Nach dem Willen der EU-Kommission sollen Investitionen in Gas und Kernenergie als grüne Geldanlagen gelten. Was dahintersteckt und was die Entscheidung noch stoppen kann.
Atomkraftwerk im französischen Fessenheim
Die EU-Taxonomie soll die Frage beantworten: Was ist nachhaltig?
Bild: dpa
Brüssel Dass es ein heikles politisches Vorhaben ist, weiß man in Brüssel ganz genau. In der Silvesternacht 2021, zwei Stunden bevor das neue Jahr begann, schickte die EU-Kommission ihre Mitteilung zur EU-Taxonomie an die Mitgliedsländer raus – ein vermutlich nicht zufällig gewählter Zeitpunkt. Der Inhalt: die Entscheidung, ob Atomkraft und Erdgas jeweils als nachhaltige Wirtschaftstätigkeit gelten dürfen.
Darüber wird in Brüssel bereits seit Jahren erbittert gestritten. Die größten Streithähne dabei: Frankreich und Deutschland. Paris will den Klimawandel mit der CO2-freien Atomkraft bekämpfen, Berlin will als Kohleersatz zunächst übergangsweise auf Erdgas setzen.
Als Kompromiss will die EU-Kommission nun beide Formen der Energieerzeugung als nachhaltiges Investment deklarieren – unter bestimmten Bedingungen, wie zum Beispiel, dass Pläne für ein Atommüll-Endlager existieren oder dass Gaskraftwerke spätestens ab 2035 sogenannte „low carbon“-Gase einsetzen, die im Vergleich zum herkömmlichen Erdgas weniger CO2 emittieren. Österreich will gegen die Entscheidung klagen.
Die wichtigsten Fragen und Antworten zur der aktuellen Debatte.
Was ist die EU-Taxonomie eigentlich?
Dabei handelt es sich um ein Klassifizierungssystem für nachhaltige Finanzprodukte – quasi eine in Brüssel erarbeitete Liste aller ökologisch nachhaltigen Wirtschaftstätigkeiten. Damit soll die Frage verbindlich beantwortet werden: Wann arbeitet ein Unternehmen nachhaltig?
Das Ziel: Greenwashing vermeiden, Anlegern Orientierung geben, Finanzströme umleiten – und so letztlich den grünen Umbau der Wirtschaft finanzieren. Bis 2050 will die EU klimaneutral sein und bis 2030 ihren CO2-Ausstoß um mindestens 55 Prozent im Vergleich zu 1990 reduzieren.
Es gibt drei verschiedene Klassifizierungsbereiche bei der EU-Taxonomie. Was heißt das konkret?
Technologien können als „grün“, „ermöglichend“ und „übergangsweise“ eingestuft werden.
Als „grün“ gelten Technologien, die den folgenden sechs Umweltzielen dienen: dem Klimaschutz, der Klimawandelanpassung, dem Meeresschutz, dem Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft, Vermeidung von Umweltverschmutzung und dem Schutz der Artenvielfalt.
„Ermöglichende“ Technologien tragen selbst nicht wesentlich zum Klimaschutz bei, helfen jedoch anderen Unternehmen unmittelbar, ihren CO2-Ausstoß zu senken und umweltfreundlicher zu arbeiten. Ein Beispiel: der Bau von Pipelines.
Als Übergangstätigkeiten zählen Geschäftsfelder, für die es keine technisch oder wirtschaftlich machbaren emissionsarmen Alternativen gibt, die aber dennoch zum klimaneutralen Umbau der Wirtschaft beitragen.
Gibt es noch weitere Kriterien bei der EU-Taxonomie?
Zusätzlich zu den oben genannten Kategorien und ihren Definitionen gilt das „Do-No-Significant-Harm-Prinzip“ (DNSH). Unternehmen dürfen mit ihren Geschäften also dem Klima, der Umwelt oder der Gesellschaft keinen signifikanten Schaden zufügen.
Warum sollen Atomkraft und Gas als nachhaltiges Investment gelten?
Die EU-Kommission will Atomkraft und Erdgas in die Kategorie der Übergangstechnologien aufnehmen. Das Argument für Atomkraft ist ihre CO2-freie Stromerzeugung. Gas soll in diese Kategorie fallen, da bei dem Brennstoff weniger CO2 entsteht als zum Beispiel beim Verfeuern von Kohle.
Bundeskanzler Scholz und Frankreichs Präsident Macron auf dem EU-Gipfel Ende Dezember
Paris will den Klimawandel mit der CO2-freien Atomkraft bekämpfen, Berlin will als Kohle-Ersatz zunächst übergangsweise auf Erdgas setzen.
Bild: Bloomberg
Wer steht beim Streit darüber auf welcher Seite?
Frankreich führt das Pro-Atomkraft-Lager der EU an, Deutschland setzt sich vehement für Gas ein. Das Vorgehen der Kommission kann man als Kompromissvorschlag für beide Seiten und Lager verstehen.
Wer sind Befürworter und Gegner der Atomkraft?
In der EU sind die Atomkraft-Befürworter in der deutlichen Mehrheit. Offiziell zur Atomkraft bekannt haben sich neben Frankreich auch Finnland, die Visegrad-Staaten Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei, außerdem Slowenien und Kroatien sowie Rumänien und Bulgarien.
Entschiedene Gegner sind Deutschland, Österreich, Luxemburg, Dänemark und Portugal.
Auch in der Gruppe der Länder, die sich nicht offiziell, sondern nur tendenziell pro oder contra Kernenergie bekannt haben, sind die Atomkraft-Befürworter in der Mehrheit: So gibt es Signale aus den Niederlanden, Belgien und den baltischen Ländern, ihren Atomkraft-Kurs zugunsten neuer Kernkraftwerke zu überdenken. Als weitere tendenzielle Gegner der Atomkraft gelten dagegen bislang nur Italien, Spanien und Irland.
Können die Pläne der EU-Kommission noch gestoppt werden?
Bei der Mitteilung der Kommission handelt es sich um einen Entwurf zu einem delegierten Rechtsakt, der am 12. Januar offiziell veröffentlicht werden soll. Das bedeutet, dass das Vorhaben dann nicht mehr von Rat und Parlament geändert werden, sondern nur komplett abgelehnt werden kann.
Dafür ist im Rat eine qualifizierte Mehrheit nötig: 20 der 27 Mitgliedstaaten, die 65 Prozent der EU-Einwohner repräsentieren, müssten ein Veto einlegen. Ob der großen Zahl der Atomkraft-befürwortenden Länder ist dies aber nicht zu erreichen.
Im EU-Parlament reicht eine einfache Mehrheit für ein Veto – doch auch die gibt es nicht. Die Verordnung wird dann Ende 2022 in Kraft treten.
Österreich erwägt deswegen den Klageweg. Welche Möglichkeit gibt es da genau?
Die Atomkraft-Gegner könnten vor den Europäischen Gerichtshof ziehen – die österreichische Umweltministerin Leonore Gewessler hat bereits angekündigt, dies zu tun.
Ihr Ministerium hatte bereits im vergangenen Jahr ein juristisches Gutachten in Auftrag gegeben, wonach Atomkraft rechtlich gesehen kein nachhaltiges Investment sein kann. Die Argumente der Juristen der Kanzlei Redeker Sellner Dahs beziehen sich auf das DNSH-Prinzip und die drei Kategorien der EU-Taxonomie.
Österreichische Umweltministerin Leonore Gewessler
Ihr Ministerium hatte bereits im vergangenen Jahr ein juristisches Gutachten in Auftrag gegeben, wonach Atomkraft rechtlich gesehen kein nachhaltiges Investment sein kann.
Bild: AP
Aufgrund des Risikos von Reaktorunfällen und der Problematik mit dem Atommüll, für den es bislang keine Endlager-Lösung gibt, halten sie Atomkraft für unvereinbar mit dem DNSH-Prinzip.
Brüssel hält Investitionen in Kernenergie und Erdgas für nachhaltig. Österreich will dagegen klagen. Doch ist das so einfach?
Wegen der Umweltprobleme könne Atomkraft nicht in die Kategorie „grün“ fallen, argumentieren sie weiter. Als „ermöglichend“ könne sie nicht gelten, da als solche laut Definition nur Geschäftsfelder zählen, die selbst nicht CO2-frei sind. Und das Argument für Atomkraft sei eben ihre CO2-Freiheit. Gleiches gilt für die Kategorie der Übergangstechnologien: Auch diese sind laut Definition nicht CO2-frei, was die Atomkraft aber ist.
Wenn der Klageweg keinen Erfolg hat, werden dann überall in Europa Atomkraftwerke gebaut?
Die EU-Taxonomie hat mit einer generellen Erlaubnis oder einem generellen Verbot von Atomkraft innerhalb der Europäischen Union nichts zu tun. Jedes EU-Land entscheidet souverän über seinen Energiemix – also ob es Kernenergie nutzt oder nicht. Bei der EU-Taxonomie handelt es sich lediglich um die Frage, ob Investitionen in Atomkraft als nachhaltige Geldanlage gelabelt werden dürfen.
Allerdings sollen auch europäische grüne Anleihen und damit die Frage, wie grüne EU-Fördergelder verteilt werden, an den Regeln der EU-Taxonomie ausgerichtet werden. Somit werden dann letztlich auch deutsche Steuergelder in den Ausbau der europäischen Atomkraft fließen.
Auf tippen, dann auf „Zum Home-Bildschirm“ hinzufügen.
Auf tippen, dann „Zum Startbildschirm“ hinzufügen.
×
Kommentare (2)