An diesem Freitag wird der Brexit Realität. In Brüssel ist die Sorge groß, dass vor der Küste Konkurrenz entsteht. Doch einen Wettlauf mit der EU kann sich Premier Johnson nicht leisten.
Brüssel, London, Düsseldorf Großbritannien sagt Goodbye. Nach 47 Jahren Mitgliedschaft tritt das Land diesen Freitag aus der Europäischen Union aus. Die 27 EU-Staaten stimmten als letzte Instanz am Donnerstag dem Austrittsabkommen zu. Damit beginnt eine Übergangszeit mit schwierigen Gesprächen zwischen London und der EU über ein neues Handelsabkommen.
Der britische Premierminister Boris Johnson besteht darauf, künftig von den EU-Regeln abweichen zu können. Die EU hingegen will sicherstellen, dass der neue Konkurrent keinen unfairen Wettbewerb bei Steuern, Staatshilfen und Umweltschutz starten kann.
Wohin die Reise der Briten gehe, sei aber noch sehr ungewiss, sagt Sam Lowe, Handelsexperte des britischen Centre for European Reform. Großbritannien werde versuchen, durch gezielte Regulierungsänderungen und Steueranreize internationale Investoren ins Land zu locken, prognostiziert Clemens Fuest, Präsident des Ifo-Instituts. Darin liege der Konfliktstoff mit der EU. Doch hätten beide Seiten ein großes Interesse daran, sich zu einigen. Auch in fünf Jahren werde es eine enge wirtschaftliche Beziehung zwischen der EU und Großbritannien geben.
Deutsche Wirtschaftsverbände riefen die britische Regierung auf, die Übergangsperiode, die bis Ende des Jahres läuft, zu verlängern. Ökonomen und Kapitalmarktexperten rechnen damit, dass die Zeit nicht ausreichen wird. Die Option einer Verlängerung wäre daher ein wichtiger Schritt, „um ein für beide Seiten gutes Abkommen auszuhandeln“, sagte Holger Bingmann, Präsident des Bundesverbands Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA). Die Bank of England dämpfte allerdings die Aufbruchstimmung der britischen Regierung und senkte ihre Prognose für das Wirtschaftswachstum 2020 auf 0,8 Prozent.
In Großbritannien bereitet man sich derweil erst einmal auf Freitag vor: Der Tag des Austritts aus der EU soll in London ein bisschen wie Silvester werden. Am Freitagabend steigt die große Brexit-Party am Parliament Square in der britischen Hauptstadt. Tausende werden erwartet, um Punkt 23 Uhr Ortszeit wollen sie anstoßen. Feuerwerk und das Läuten von Big Ben haben die Behörden zwar verboten, aber an allen Fahnenmasten rund um den Platz wird die Nationalflagge wehen. Nigel Farage, Wortführer der Brexit-Bewegung, wird die glorreiche Zukunft Großbritanniens beschwören.
Der konservative Premierminister Boris Johnson bleibt der Triumphfeier fern. Er wird sich an dem Abend nur in einer Fernsehansprache an das Volk wenden, um die Nation zum Zusammenhalt aufzurufen. Das wirkt staatsmännischer. Ein Countdown an der Fassade der Downing Street Nummer 10 wird die letzte Stunde herunterzählen.
47 Jahre EU-Mitgliedschaft sind dann vorbei. In Brüssel und Straßburg wird in der Nacht die britische Flagge vor den EU-Gebäuden eingeholt. Ein Exemplar kommt ins Museum der europäischen Geschichte. Die Gemeinschaft schrumpft zum ersten Mal – von 28 auf 27 Mitglieder.
Was aber bedeutet dieser historische Moment für die Zukunft des Königreichs – und für die Zukunft der Europäischen Union? Auf dem Kontinent geht ein Schreckgespenst um: Es heißt „Singapur an der Themse“ und ist eine Chiffre für einen entfesselten neuen Rivalen auf dem Weltmarkt, der nur 30 Kilometer vor der eigenen Küste sitzt. Premier Johnson tönt, Großbritannien werde nun den „Turbo“ einschalten, Handelsdeals auf aller Welt abschließen und daheim alle Landesteile am Wirtschaftsboom teilhaben lassen. Was ist dran an dieser Vision.
Unternehmer James Halligan lässt sich von Johnsons Optimismus anstecken. Der Chef der British Hovercraft Company in Sandwich, einem kleinen Ort an der Ostküste Englands, glaubt an die Idee einer durch und durch liberalen Volkswirtschaft, die Handel mit der ganzen Welt treibt. Zusammen mit seinen zehn Angestellten stellt der 57-Jährige kleine Hovercraft-Boote für den Freizeitgebrauch her.
In weniger als einer Stunde könnte er mit einem seiner Luftkissenfahrzeuge in Frankreich sein. Doch seine Ziele liegen weiter entfernt. Er habe neulich ein Geschäft mit Brasilien machen wollen, das sei an hohen Zöllen gescheitert, sagt er. Und hofft, dass sich das bald ändert.
Den Brexit sieht Halligan positiv: „Er bietet uns neue Möglichkeiten.“ Wenn Großbritannien erst einmal seine eigene Handelspolitik bestimmen könne, ließen sich ganz neue Märkte erschließen. An der EU stört ihn, dass sie zu viele Regeln aufstelle. „Die bremsen Unternehmen, vor allem kleine“, sagt er. „Uns wird sogar vorgeschrieben, dass aus Sicherheitsgründen zwei Leute eine Leiter halten müssen.“ Auf die Frage, welche EU-Regel er gern abschaffen würde, winkt er ab – „da würden wir hier gar nicht mehr aufhören“.
Ähnlich unklar klingt auch die britische Regierung. Sie scheint noch nicht zu wissen, was sie mit der neuen Freiheit nach dem Brexit überhaupt anfangen will. Klar ist nur, dass sie einen relativ harten Brexit anstrebt. Bis Ende 2020 dauert vorerst eine Übergangsperiode, in der sämtliche EU-Regeln weiter gelten. Danach wolle man von den europäischen Standards abweichen können, hat Johnson als grobe Marschrichtung vorgegeben. Das sei schließlich der Sinn des Brexits.
Nach Protesten aus der Wirtschaft sah sich Finanzminister Sajid Javid auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos gezwungen klarzustellen, dass man nicht auf Teufel komm raus alle EU-Regeln abschaffen wolle – sondern nur da, wo es „sinnvoll“ sei. Konkrete Vorstellungen gibt es jedoch nicht.
„Das war von Anfang an das Problem in der Brexit-Debatte“, sagt Sam Lowe, Handelsexperte bei der Londoner Denkfabrik Centre for European Reform. „Wenn man die Brexiteers fragt, welche Regeln sie denn abschaffen wollen, kommt entweder etwas Triviales oder gar nichts.“ Was könnten die Briten nach dem Brexit anders machen? Denkbar sind Veränderungen auf mehreren Feldern:
Großbritannien wird zumindest in den kommenden Jahren wohl eher ein Wohlfahrtsstaat europäischer Prägung bleiben. „Boris Johnson hat zwar große Veränderungen angekündigt, aber bislang keine wirklichen Schritte unternommen, um solche anzugehen“, sagt David Henig vom Thinktank UK Trade Policy Project. „Es ist nicht realistisch, dass Großbritannien zu einer Art Singapur an der Themse wird – dafür gibt es bisher keine Anzeichen.“
Die EU wird sich jedoch nicht auf das Wort der britischen Regierung verlassen. Sie will schriftliche Garantien, dass Großbritannien auch künftig die EU-Wettbewerbsregeln befolgt. Sonst gebe es keinen oder entsprechend geringeren Zugang zum Binnenmarkt, sagt Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Das von Johnson gewünschte Handelsabkommen mit null Zöllen und null Quoten gebe es nur bei „null Dumping“.
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