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30.01.2020

18:19

Was nutzt den Briten die neue Freiheit? Reuters

Fischerboot auf Brexit-Tour

Was nutzt den Briten die neue Freiheit?

EU-Austritt

Das Brexit-Experiment: Was bringt den Briten die neue Freiheit?

Von: Kerstin Leitel, Ruth Berschens, Carsten Volkery, Nicole Bastian

An diesem Freitag wird der Brexit Realität. In Brüssel ist die Sorge groß, dass vor der Küste Konkurrenz entsteht. Doch einen Wettlauf mit der EU kann sich Premier Johnson nicht leisten.

Brüssel, London, Düsseldorf Großbritannien sagt Goodbye. Nach 47 Jahren Mitgliedschaft tritt das Land diesen Freitag aus der Europäischen Union aus. Die 27 EU-Staaten stimmten als letzte Instanz am Donnerstag dem Austrittsabkommen zu. Damit beginnt eine Übergangszeit mit schwierigen Gesprächen zwischen London und der EU über ein neues Handelsabkommen.

Der britische Premierminister Boris Johnson besteht darauf, künftig von den EU-Regeln abweichen zu können. Die EU hingegen will sicherstellen, dass der neue Konkurrent keinen unfairen Wettbewerb bei Steuern, Staatshilfen und Umweltschutz starten kann.

Wohin die Reise der Briten gehe, sei aber noch sehr ungewiss, sagt Sam Lowe, Handelsexperte des britischen Centre for European Reform. Großbritannien werde versuchen, durch gezielte Regulierungsänderungen und Steueranreize internationale Investoren ins Land zu locken, prognostiziert Clemens Fuest, Präsident des Ifo-Instituts. Darin liege der Konfliktstoff mit der EU. Doch hätten beide Seiten ein großes Interesse daran, sich zu einigen. Auch in fünf Jahren werde es eine enge wirtschaftliche Beziehung zwischen der EU und Großbritannien geben.

Deutsche Wirtschaftsverbände riefen die britische Regierung auf, die Übergangsperiode, die bis Ende des Jahres läuft, zu verlängern. Ökonomen und Kapitalmarktexperten rechnen damit, dass die Zeit nicht ausreichen wird. Die Option einer Verlängerung wäre daher ein wichtiger Schritt, „um ein für beide Seiten gutes Abkommen auszuhandeln“, sagte Holger Bingmann, Präsident des Bundesverbands Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA). Die Bank of England dämpfte allerdings die Aufbruchstimmung der britischen Regierung und senkte ihre Prognose für das Wirtschaftswachstum 2020 auf 0,8 Prozent.

In Großbritannien bereitet man sich derweil erst einmal auf Freitag vor: Der Tag des Austritts aus der EU soll in London ein bisschen wie Silvester werden. Am Freitagabend steigt die große Brexit-Party am Parliament Square in der britischen Hauptstadt. Tausende werden erwartet, um Punkt 23 Uhr Ortszeit wollen sie anstoßen. Feuerwerk und das Läuten von Big Ben haben die Behörden zwar verboten, aber an allen Fahnenmasten rund um den Platz wird die Nationalflagge wehen. Nigel Farage, Wortführer der Brexit-Bewegung, wird die glorreiche Zukunft Großbritanniens beschwören.

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Der konservative Premierminister Boris Johnson bleibt der Triumphfeier fern. Er wird sich an dem Abend nur in einer Fernsehansprache an das Volk wenden, um die Nation zum Zusammenhalt aufzurufen. Das wirkt staatsmännischer. Ein Countdown an der Fassade der Downing Street Nummer 10 wird die letzte Stunde herunterzählen.

47 Jahre EU-Mitgliedschaft sind dann vorbei. In Brüssel und Straßburg wird in der Nacht die britische Flagge vor den EU-Gebäuden eingeholt. Ein Exemplar kommt ins Museum der europäischen Geschichte. Die Gemeinschaft schrumpft zum ersten Mal – von 28 auf 27 Mitglieder.

Was aber bedeutet dieser historische Moment für die Zukunft des Königreichs – und für die Zukunft der Europäischen Union? Auf dem Kontinent geht ein Schreckgespenst um: Es heißt „Singapur an der Themse“ und ist eine Chiffre für einen entfesselten neuen Rivalen auf dem Weltmarkt, der nur 30 Kilometer vor der eigenen Küste sitzt. Premier Johnson tönt, Großbritannien werde nun den „Turbo“ einschalten, Handelsdeals auf aller Welt abschließen und daheim alle Landesteile am Wirtschaftsboom teilhaben lassen. Was ist dran an dieser Vision.

Singapur an der Themse

Unternehmer James Halligan lässt sich von Johnsons Optimismus anstecken. Der Chef der British Hovercraft Company in Sandwich, einem kleinen Ort an der Ostküste Englands, glaubt an die Idee einer durch und durch liberalen Volkswirtschaft, die Handel mit der ganzen Welt treibt. Zusammen mit seinen zehn Angestellten stellt der 57-Jährige kleine Hovercraft-Boote für den Freizeitgebrauch her.

In weniger als einer Stunde könnte er mit einem seiner Luftkissenfahrzeuge in Frankreich sein. Doch seine Ziele liegen weiter entfernt. Er habe neulich ein Geschäft mit Brasilien machen wollen, das sei an hohen Zöllen gescheitert, sagt er. Und hofft, dass sich das bald ändert.

Den Brexit sieht Halligan positiv: „Er bietet uns neue Möglichkeiten.“ Wenn Großbritannien erst einmal seine eigene Handelspolitik bestimmen könne, ließen sich ganz neue Märkte erschließen. An der EU stört ihn, dass sie zu viele Regeln aufstelle. „Die bremsen Unternehmen, vor allem kleine“, sagt er. „Uns wird sogar vorgeschrieben, dass aus Sicherheitsgründen zwei Leute eine Leiter halten müssen.“ Auf die Frage, welche EU-Regel er gern abschaffen würde, winkt er ab – „da würden wir hier gar nicht mehr aufhören“.

Ähnlich unklar klingt auch die britische Regierung. Sie scheint noch nicht zu wissen, was sie mit der neuen Freiheit nach dem Brexit überhaupt anfangen will. Klar ist nur, dass sie einen relativ harten Brexit anstrebt. Bis Ende 2020 dauert vorerst eine Übergangsperiode, in der sämtliche EU-Regeln weiter gelten. Danach wolle man von den europäischen Standards abweichen können, hat Johnson als grobe Marschrichtung vorgegeben. Das sei schließlich der Sinn des Brexits.

Nach Protesten aus der Wirtschaft sah sich Finanzminister Sajid Javid auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos gezwungen klarzustellen, dass man nicht auf Teufel komm raus alle EU-Regeln abschaffen wolle – sondern nur da, wo es „sinnvoll“ sei. Konkrete Vorstellungen gibt es jedoch nicht.

„Das war von Anfang an das Problem in der Brexit-Debatte“, sagt Sam Lowe, Handelsexperte bei der Londoner Denkfabrik Centre for European Reform. „Wenn man die Brexiteers fragt, welche Regeln sie denn abschaffen wollen, kommt entweder etwas Triviales oder gar nichts.“ Was könnten die Briten nach dem Brexit anders machen? Denkbar sind Veränderungen auf mehreren Feldern:

  • Handel: Ende des Jahres verlässt Großbritannien die Europäische Zollunion und den Binnenmarkt, um künftig eigene Handelsdeals abschließen zu können. Die Regierung hofft, dass sie schneller und flexibler agieren kann, wenn sie ihre Position nicht mehr mit 27 Partnern abstimmen muss. Höchste Priorität hat eine Vereinbarung mit der EU. Parallel laufen auch Gespräche mit den USA. Bis Ende des Jahres will London zudem Abkommen mit Japan, Australien und Neuseeland unterzeichnen. Der Zeitplan gilt als illusorisch, Handelsgespräche dauern gewöhnlich mehrere Jahre. Ebenso fraglich ist, ob Großbritannien im Alleingang mehr durchsetzen kann als im Verbund mit der EU. Was bringt die neue Freiheit, wenn bei Handelsdeals große Partner wie die USA, die EU und China die Bedingungen diktieren? 2020 wird daher zum Realitätstest für die Briten.
  • Finanzmarkt: Die Europäer fürchten, dass die Briten ihren Finanzsektor wieder deregulieren. London ist neben New York das führende Finanzzentrum der Welt und dominiert unter anderem den Handel mit Euro-Derivativen. Vor der Finanzkrise 2007 waren die britischen Aufseher berüchtigt für ihre „Light touch“-Regulierung. Die Bank of England und die Financial Conduct Authority (FCA) beteuern, dass sie nicht in die alte Zeit zurückwollen. Sie bestehen jedoch auf dem Recht, die Regeln der Schlüsselbranche selbst zu setzen. Ein Finanzplatz wie London könne sich nicht der Finanzmarktregulierung aus Brüssel unterwerfen, sagte kürzlich der scheidende Notenbankchef Mark Carney.
    Das sei primär eine Frage des nationalen Stolzes, erklärt Alan Winters, Professor an der University of Sussex. Die britischen Aufseher hielten sich für die Besten in Europa und ließen sich auf ihrem Fachgebiet nur ungern etwas vorschreiben. Winters erwartet aber keine Deregulierungswelle. Die derzeitigen Aufseher seien allesamt „gebrannt von der Finanzkrise“. Sorgen machen müsse man sich erst wieder bei der nächsten Generation in 15 Jahren. Es gehe der britischen Regierung derzeit darum, nicht an künftige EU-Richtlinien gebunden zu sein – wie etwa an eine Finanztransaktionssteuer.
    Bei bestehenden Regeln sind allenfalls kleinere Änderungen denkbar. So war die EU-Obergrenze für Banker-Boni der britischen Regierung von Anfang an ein Dorn im Auge. Die Vorschrift gilt in London als kontraproduktiv, weil sie letztlich zu höheren Festgehältern in der Branche geführt hat. Eine Abschaffung wird Premier Johnson jedoch gut überlegen, denn sie wäre bei seinen Wählern aus der Arbeiterschicht nicht populär.
  • Steuern: Eine weitere Sorge der EU ist ein Unterbietungswettlauf bei Unternehmensteuern. Mit Irland (Steuersatz 12,5 Prozent) hat die EU zwar den größten Sünder bereits in den eigenen Reihen. Nun soll aber nicht auch nebenan noch ein ungleich größerer Drittstaat ausländische Direktinvestitionen ansaugen. Die Gefahr ist jedoch nicht akut: Die britische Regierung hat eine bereits vor Jahren verkündete Unternehmensteuersenkung gerade erst zurückgezogen, weil sie die Einnahmen benötigt. Der Unternehmensteuersatz bleibt bei 19 Prozent. Irische Verhältnisse drohen also erst einmal nicht. Am Status der Steueroasen auf den Kanalinseln und Überseegebieten ändert sich durch den Brexit nichts. Sie fallen schon bislang nicht unter EU-Recht.
  • Staatshilfen: Johnson hatte im Wahlkampf versprochen, bei öffentlichen Aufträgen britische Firmen zu bevorzugen und notleidenden Unternehmen schneller zu helfen. Ein erstes Beispiel lieferte er gerade mit Flybe. Weil die regionale Fluggesellschaft finanzielle Schwierigkeiten hatte, stundete die Regierung ihr anstehende Steuerzahlungen. Zudem hat Flybe Berichten zufolge einen Kredit bei der Regierung über 100 Millionen Pfund beantragt. Die Konkurrenten British Airways, Easyjet und Ryanair beschwerten sich.
    Der Fall Flybe stellt eine politische Kehrtwende dar: Dem Reiseveranstalter Thomas Cook hatte die Regierung vergangenes Jahr einen Kredit verwehrt, das Unternehmen rutschte in den Konkurs. Auch gegenüber dem Stahlverarbeitungsunternehmen British Steel hatte sich die Regierung 2018 unnachgiebig gezeigt und zur Begründung auf EU-Regeln verwiesen.
    Im europäischen Vergleich wurde Großbritannien bisher von der EU deutlich weniger wegen unerlaubter Staatshilfen verklagt als etwa Deutschland und Frankreich. In vielen Fällen habe die Regierung nicht den von der EU vorgegebenen Rahmen für Staatshilfen ausgeschöpft, sagen Experten. David Bailey von der Universität Birmingham glaubt nicht, dass Großbritannien nun einen neuen Weg einschlagen wird. Zum einen, weil es die Verhandlungen mit der EU über ein Freihandelsabkommen erschweren würde, zum anderen, weil dann für Nordirland wegen der Vereinbarungen im Austrittsabkommen andere Bedingungen gelten müssten.
  • Arbeitnehmerrechte: Seit Margaret Thatcher in den 1980er-Jahren die Gewerkschaften entmachtet hat, ist der britische Arbeitsmarkt einer der liberalsten in Europa. In der Folge hat die EU jedoch Arbeitszeitbeschränkungen, Rechte für Teilzeitbeschäftigte, Urlaubsansprüche und Gleichberechtigung am Arbeitsplatz durchgesetzt – manchmal gegen das Grummeln der britischen Regierung. In Brüssel wird nun befürchtet, dass London einige der Errungenschaften zurückdrehen könnte. „Boris Johnson hat in seinem Brexit-Gesetz die Verpflichtung zur Einhaltung von EU-Arbeitnehmerrechten ersatzlos gestrichen“, warnt etwa die Europaabgeordnete Katarina Barley (SPD). Auch hier erscheint es jedoch fraglich, ob Johnson wirklich den Zorn der britischen Wähler riskieren würde.
  • Umweltschutz: Bei Umweltpolitik und Tierschutz sieht sich Premier Johnson gern als Vorreiter. Im Wahlprogramm hatte er „das ehrgeizigste Umweltprogramm aller Länder der Welt“ versprochen. Stolz verweist er auf die Klimakonferenz COP26, die im Dezember im schottischen Glasgow stattfinden wird. Doch seine Rhetorik überzeugt nicht alle. Der Brexit sei ein „Sprung ins Ungewisse“, sagt Greenpeace-Experte Doug Parr. Bei den Handelsgesprächen mit den USA werde die britische Regierung unter enormen Druck geraten, die bisherigen Standards für Lebensmittel und Tierwohl auszuhebeln. Es könnten dann Produkte wie mit Chlor gereinigte Hühnchen und Fleisch von hormonbehandelten Rindern in britische Supermärkte kommen.
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Großbritannien wird zumindest in den kommenden Jahren wohl eher ein Wohlfahrtsstaat europäischer Prägung bleiben. „Boris Johnson hat zwar große Veränderungen angekündigt, aber bislang keine wirklichen Schritte unternommen, um solche anzugehen“, sagt David Henig vom Thinktank UK Trade Policy Project. „Es ist nicht realistisch, dass Großbritannien zu einer Art Singapur an der Themse wird – dafür gibt es bisher keine Anzeichen.“

Die EU wird sich jedoch nicht auf das Wort der britischen Regierung verlassen. Sie will schriftliche Garantien, dass Großbritannien auch künftig die EU-Wettbewerbsregeln befolgt. Sonst gebe es keinen oder entsprechend geringeren Zugang zum Binnenmarkt, sagt Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Das von Johnson gewünschte Handelsabkommen mit null Zöllen und null Quoten gebe es nur bei „null Dumping“.

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