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09.09.2022

19:51

Essay

Balance zwischen Tradition und Wandel – Nach dem Tod der Queen suchen die Briten neuen Halt

Von: Torsten Riecke

Elizabeth II, die Monarchie und Großbritannien – das war 70 Jahre lang ein und dasselbe. Ihr Sohn und Nachfolger muss nun nicht nur die Union zusammenhalten.

Großbritannien befindet sich in einem radikalen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Wandel. AP

König Charles III. vor dem Buckingham Palace

Großbritannien befindet sich in einem radikalen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Wandel.

London Als die Eilmeldung vom Tod von Elizabeth II. am Donnerstagabend kurz nach halb sieben Großbritannien schockte, konnte man die Betroffenheit und Trauer in den Gesichtern vieler Briten sehen.

In den Pubs, auf der Straße, in den Supermärkten hielt eine Nation inne, die sich ein Leben ohne die Queen nicht vorstellen konnte. Die Hand vor dem Mund, viele mit Tränen in den Augen, der Verlust überall spürbar.

Wie beim tragischen Tod von Lady Diana vor 25 Jahren versammelte sich das geschockte Volk vor dem Buckingham Palast, um gemeinsam zu trauern. Für die Älteren war die Queen mit ihren 96 Jahren Zeitgenossin ihres eigenen Lebens, für die Jüngeren war sie die fürsorgliche „Granny“ der Nation.

Für alle Briten war sie zugleich der Anker, an dem man sich in schwierigen Zeiten festhalten konnte, und die Brücke zu der glorreichen und manchmal weniger glorreichen Vergangenheit – von der Suez-Krise 1956 über den Falkland-Krieg 1982 bis zum Brexit 2016. Nur der ehemalige Premierminister Winston Churchill genoss auf der Insel einen vergleichbaren Ruf.

Elizabeth II, die Monarchie und Großbritannien – das war 70 Jahre lang ein und dasselbe. Auf Briefmarken, Münzen oder zu Weihnachten, die Queen war immer sichtbar. „Man muss mich sehen, wenn die Menschen mir glauben sollen“, sagte sie.

Viele Briten sahen in der Queen das, was sie selbst gern sein möchten: unaufgeregt, selbstdiszipliniert, pflichtbewusst, herzlich. „Sie war die einzige Konstante im Leben der meisten von uns“ schreibt George Carey, der ehemalige Erzbischof von Canterbury.

„Die Queen ist tot, lang lebe der König“

Ihr Tod hinterlässt im Königreich eine emotionale Lücke, die weit größer ist als ein leerer Thron, auf den nun mit Charles III. ein 73-jähriger König folgt, von dem niemand weiß, wie er die Rolle des Staatsoberhauptes ausfüllen wird. „Die Queen ist tot, lang lebe der König“ – die alte Formel, mit der die Briten über Jahrhunderte den Wechsel an der Spitze ihrer Nation begleitet haben, sie verfängt und tröstet nicht mehr – oder noch nicht.

Großbritannien

Ewiger Thronfolger Charles ist neuer britischer König

Großbritannien: Ewiger Thronfolger Charles ist neuer britischer König

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Großbritannien befindet sich in einem historischen Umbruch und ist zugleich innerlich zerrissen: Das Land, noch immer verfangen in einer melancholischen Nostalgie imperialer Größe, sucht nach dem Brexit seinen neuen Platz in der Welt. Den EU-Austritt lehnt nach wie vor die Hälfte der Briten ab, wie eine Erhebung der Umfrage-Plattform „Panelbase“ zeigt.

Das rüttelt längst am Fundament der Union: Die Schotten fordern ein neues Referendum über ihre Unabhängigkeit. Die Nordiren wissen nach dem ungelösten Brexit-Streit mit der EU nicht, wohin sie gehören. „Es kann gut sein, dass das Vereinigte Königreich auseinanderbricht, dass Schottland seinen eigenen Weg geht, dass Irland wiedervereint wird“, warnt der britische Kolumnist Andrew Marr.

Hinzu kommt die größte Wirtschaftskrise seit 50 Jahren, die das Königreich in seinen Grundfesten erschüttert: stark steigende Lebenshaltungskosten, die Millionen von Familien in die Energiearmut stürzen.

Zweistellige Inflationsraten. Eine drohende, lange Rezession. Und erst seit wenigen Tagen wird das Land von einer neuen Premierministerin geführt, die mehr auf freie Märkte als auf Mitgefühl zu setzen scheint. „Die Queen war ein Fels des modernen Großbritanniens“, zollte Regierungschefin Liz Truss der Verstorbenen Tribut.

König Charles III AP

König Charles III.

Der neue König ist nach eigenen Worten entschlossen, sich nicht auf das Zerschneiden von Bändern zu beschränken.

„Großbritannien ist nicht kaputt, aber ich befürchte, dass wir jetzt in eine Ära des Niedergangs eintreten“, sagte der ehemalige britische EU-Handelskommissar Lord Peter Mandelson vor Kurzem in einem Interview mit dem Handelsblatt.

Zwar ist das Land eines der wenigen Atommächte und verfügt als eines von fünf ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates über globalen Einfluss. Was sich jedoch hinter dem Slogan von „Global Britain“ verbirgt, mit dem der Ex-Premier Boris Johnson seine Landsleute zum Austritt aus der EU verführte, das weiß bis heute niemand so genau.

Was ist eine moderne Monarchie im 21. Jahrhundert?

Hinzu kommt, dass sich Großbritannien wie viele westliche Industrienationen in einem radikalen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Wandel befindet. Die Queen selbst hatte den Zeitenwechsel bereits 2002 so beschrieben: „Seit 1952 habe ich miterlebt, wie sich die internationale Landschaft verändert hat und wie die Entwicklung im eigenen Land nicht minder rasant verlaufen ist: in der dezentralen Form unserer Nation, in der Struktur der Gesellschaft, in Technologie und Kommunikation, in unserer Arbeit und in der Art, wie wir leben.“

Großbritannien, Blumen für die verstorbene Queen Elizabeth dpa

Blumen für die verstorbene Queen

Ein als Wächter verkleideter Mann steht nach dem Tod von Königin Elizabeth II. vor dem Buckingham Palast.

Die Verstorbene ist dem Wandel zwar nicht hinterhergelaufen, aber ist ihm gemessenen Schrittes gefolgt. Manchmal allerdings auch etwas schneller. Etwa, als sie den damaligen König von Saudi-Arabien, Abdullah ibn Abd al-Aziz, damit schockierte, dass sie ihn selbst auf ihrem schottischen Landsitz Balmoral herumfuhr, während Frauen im saudischen Königreich noch Fahrverbot hatten.

Oder als sie 2012 zusammen mit Schauspieler Daniel Craig in einem James-Bond-Video auftrat. Mit der Zeichentrickfigur Paddington Bear, einer weiteren britischen Ikone, diskutierte sie über Marmeladen-Sandwiches. Der „Spectator“ nennt sie dafür eine „traditionelle Rebellin“. Für die „New York Times“ war sei ein „analoger Star im digitalen Zeitalter“.

Paddington Bear AP

Paddington

Mit der Zeichentrickfigur Paddington Bear, einer weiteren britischen Ikone, diskutierte sie über Marmeladen-Sandwiches.

Die britische Monarchie ist heute eine gut geölte PR-Maschine, der es nicht immer, aber doch meistens gelingt, die königliche Familie volksnah und majestätisch zugleich erscheinen zu lassen.

Charles III. muss auf diesem schmalen Grat jetzt weitergehen, will er das Erbe seiner Mutter bewahren. Das dürfte dem neuen König gerade in politisch heiklen Fragen wie dem Klimaschutz nicht ganz einfach fallen, wenn er nach eigenen Worten „entschlossen ist, sich nicht auf das Zerschneiden von Bändern zu beschränken“.

Kulturelle Herausforderungen für das Haus Windsor

Aber auch die königliche Familie selbst spürt den Veränderungsdruck. Dass Prinz Harry ein Leben in den USA mit seiner Frau, der US-Schauspielerin Meghan Markle, den königlichen Pflichten zu Hause vorzieht, ist nur ein Vorgeschmack auf die Herausforderungen für die Windsors – aber auch für den Teil der konservativen Briten, der sich mit dem multikulturellen Wandel schwertut.

Gut möglich, dass man sich im Buckingham Palast nicht nur wie im Falle Markles mit einer selbstbewussten Frau mit afro-amerikanischen Wurzeln anfreunden muss. Selbst die auf Tradition bedachte Londoner „Times“ hält es nur noch für eine Frage der Zeit, wann es im Hause Windsor eine gleichgeschlechtliche Ehe geben wird oder jemand muslimischen Glaubens in den Familienkreis eintritt. Dieses „Mit-der-Zeit-Gehen“ ist die Stärke der britischen Monarchie, aber stellt sie auch immer wieder vor neue Zerreißproben.

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