PremiumDer Druck auf Russland reiche nicht, sagt der ukrainische Präsident. Kremlchef Putin sieht seinen Krieg im Plan – Experten vermuten hohe Verluste. Der Überblick.
Zerstörung in der Ukraine
Ein durch Beschuss zerstörtes Wohnhaus in der inzwischen von russischen Truppen eingenommenen Stadt Mariupol im Osten der Ukraine.
Bild: IMAGO/SNA
Kiew, Aschgabat Trotz westlicher Waffenlieferungen bleibt die Lage ukrainischer Truppen in den schwer umkämpften Gebieten im Osten des Landes nach Worten von Präsident Wolodimir Selenski extrem schwierig. „Wir unternehmen alles, um unser Militär mit modernen Artilleriesystemen auszustatten und den Besatzern angemessen zu antworten“, sagte Selenskyj in der Nacht zum Donnerstag in seiner täglichen Videoansprache. Kremlchef Wladimir Putin drohte unterdessen mit Gegenmaßnahmen nach einem Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens – und behauptete erneut, die russische „Spezialoperation“ in der Ukraine laufe nach Plan.
Das russische Militär setzt im Industriegebiet Donbass auf massiven Artilleriebeschuss, um ukrainische Stellungen zu schwächen. Die ukrainische Artillerie ist trotz einiger eintreffender moderner Geschütze aus dem Westen unterlegen. Aktuell wird um die Stadt Lyssytschansk gekämpft, aus dem benachbarten Sjewjerodonezk zogen sich die ukrainischen Truppen zurück.
Der bisherige Druck auf Russland reiche nicht aus, sagte Selenski und verwies darauf, dass allein am Mittwoch zehn russische Raketen auf die ukrainische Stadt Mikolajiw abgefeuert worden seien. „Und alle waren auf zivile Ziele gerichtet“, sagte er. Nach russischen Angaben habe man mit den Raketen einen militärischen Ausbildungsstützpunkt für „ausländische Söldner“ beschossen. Die Angaben lassen sich angesichts der andauernden Kriegshandlungen nicht unabhängig überprüfen.
Nach Erkenntnissen des US-Auslandsgeheimdienstes CIA will Russland weiterhin den Großteil der Ukraine einnehmen. „Wir schätzen Präsident Putin so ein, dass er im Grunde dieselben politischen Ziele verfolgt wie zuvor. Das heißt, den größten Teil der Ukraine einzunehmen“, sagt CIA-Direktorin Gina Haspel. Die Aussichten für den weiteren Verlauf des Krieges blieben daher „ziemlich düster“.
Die ukrainische Armee und die russische Seite haben nach eigenen Angaben insgesamt knapp 300 Gefangene ausgetauscht. In die Ukraine seien dabei 144 Menschen zurückgekehrt, sagte Selenskyj. Der älteste sei 65 Jahre alt und der jüngste 19. Unter den freigelassenen ukrainischen Soldaten seien auch 95 Kämpfer, die bis vor einigen Wochen das schwer umkämpfte Stahlwerk Azovstal in der mittlerweile von den Russen eroberten Hafenstadt Mariupol verteidigten.
Nach ukrainischen Angaben war es der größte Gefangenenaustausch seit Kriegsbeginn. Der Separatistenführer Denis Puschilin wiederum sprach von ebenfalls 144 prorussischen und russischen Kämpfern, die aus ukrainischer Gefangenschaft entlassen worden seien.
Mehr als vier Monate nach Beginn des russischen Angriffskrieges behauptete Putin erneut, die Kampfhandlungen liefen planmäßig. „Die Arbeit läuft ruhig, rhythmisch, die Truppen bewegen sich und erreichen die Linien, die ihnen als Etappenziele vorgegeben wurden“, sagte er vor Journalisten in der turkmenischen Hauptstadt Aschgabat. „Alles läuft nach Plan.“ Der Krieg wird von Russland offiziell als „Spezialoperation“ bezeichnet.
Wladimir Putin
Der russische Präsident erklärte vor Journalisten in der turkenischen Hauptstadt Aschgaba erneut: „Alles läuft nach Plan.“
Bild: via REUTERS
Russische Truppen waren am 24. Februar aus mehreren Richtungen in die Ukraine eingedrungen. Nachdem es ihnen nicht gelang, die Hauptstadt Kiew zu erreichen, konzentrieren sie sich auf die Industrieregion Donbass in der Ostukraine. Nach Einschätzung westlicher Experten rückt das russische Militär zwar vor, erleidet dabei aber hohe Verluste und verbraucht in hohem Tempo seine Artillerie-Munition.
Der russische Raketenangriff auf ein Einkaufszentrum in der ukrainischen Großstadt Krementschuk mit mindestens 20 Toten könnte dagegen nach Einschätzung britischer Geheimdienste ein Versehen gewesen sein. Es sei durchaus realistisch, dass die Attacke am Montag ein nahe gelegenes Infrastrukturziel habe treffen sollen, hieß es in einem am Mittwoch veröffentlichten Update des britischen Verteidigungsministeriums.
Zerstörtes Einkaufszentrum
Laut britischen Geheimdiensten könnte der Beschuss des zivilen Gebäudes in Krementschuk ein Versehen gewesen sein. Bei dem Angriff starben ukrainischen Angaben zufolge mindestens 20 Menschen.
Bild: IMAGO/Agencia EFE
Moskaus Angriffe mit Langstreckenraketen seien auch schon in der Vergangenheit ungenau gewesen, was zu einer hohen Zahl an zivilen Opfern geführt habe – etwa beim Beschuss des Bahnhofs in der Stadt Kramatorsk im April, hieß es weiter.
Üblicherweise teilt London mit scharfen Worten gegen Russland aus. Diesmal steht die Einschätzung der Briten im Kontrast zu der des ukrainischen Präsident Wolodimir Selenski. Dieser warf Russland in seiner täglichen Videobotschaft Terror vor und betonte, der Angriff gegen das Einkaufszentrum sei gezielt gewesen, um möglichst viele Menschen zu töten.
Amnesty International stuft den Luftangriff auf das Theater von Mariupol im März als Kriegsverbrechen der russischen Streitkräfte ein. Die Menschenrechtsorganisation sammelte gut drei Monate lang Beweise und legte nun einen Bericht dazu vor. „Bei dem Angriff auf das Theater in Mariupol handelt sich um ein Kriegsverbrechen seitens russischer Truppen“, betonte Julia Duchrow von Amnesty International Deutschland. Höchstwahrscheinlich seien zwei 500-Kilo-Bomben abgeworfen worden. In dem Theater hatten Einwohner der umkämpften ukrainischen Hafenstadt Schutz gesucht.
Kremlchef Putin bezeichnete russische Soldaten als „Helden“. Über sie müssten Lieder und Gedichte geschrieben werden und sie sollten Denkmäler bekommen, sagte er. Ukrainische und internationale Experten haben zahlreiche Fälle von Gewalt gegen Zivilisten durch russische Soldaten dokumentiert, wie etwa die Ermordung von Einwohnern im Kiewer Vorort Butscha. Moskau behauptet, die Gräueltaten seien Inszenierungen. Putin wollte sich nicht dazu äußern, wie lange die Kampfhandlungen noch andauern könnten. „Es wäre falsch, irgendwelche Fristen zu setzen“, sagte er. Intensivere Kampfhandlungen würden höhere Verluste bedeuten und „wir müssen vor allem daran denken, wie wir das Leben unserer Jungs erhalten können“.
Nachdem Russlands enger Verbündeter Syrien die beiden ostukrainischen Separatistengebiete Luhansk und Donezk als unabhängige Staaten anerkannte, will Selenski alle Beziehungen zu dem Land kappen. Russland habe dies aus Syrien „herausgepresst“, sagte er. Syrien war nach Russland das erste Land, das die Separatistengebiete als Staaten anerkannte. Moskau ist im syrischen Bürgerkrieg neben dem Iran der engste Verbündete der Führung in Damaskus. Nicht zuletzt dank des russischen Militäreinsatzes kontrollieren die Anhänger von Machthaber Baschar al-Assad wieder rund zwei Drittel des Landes.
Ein zentrales Thema wird das Kriegsgeschehen in der Ostukraine bleiben, wo weiter um die Stadt Lyssytschansk gekämpft wird. Die Nato wird sich zum Abschluss ihres Gipfels in Madrid unter anderem mit der durch Russlands Krieg ausgelösten Lebensmittelkrise und dem Einfluss Russlands und Chinas auf Länder in Afrika befassen. Das Ölkartell Opec+ trifft sich, um bei einer Online-Konferenz die Förderstrategie für August festzulegen. Es wird erwartet, dass die mehr als 20 Staaten unter Führung von Saudi-Arabien und Russland den Ölhahn weiter aufdrehen.
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