Bürger seines eigenen Landes verantwortlich. „Uns berührt auch das Schicksal der vielen jungen Russen, die von ihrer Führung in einen sinnlosen Krieg gegen den eigenen Nachbarn geschickt werden“, sagte Scholz. „Es ist wichtig, dass das Schicksal dieser jungen Menschen auch in Russland bekannt wird. Jeder in Russland muss wissen: Präsident Putin trägt für deren Tod oder Verwundung die alleinige Verantwortung.“
Das Rätselraten um eine mögliche Staatspleite Russlands ging indes weiter: Zwar gab das Moskauer Finanzministerium am Donnerstag bekannt, die am Mittwoch fälligen Zinszahlungen für Dollar-Anleihen im Volumen von 117 Millionen Dollar angewiesen zu haben. Einige Halter der Anleihen gaben jedoch an, keine Zahlungen erhalten zu haben.
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Wegen des Einmarschs in die Ukraine hat der Westen Russland mit Sanktionen belegt, die unter anderem den internationalen Geldtransfer erschweren. Offiziell wird ein Zahlungsausfall Russlands aber erst, wenn die 30-tägige Nachfrist verstrichen ist. Es wäre das erste Mal seit der Russischen Revolution von 1917, dass das Land seine Verbindlichkeiten nicht erfüllen würde. Damals hatten die Bolschewiken Schulden aus der Zarenzeit nicht anerkannt.
Mit Agenturmaterial.
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