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14.05.2019

16:13

EuGH-Urteil

Pflicht zur Arbeitszeiterfassung – „Vertrauensarbeitszeit in bisheriger Form nicht mehr möglich“

Von: Frank Specht

Unternehmen müssen die Arbeitszeiten der Mitarbeiter systematisch dokumentieren. Für Arbeitgeber ist das EuGH-Urteil ein Rückschlag: Sie befürchten ein untragbares Mehr an Bürokratie.

Das Urteil des EuGH könnte große Auswirkungen auf den Arbeitsalltag auch in Deutschland haben. dpa

Moderne Zeiterfassung bei der Arbeit

Das Urteil des EuGH könnte große Auswirkungen auf den Arbeitsalltag auch in Deutschland haben.

Luxemburg Für den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) gibt es nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Arbeitszeiterfassung allen Grund zum Jubeln: „Das Gericht schiebt der Flatrate-Arbeit einen Riegel vor – richtig so“, kommentierte DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach das Urteil. Denn die Anzahl unbezahlter Überstunden bewege sich in Deutschland seit Jahren auf einem inakzeptabel hohen Niveau. Das komme „einem Lohn- und Zeitdiebstahl gleich“, sagte Buntenbach.

Nach der Entscheidung der Luxemburger Richter sollen Arbeitgeber künftig verpflichtet werden, die Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten systematisch zu erfassen. Nur so lasse sich überprüfen, ob zulässige Arbeitszeiten überschritten würden.

Geklagt hatte eine spanische Gewerkschaft gegen die Deutsche Bank in Spanien. Sie wollte den Arbeitgeber verpflichten, die täglich geleisteten Stunden ihrer Mitarbeiter aufzuzeichnen und so die Einhaltung der vorgesehenen Arbeitszeiten sicherzustellen. Der Gesetzgeber ist nun gefordert, das Urteil in nationales Recht umzusetzen.

Für die Arbeitgeber ist der Richterspruch ein Schlag ins Gesicht – kämpfen sie doch gerade für eine Lockerung des Arbeitszeitgesetzes: „Die Entscheidung des EuGH zur Arbeitszeiterfassung wirkt wie aus der Zeit gefallen“, kommentierte die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). „Wir Arbeitgeber sind gegen die generelle Wiedereinführung der Stechuhr im 21. Jahrhundert.“ Auf die Anforderungen der Arbeitswelt 4.0 könne man nicht mit einer Arbeitszeiterfassung 1.0 reagieren.

Von einigen Spezialgesetzen wie dem Mindestlohngesetz und dem Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz abgesehen muss in Deutschland nur die Arbeitszeit erfasst werden, die über acht Stunden am Tag hinausgeht. Die Arbeitsrechtsexpertin Cornelia Marquardt von der Kanzlei Norton Rose Fulbright in München sieht deshalb eine neue Bürokratiewelle auf die deutschen Unternehmen zurollen.

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Für viele Arbeitnehmer sind Überstunden eine Belastung – und der Hauptkündigungsgrund. Dennoch hat die Zahl der Überstunden zuletzt stark zugenommen.

„Künftig müssen nach dem Votum der Luxemburger Richter alle Arbeitgeber dazu verpflichtet werden, ein Zeiterfassungssystem einzurichten, mit dem die von jedem Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann“, sagte Marquardt. Dabei fahre Deutschland gut mit der Vertrauensarbeitszeit, „durch die wir die Stechuhrenmentalität der vergangenen Jahrzehnte weitestgehend hinter uns gelassen haben“.

Das Urteil werde „massive Auswirkungen“ auf das deutsche Arbeitsrecht haben, prophezeit auch Michael Fuhlrott, Partner bei der Hamburger Kanzlei Michael Fuhlrott und Professor für Arbeitsrecht an der Hochschule Fresenius. In einigen Branchen wie zum Beispiel in der Produktion, wo Zeiterfassung gang und gäbe sei, ändere sich zwar nichts.

In vielen anderen Berufsbildern, etwa bei kaufmännischen Tätigkeiten mit Gleitzeitregelung, werde das aber anders sein: „Vertrauensarbeitszeit und nicht im Einzelnen erfasste Überstunden wird es in der bisherigen Form nicht mehr geben können“, sagt Fuhlrott.

Hälfte aller Überstunden sind unbezahlt

Für Arbeitnehmer werde es durch die Dokumentationspflichten künftig deutlich leichter, geleistete Überstunden geltend zu machen. Im vergangenen Jahr machten Arbeitnehmer in Deutschland knapp 2,2 Milliarden Überstunden, davon rund die Hälfte unbezahlt. Die Arbeitgeber hätten sich so rund 18 Milliarden Euro in die eigene Tasche gewirtschaftet, kritisiert der DGB.

Die Gewerkschaften pochen zudem darauf, dass sich nur mit lückenloser Zeiterfassung kontrollieren lässt, ob der Mindestlohn in voller Höhe gezahlt wird. So umgingen einige Arbeitgeber die Lohnuntergrenze dadurch, dass sie Arbeitnehmer länger arbeiten lassen, als auf dem Papier steht. Laut Gesetz gilt für die dem Mindestlohn unterliegenden Branchen die Aufzeichnungspflicht schon heute.

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Nach dem Arbeitszeitgesetz darf ein Arbeitnehmer an Werktagen in der Regel nicht mehr als acht Stunden täglich arbeiten – in Ausnahmefällen bis zu zehn Stunden. Zudem muss eine Ruhezeit zwischen zwei Arbeitsschichten von elf Stunden gewahrt werden.

Die Arbeitgeber würden die tägliche Höchstarbeitszeit gerne auf eine wöchentliche Basis umstellen. Dabei verweisen sie auf die Europäische Arbeitszeitrichtlinie, die eine Höchstgrenze von 48 Stunden in der Woche vorsieht.

Im Koalitionsvertrag haben Union und SPD zugesagt, Arbeitgebern und Gewerkschaften „Experimentierräume“ zu öffnen. Tarifgebundene Unternehmen können dann die Arbeitszeiten flexibler gestalten, wenn die Tarifpartner sich auf entsprechende Regelungen einigen.

Der Arbeitgeberverband BDA mahnt, dass die EuGH-Entscheidung keine Nachteile für Arbeitnehmer mit sich bringen dürfe, die schon heute flexibel arbeiten. Außerdem gelte auch künftig, dass der Arbeitgeber seine Arbeitnehmer verpflichten könne, die von ihnen geleistete Arbeit selbst aufzuzeichnen. Der Verband will so von vornherein zusätzlicher Bürokratie einen Riegel vorschieben.

Anders Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD): Er hat eine gründliche Prüfung des europäischen Urteils zur Arbeitszeit angekündigt. „Die Aufzeichnung von Arbeitszeit ist notwendig“, sagte Heil am Dienstag in Berlin. Ob nun Gesetzesänderungen in Deutschland notwendig seien, werde geprüft. Dabei werde er das Gespräch mit Gewerkschaften und Arbeitgebern suchen. Heil sagte, zunächst müsse klar sein, dass bestehendes Recht auch durchgesetzt werde. „Deutschland hat Recht und Ordnung“, sagte der Minister. „Wir wollen und werden das auch durchsetzen.“

Bestehende Regeln dürften nicht aufgeweicht werden. So sei bereits geplant, den Kampf gegen Schwarzarbeit zu verstärken. Zudem verwies Heil auf sein Vorhaben, Missstände in der Paketbranche anzugehen und die Nachunternehmerhaftung auf diese Branche auszuweiten.

Auch die Sprecherin für Arbeitnehmerrechte der Grünen-Bundestagsfraktion, Beate Müller-Gemmeke, begrüßte die Luxemburger Entscheidung: „Jetzt ist es endlich amtlich: Arbeitszeit muss immer erfasst werden.“ Das sei Voraussetzung dafür, dass Überstunden sichtbar würden und jede Stunde Arbeit auch tatsächlich bezahlt werde. „Gerade wenn es um Vertrauensarbeitszeit und Homeoffice geht, zeigt der EuGH, er ist auf der Höhe der Zeit.“

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Harsche Kritik übte die Internetwirtschaft: „Insbesondere Start-ups arbeiten nicht nach der Stechuhr wie vor 100 Jahren“, sagte Florian Nöll, Vorsitzender des Bundesverbands Deutsche Start-ups. Manche Mitarbeiter etwa müssten ihre Kinder um 15 Uhr aus Kitas abholen, an anderen Tagen arbeiteten sie dafür länger. „Die Flexibilität, die Arbeitnehmer selbst einfordern, wird durch solche Vorgaben eingeschränkt.“ Zudem erhöhe das Urteil die Bürokratiebelastung für Unternehmen zusätzlich, kritisierte Nöll.

In Deutschland existiere der klassische Acht-Stunden-Tag oft nur noch auf Papier, sagte auch der Präsident des IT-Verbands Bitkom, Achim Berg: „Viele Arbeitnehmer wollen flexibler arbeiten und fordern das aktiv ein.“ Die systematische Erfassung von Arbeitszeiten werde unzählige Arbeitnehmer und Arbeitgeber ins Unrecht setzen, kritisiert Berg. „Das EuGH-Urteil macht deutlich, dass unser Arbeitsrecht zwingend modernisiert und in das digitale Zeitalter überführt werden muss.“

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