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17.08.2022

04:00

Ersatz für russische Energie

Türkei könnte Europas neues Gas-Drehkreuz werden – doch kann man Erdogan trauen?

Von: Ozan Demircan

Durch das Land am Bosporus verlaufen Hauptrouten für potenzielle Gasimporte. Das weckt Hoffnungen auf ein Ende der Energiekrise. Aber es gibt Risiken.

Gas-Pipeline in der Türkei Reuters

Pipeline in der Türkei

16 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr sollen die Pipelines Tap und Tanap liefern.

Unter ihnen ist auch ein Land, das bisher kein eigenes Erdgas fördert, aber ziemlich viel importiert und gen Westen weiterleiten könnte: die Türkei. Das Land wird als eines der Schlüsselländer gesehen, wenn es um die künftige Gasversorgung Europas geht. Das Türkei-Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung kommt in einer Analyse zu dem Schluss: „Der Ausbau des südlichen Gaskorridors und die Nutzung der Türkei als strategischer Energie-Hub mit Zugang zu Gasvorkommen im Kaspischen Meer und östlichen Mittelmeer können eine echte Alternative bieten.“

Doch bis dahin müssen einige schwierige Fragen beantwortet werden. Eine davon lautet: Kann man dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan trauen? Vor allem für Italien und die Balkanländer wäre die Türkei tatsächlich eine Alternative. Die Infrastruktur besteht größtenteils bereits, zwischen Bulgarien und der Türkei existiert sogar eine bislang weitestgehend ungenutzte Pipeline. Doch es gibt einige Hürden – und die Gefahr einer neuen Abhängigkeit, die in Europa niemand haben will.

Die Türkei kämpft selbst mit wirtschaftlichen Problemen

Im vergangenen Jahr hatte die Türkei offiziellen Angaben zufolge insgesamt 47 Milliarden Kubikmeter Gas importiert. 26,6 Milliarden Kubikmeter davon kamen über Gazprom aus Russland, was rund 45 Prozent des insgesamt in der Türkei verbrauchten Gases entspricht. Weitere 16 Prozent des türkischen Bedarfs wurden aus dem Iran gedeckt. Das ergibt fast zwei Drittel der türkischen Gasimporte. Gleichzeitig floss in den Jahren 2020 und 2021 rund die Hälfte des Gases, das aus Russland über die Pipeline Turkstream in die Türkei kam, weiter nach Europa.

Schon seit Jahren träumen deshalb Politiker und Unternehmer in Anatolien davon, als europäischer Gas-Hub zu fungieren. Erdogans Regierung arbeitete dementsprechend daran - und zwar mit Milliardeninvestitionen und einer anfänglichen Außenpolitik, die auf gute Beziehungen mit den türkischen Nachbarstaaten ausgerichtet war.

Inzwischen könnte die Türkei tatsächlich Erdgas aus verschiedenen Teilen des Mittleren Ostens gen Europa weiterleiten. Ein Projekt, europäische Gasimporte über die Türkei zu verteilen, läuft bereits: Es ist als südlicher Gaskorridor (SGC) bekannt. Über diese Pipeline wird Erdgas hauptsächlich aus dem Kaspischen Meer bis nach Italien gebracht.

Die technischen Vorbereitungen für den Gasimport aus dem Nordirak bestehen ebenfalls bereits, sogar eine Pipeline hat die Türkei bis an die irakische Grenze gebaut. Allein, die Zentralregierung in Bagdad stellt sich bislang quer, der autonomen Region Kurdistan im Nordirak zu erlauben, eigene Verträge mit ausländischen Firmen abzuschließen.

Auch israelisches Gas könnte über die Türkei in die EU-Staaten fließen. Israel und die Türkei nähern sich nach einem Jahrzehnt diplomatischen Streites wieder einander an. Experten schätzen, dass innerhalb von zwei bis drei Jahren die Bedingungen geschaffen werden könnten, israelisches Gas aus den Mittelmeerfeldern Leviathan und Tamar in die Türkei und von dort nach Europa zu befördern - etwa über die bereits bestehende Transanatolische Pipeline, sofern deren Kapazität ausgebaut wird.

Die Türkei wäre also durchaus als möglicher Zwischenhändler für Europa geeignet, der Erdgas aus verschiedenen Regionen sammelt und gen Westen weiterleitet. Wenn da nicht verschiedene Risiken wären.

Es geht um Verträge, technische Fragen und außenpolitische Konflikte

Zunächst ist der Transit von Gas aus einem Land über einen Mittler in ein anderes Land ein komplexes rechtliches Unterfangen. „Dazu benötigt man neben den technischen Voraussetzungen vor allem multilaterale Verträge und unter Umständen Gesetzesänderungen“, erklärte der türkische Energieanalyst Akif Aktürk gegenüber türkischen Medien. Weiter würde die Türkei größere Gasdepots benötigen, als sie bisher hat. Bei dem Ausbau eines Speichers hakt es derzeit - möglicherweise mangelt es an Geld.

Recep Tayyip Erdogan, Wladimir Putin via REUTERS

Recep Tayyip Erdogan (l.) und Wladimir Putin

Eine große Unbekannte in der Energiekrise: wie abhängig zeigt sich die Türkei von Russland?

Hinzu kommen außenpolitische Konflikte. So gibt es zwar eine weitestgehend ungenutzte Pipeline zwischen der Türkei und Griechenland und eine weitere nach Bulgarien, über die vor allem Südosteuropa mit Gas versorgt werden könnte. Doch einerseits führen die Pipelines durch das industrielle Herz der Türkei im Nordwesten des Landes und versorgen bisher vor allem im Winter Istanbul und die umliegenden Städte mit Erdgas.

>> Lesen Sie dazu auch: So abhängig ist Gazprom von Europa

Andererseits liegen Ankara und Athen derzeit wieder im Clinch über Seegrenzen und weitere Erdgasreserven im Mittelmeer - mit den üblichen politischen Sticheleien. Zudem wird in beiden Ländern im kommenden Jahr gewählt. Allzu viel Verständigung über das Thema Gas ist deshalb nicht zu erwarten.

Und schließlich ist da die Haltung der Türkei im Ukrainekrieg. Hier bestehen wohl die größten Probleme. Denn das Land liefert hocheffiziente Drohnen an die Ukraine. Gleichzeitig hat Ankara keine Sanktionen gegen Russland verhängt. Stattdessen will die türkische Regierung unter Staatschef Recep Tayyip Erdogan eine Mittlerposition einnehmen, hat bereits den Getreidedeal zwischen den beiden Kriegsparteien eingefädelt.

Diese Position könnte Erdogan in Schwierigkeiten bringen, wenn er Europa künftig mit Transit-Gas versorgen möchte. Das hat man bereits Ende April gemerkt. Damals drehte der Kreml Bulgarien das Gas ab.

In der Hauptstadt Sofia suchte die Regierung sofort nach Alternativen und fand sie im Nachbarland Türkei. Dort zeigte man sich grundsätzlich hilfsbereit. Doch weil Ankara gegenüber Russland weiterhin Neutralität pflegen will, ergab sich ein geopolitischer Konflikt: Russland deklarierte Bulgarien als „unfreundlichen Staat“ – seitdem hört man nichts mehr von der Türkei als Alternativlieferant für bulgarische Gasimporte.

Türkei zeigt sich abhängig von Russland und dem Iran

Und noch ein weiterer Vorfall zeigt, wie wackelig die Türkei als Gaslieferant wäre: Im Mai wurde die russisch-türkische Bluestream-Pipeline im Schwarzen Meer, über welche die Türkei 60 Prozent ihrer russischen Gasimporte ins Land leitet, geschlossen. Die Ankündigung der Russen dazu kam gerade einmal zwei Tage vorher, die Schließung wurde vom Staatskonzern Gazprom mit Wartungsarbeiten erklärt.

Offenbar hatte die Schließung aber andere Gründe - und verfehlte ihr Ziel nicht: Noch am selben Abend lehnte die Türkei den von den Russen kritisierten Nato-Beitritt von Schweden und Finnland ab.

Beispiele, die zeigen, in welcher sensiblen Position sich die Türkei befindet, gibt es reichlich. Im Januar dieses Jahres kappte der Iran plötzlich die Leitungen in die Türkei, und wie im Fall Russlands ohne lange Vorwarnung. Beide Regierungen liegen bei einigen Themen über Kreuz, etwa beim Krieg in Syrien, aber auch beim Thema Flüchtlinge.

Die Regierung in Teheran ließ verlauten, die ungewöhnlich niedrigen Temperaturen hätten den Gasverbrauch heimischer Haushalte in die Höhe getrieben. In der Folge könne weniger exportiert werden. Ob das so stimmte, ist bis heute nicht geklärt.

Die Türkei jedenfalls, damals unter einer Kältewelle leidend, traf die Lieferunterbrechung wie ein Schlag. Industriefirmen im ganzen Land mussten drei Tage lang die Produktion unterbrechen. Darunter auch Stahlwerke, deren empfindliche Maschinen bei jeder Unterbrechung anschließend wochenlang gewartet werden müssen. „Die deutschen Unternehmen blicken mit großer Sorge auf die angekündigten Stromabschaltungen“, erklärte Thilo Pahl, Geschäftsführer der Außenhandelskammer Istanbul, damals gegenüber dem Handelsblatt.

Und schon im Jahr 2014, dem Jahr der Krim-Annexion durch die Russen, hatte der Kreml plötzlich den Gasfluss in die Türkei gestoppt. Offenbar auch, um politische Ziele durchzusetzen. Einen Monat später waren die Leitungen wieder offen. In der Zwischenzeit hatte die türkische Regierung zugestimmt, die Turkstream-Pipeline zu bauen, mit der russisches Gas über die Türkei nach Europa exportiert werden sollte.

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