Zwei Erdbeben erschüttern die türkisch-syrische Grenzregion. Mehrere Provinzen sind betroffen, Gebäude eingestürzt. Viele Staaten schicken Rettungsteams – trotz politischer Konflikte.
Rettungsarbeiten nach dem Erdbeben in Aleppo, Syrien
Menschen suchen verzweifelt nach Verschütteten.
Bild: AP
Istanbul Die Zahl der Todesopfer nach dem Erdbeben in der Türkei und Syrien steigt weiter. In der Türkei ist die Zahl der Todesopfer auf 3549 gestiegen, wie Präsident Recep Tayyip Erdogan mitteilte. Mehr als 20.000 Menschen seien verletzt worden, teilte die Katastrophenschutzbehörde Afad am Dienstag mit. Mehr als 5700 Gebäude seien eingestürzt. Behörden und Einsatzkräften zufolge werden in Syrien inzwischen mindestens 1602 Tote gezählt.
Das endgültige Ausmaß der Katastrophe war weiter unklar, zahlreiche Menschen wurden unter Trümmern vermisst. Angehörige und Rettungskräfte suchten auch in der Nacht zum Dienstag weiter nach Verschütteten. Mittlerweile hätten 70 Länder ihre Hilfe bei der Suche nach und der Rettung von Erdbebenopfern angeboten, sagte Erdogan. Es gebe Pläne, die Hotels in der Region Antalya für Menschen zu öffnen, die von den Beben betroffen seien.
Am Dienstagmorgen hat nach Angaben der europäischen Erdbebenwarte EMSC ein neues Beben der Stärke 5,6 die Zentral-Türkei erschüttert. Das Epizentrum lag in einer Tiefe von zwei Kilometern.
Erdogan rief zudem den Notstand aus. Er gelte für drei Monate in zehn von den schweren Erdstößen betroffenen Städten. Zugleich kündigt Erdogan an, Hotels in der Touristenregion Antalya am Mittelmeer für Opfer der Beben öffnen zu wollen.
Zuvor wandte sich Erdogan in einer Fernsehansprache an die Bevölkerung. „Da die Beseitigung der Trümmer in vielen Gebäuden im Erdbebengebiet noch andauert, wissen wir nicht, wie hoch die Zahl der Toten und Verletzten sein wird“, sagte Erdogan. Er rief eine einwöchige Staatstrauer aus.
Ein Erdbeben der Stärke 7,7 hatte am frühen Montagmorgen (Ortszeit) für heftige Erschütterungen im Süden der Türkei sowie in Nordsyrien gesorgt. Auf beiden Seiten der Grenze wurden die Bewohner mehrere Stunden vor Sonnenaufgang vom ersten Beben aus dem Schlaf gerissen und eilten in einer kalten und regnerischen Winternacht nach draußen. Während mehrerer Nachbeben, davon eines mit der Stärke 7,5, liefen zahlreiche Fernsehkameras und zeichneten live auf, wie Häuser einstürzten.
Die Schockwellen waren in der gesamten Türkei sowie bis auf den Balkan und in Israel zu spüren. Die regionalen Flughäfen in den Städten Kahramanmaras, Gaziantep und Hatay wurden gesperrt, ebenso zahlreiche zerstörte Straßen in dem Gebiet. Eine 1600 Jahre alte Burg in der Stadt Gaziantep wurde teils zerstört.
Erdogan bezeichnete die Katastrophe als das größte Erdbeben seit 1939. Nach Angaben von EU-Vertretern war es eines der stärksten in der Region seit mehr als 100 Jahren.
Weitere Erdbeben, Kälte und Schnee erschweren die Hilfs- und Suchaktionen. Aktuell befinden sich unzählige Menschen aufgrund von Warnungen vor Nachbeben oder, weil ihre Häuser und Unterkünfte eingestürzt sind, im Freien – trotz eisiger Kälte, berichtete die Hilfsorganisation Care am Montag in Bonn. Durch das extreme Wetter und den Schneefall seien viele Straßen nicht passierbar und zahlreiche Lagerhäuser und Vorräte könnten nicht erreicht werden. Die Türkei bat ihre Nato-Partner um drei für extreme Wetterbedingungen geeignete Feldkrankenhäuser.
In Syrien sind Videoaufnahmen zufolge ebenfalls zahlreiche Gebäude eingestürzt, auch in Flüchtlingslagern nahe der türkischen Grenze habe es Zerstörungen gegeben. Unbestätigten Angaben zufolge sollen allein im Norden von Aleppo 250 Gebäude sowie 400 Wohnhäuser eingestürzt sein. In der Rebellenhochburg Idlib sind ganze Siedlungen dem Erdboden gleichgemacht worden, zeigen Drohnenbilder. Auf weiteren Videos ist zu sehen, wie aufgrund der Nachbeben Häuser einstürzten.
Über Twitter suchten viele Türkinnen und Türken Hilfe, die noch unter den Trümmern ihrer eingestürzten Häuser lagen. „Wir sind zu sechst und wissen nicht, wann die Trümmer um uns herum einstürzen“, schrieb eine Frau aus der nahe dem Epizentrum gelegenen Stadt Kahramanmaras. Eine andere Verschüttete schrieb: „Ich bin gefangen unter Trümmern, blute und verliere das Bewusstsein. Wenn mir niemand hilft, sterbe ich.“
Die Türkei hat Hilfsangebote von mehr als 45 Ländern erhalten. Unter anderem flogen Rettungsteams, Sanitäter und Wiederaufbauhelfer aus Bulgarien, Tschechien, Frankreich, Aserbaidschan, dem Libanon, England und Ungarn in den Südosten des Landes.
Szene aus Adana in der Türkei
Menschen und Rettungskräfte bergen eine Person aus einem eingestürzten Gebäude.
Bild: dpa
Helfer und Anwohner durchsuchen die Trümmer in der syrischen Stadt Harem
Die Erdstöße im türkisch-syrischen Grenzgebiet haben zahllose Gebäude zerstört.
Bild: AP
Über das Zentrum für Katastrophenhilfe der EU seien mehr als 30 Such- und Rettungsteams mobilisiert worden. Wie ein Sprecher der EU-Kommission am Dienstagmittag mitteilte, entspricht das insgesamt mehr als 1200 Rettungskräften und mehr als 70 Hunden. Miteingerechnet seien auch medizinische Teams.
Laut EU-Wirtschaftskomissar Paolo Gentiloni gebe es bei den Rettungsarbeiten auch Unterstützung per Satellit. Bislang hätten zudem 14 europäische Mitgliedsstaaten ihre Such- und Rettungsteams geschickt, sagt Gentiloni auf einer Online-Veranstaltung mehrerer deutscher Zeitungen und Zeitschriften. „Aber das geht natürlich weiter. Wir arbeiten auch über den Copernicus-Satelliten, um die Suche und Rettung von Menschen zu unterstützen“, sagt er.
Deutschland werde über Hilfsorganisationen wie Malteser International auch in Nordsyrien helfen, teilte das Auswärtige Amt mit. Am Nachmittag soll ein Krisenstab tagen, der die deutschen Hilfen koordinieren soll. „Wir werden alle Hilfen in Bewegung setzen, die wir aktivieren können“, erklärte Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Bundeskanzler Olaf Scholz und Außenminister Annalena Baerbock äußerten sich ähnlich.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat der Türkei wegen der schweren Erdbeben zusätzliche Hilfe in Aussicht gestellt. „Weitere Hilfslieferungen mit Notstromaggregaten, Zelten und Decken werden gerade zusammengestellt, um schnellstens starten zu können“, sagte die SPD-Politikerin am Dienstag.
Die USA boten „jede benötigte Hilfe“ an. Auch Staaten, mit denen vor allem die Türkei im Zwist liegt, boten Unterstützung an. Damit könnten alte Konflikte aufgeweicht werden. Griechenland erklärte sich trotz schwerer Spannungen mit Ankara bereit, Rettungsmannschaften in das Erdbebengebiet zu schicken.
Die beiden Nato-Mitglieder hatten sich bereits 1999 gegenseitig bei schweren Erdbeben geholfen. Diese als „Erdbebendiplomatie“ bezeichnete Hilfe leitete damals eine Phase der Entspannung ein. Auch Finnland und Schweden kündigten trotz der türkischen Blockade ihrer Nato-Anträge Hilfe an. Israel will der Türkei und auch Syrien Hilfe leisten.
Russland hatte am Montag beiden Ländern Hilfe zugesagt. In den kommenden Stunden sollen Rettungskräfte des russischen Zivilschutzes nach Syrien geflogen werden, teilte der Kreml mit. Auch der türkische Staatschef Erdogan wolle die russische Hilfe annehmen, hieß es aus dem Kreml.
Der iranische Präsident Ebrahim Raisi übermittelte am Montag Beileidsbekundungen, wie die staatliche Nachrichtenagentur Irna berichtete. Teheran sei bereit, sofortige Hilfe zu leisten. Der Iran ist neben Russland im Bürgerkrieg der wichtigste Verbündete des syrischen Machthabers Baschar al-Assad.
Eine der schwersten vom Erdbeben in der Nacht zum Montag betroffenen Gebiete war die syrische Region Idlib, die von Rebellen gehalten wird. Dies dürfte dort nach Einschätzung von Beobachtern die staatliche Nothilfe erschweren. Erst vor wenigen Monaten hatten die Regierungen in Ankara und Damaskus bekannt gegeben, über ein Ende der diplomatischen Eiszeit zu verhandeln.
Bergungsarbeiten im syrischen Hama
Die Erdbeben waren die stärksten Erschütterungen seit Jahrzehnten in der Region.
Bild: AP
Retter mit einem Kleinkind im türkischen Malatya
Dutzende Staaten haben angekündigt, Hilfstrupps in die betroffenen Gebiete zu entsenden.
Bild: AP
Das gemeinsame Schicksal könnte die beiden Länder nun zusammenführen. In Nordsyrien kämpft die türkische Regierung seit Langem um eine Pufferzone sowie um finanzielle Unterstützung für die Wiederansiedlung von Flüchtlingen. Internationale Geldgeber haben sich bisher schwer damit getan, Geld in von Rebellen gehaltene Gebiete zu überweisen.
Die Türkei ist immer wieder von schweren Erdbeben betroffen. Dort grenzen zwei der größten Kontinentalplatten aneinander: die afrikanische und die eurasische. Der größte Teil der türkischen Bevölkerung lebt faktisch in ständiger Erdbebengefahr.
Bei einem der folgenschwersten Beben der vergangenen Jahre kamen im Oktober 2020 in Izmir mehr als 100 Menschen ums Leben. Im Jahr 1999 war die Türkei von einer der schwersten Naturkatastrophen in ihrer Geschichte getroffen worden: Ein Beben der Stärke 7,4 in der Region um die nordwestliche Industriestadt Izmit kostete mehr als 17.000 Menschen das Leben. Für die größte türkische Stadt Istanbul erwarten Experten in naher Zukunft ebenfalls ein starkes Beben.
Mit Material von dpa und Reuters.
Erstpublikation 06.02.2023, 04:46 Uhr (zuletzt aktualisiert: 07.02.2023, 14:49 Uhr).
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