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EU-Austritt

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Großbritannien first

Brüssel

Brexit: EU-Parlamentarier singen emotionales Abschiedslied

Brüssel: Brexit: EU-Parlamentarier singen emotionales Abschiedslied

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Wenn Johnson einen Wirtschaftsboom auslösen will, liegt die wahre Herausforderung nicht in der Handelspolitik. Er muss vielmehr die britische Wirtschaft produktiver machen. Jim O’Neill weiß, wie schwierig das ist. Der frühere Chefvolkswirt von Goldman Sachs sitzt inzwischen im Aufsichtsrat des Northern Powerhouse. Die Organisation will die wachsende Lücke zwischen dem Norden Englands und dem reichen Südosten um die Hauptstadt London schließen. Mit Johnson, hofft O’Neill, nimmt ein Premierminister diese Aufgabe nun endlich ernst. Der Tory hat den Kampf gegen das Süd-Nord-Gefälle zur Chefsache erklärt – nicht zuletzt, weil er es seinen neuen Wählern in den alten Arbeiterhochburgen schuldig ist.

Im März will die Regierung ein großes Konjunkturprogramm vorstellen. Unter anderem soll der Bau der Hochgeschwindigkeitsstrecke HS2 von London in den Norden Englands vorangetrieben werden. Auch der Transport zwischen den großen Städten im Norden soll verbessert werden. Ein Beispiel dafür lieferte die Regierung bereits: Weil sich seit Jahren die Passagiere über überfüllte, verspätete oder ganz ausgefallene Züge zwischen Manchester, Liverpool und Leeds beschweren, wird die Bahngesellschaft Northern Rail – eine Tochter der Deutschen Bahn – zum 1. März verstaatlicht.

Die geplanten Milliardenausgaben für Infrastruktur, Breitbandausbau und Universitäten werden die Wirtschaft dieses Jahr ankurbeln, glaubt O’Neill. Das Wachstum werde vermutlich über den vom Internationalen Währungsfonds (IWF) geschätzten 1,4 Prozent liegen. Doch sei die Gefahr groß, dass es nur ein Strohfeuer wird. Die Bank of England hingegen sieht die Konjunkturaussichten deutlich skeptischer: Die Notenbank senkte am Donnerstag ihre Wachstumsprognose für dieses Jahr auf 0,8 Prozent.

Die Probleme in den alten Industrieregionen seien über sechs Jahrzehnte gewachsen, sagt O’Neill. Die Jobs sind nach Asien abgewandert, die Ausbildung ist schlecht, die Infrastruktur überholt. Das lasse sich nicht in ein paar Jahren ändern. Johnson werde womöglich nicht ernten, was er sät. Immerhin plane er die richtigen Schritte: Die besseren Zugverbindungen seien entscheidend, um aus den Städten Liverpool, Manchester, Sheffield und Leeds einen wirtschaftlichen Ballungsraum mit neun Millionen Menschen zu machen. Er wäre so groß wie London und würde für globale Unternehmen interessant.

Auch die Universitäten des Nordens sollen mit zusätzlichen Forschungsgeldern ausgestattet werden. Das alles wäre indes einfacher umzusetzen, wenn Großbritannien in der EU geblieben wäre. Denn der Brexit wird den britischen Staat unterm Strich Geld kosten. Geld, was sonst in die strukturschwachen Regionen hätte fließen können.

Konjunkturbremse Brexit

Wie sehr der Brexit das Wirtschaftsleben belastet, zeigt ein Besuch bei Paul Jacksons Firma Chiltern Transport & Warehousing, gut 110 Kilometer nördlich von London. Der Tag des Austritts aus der EU ist für ihn alles andere als ein Grund zum Feiern. Das einzig Positive sei, „dass nun endlich Klarheit herrscht“, seufzt der 56-Jährige. Ein langjähriger Großkunde ist dem Spediteur im Zuge des Brexits bereits abgesprungen: Mehr als 15 Jahre lang hatten seine Lastwagen für eine britische Fluggesellschaft zwei bis dreimal pro Woche Sandwiches und Bordmagazine zu EU-Flughäfen geliefert, wo sie dann auf die Maschinen verteilt wurden. Nach dem Brexit-Votum im Jahr 2016 hat die Airline ein Lager in Belgien gebaut, von dem die Bord-Utensilien nun verteilt werden. Chiltern Transport & Warehousing verlor den Großauftrag.

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Bereits 100.000 Pfund hat der Spediteur für Brexit-Vorbereitungen ausgegeben, etwa für zusätzliche EU-Führerscheine oder Lizenzen. „Für ein kleines Unternehmen ist das viel Geld“, sagt er. 50 Lastwagen hat er, 70 Fahrer. Aber trotz der Vorbereitungen macht Jackson sich Sorgen, was passiert, wenn in Großbritannien künftig andere Vorschriften als in der EU gelten sollten. „Wenn wir bislang an der Autobahn in der EU angehalten wurden, wussten wir, was von uns gefordert ist. Aber wie wird das in Zukunft sein?“

Sollten die Kontrollen schärfer werden, würden sie mehr Zeit in Anspruch nehmen. Schon jetzt hätten die Wartezeiten an der Grenze Richtung Frankreich zugenommen, berichtet Jackson. „Wenn ein Lastwagen nur zwei Stunden warten muss, ist das ein massiver Kostenfaktor, den ich dem Kunden in Rechnung stellen muss.“ Vielen Briten sei das nicht bewusst. „Letztlich werden wir alle das an der Supermarktkasse zu spüren bekommen, es sei denn, Großbritannien und die EU einigen sich auf Freizügigkeit.“ Doch das hält er nicht für realistisch.

Die meisten Experten stimmen dem Spediteur zu. „Der Brexit ist kein wirtschaftliches Projekt, sondern ein politisches“, sagt Handelsexperte David Henig. Ökonomisch gesehen ist der Brexit Unfug. Er verschlechtert die Handelsbeziehung zum größten britischen Handelspartner, der EU, und verursacht zusätzliche Kosten. Abkommen mit dem Rest der Welt können den erschwerten Zugang zum EU-Binnenmarkt nicht aufwiegen. Ein Handelsabkommen mit den USA etwa würde für die britische Wirtschaft keinen großen Unterschied machen, sagt Peter Dixon, Chefvolkswirt bei der Commerzbank in London.

Sam Lowe vom Thinktank CER hat berechnet, wie stark die britischen Exporte einbrechen würden, wenn Briten und Europäer sich nur auf ein minimales Freihandelsabkommen über Güter einigen. Der Export der Finanzdienstleistungen etwa würde um 59 Prozent einbrechen. Der politische Druck, ein umfassenderes Abkommen auszuhandeln, werde daher wachsen, sagt Lowe.

Der wirtschaftliche Schaden des Brexits wird sich erst im Laufe der kommenden Jahre abzeichnen, doch die ersten Kosten lassen sich schon beziffern. Ökonomen schätzen, dass die britische Wirtschaft seit dem Brexit-Votum im Juni 2016 um zusammengenommen 2,5 Prozent langsamer gewachsen ist, als sie es sonst getan hätte. Das liegt vor allem daran, dass Unternehmen angesichts der unsicheren Lage ihre Investitionen zurückgefahren haben und erst einmal abwarten, wie es mit dem Brexit weitergeht.

In der Automobilbranche investierten die Unternehmen zum Beispiel im vergangenen Jahr 1,1 Milliarden Pfund auf der Insel – rund 60 Prozent weniger als im Schnitt der vergangenen sieben Jahre. Japanische und deutsche Autobauer haben bereits angefangen, ihre Produktion zu verlagern. Die Zahl der auf der Insel hergestellten Autos sank im vergangenen Jahr um 14,2 Prozent – es war der dritte Rückgang in Folge.

Selbst wenn die Europäer den Briten weiter zollfreien Marktzugang gewähren, würden die Investitionen aus dem Ausland weiter zurückgehen, sagt O’Neill. Großbritannien werde nicht mehr als Zugangstor zu Europa wahrgenommen. Die britische Regierung hofft, dass der Austritt am Freitag genug Klarheit schafft, um eine Investitionswelle auszulösen. Sie verweist auf die jüngsten Konjunkturdaten, die eine Stimmungsaufhellung zeigen. Doch Beobachter sind skeptisch. „Ein Unternehmen, das investieren will, hat im Februar nicht mehr Gewissheit als vorher“, sagt Dixon. „Die Unsicherheit über die künftige Handelsbeziehung bleibt.“

Die Proeuropäer auf der Insel setzen darauf, dass die Stimmung in der Bevölkerung früher oder später umschlägt, wenn die Brexit-Kosten sichtbar werden. „In einigen Jahren wird der Brexit so wahrgenommen wie der Irak-Krieg heute“, sagte Richard Wilson, Chef von Grassroots for Europe, kürzlich bei einer Veranstaltung in London. Dann sei es „unvermeidlich, dass wir wieder bei unseren Nachbarn in der EU landen.“ Vorerst bestimmen jedoch die Brexit-Hardliner die Regierungspolitik. Sie feiern den 31. Januar, als wäre es ihr neuer Nationalfeiertag. Der Tory-Abgeordnete Mark Francois will gleich die Brexit-Nacht durchmachen, um „den Sonnenaufgang in einem freien Land zu erleben“.

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