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03.05.2021

17:33

Europa-Kolumne

Der Westen hat sein Überlegenheitsgefühl durch einen China-Komplex ersetzt

Von: Moritz Koch

Alles scheint Peking besser zu machen, ob Virusbekämpfung oder Wirtschaftspolitik. Doch wenn Europa nicht an sich glaubt, ist der Systemkonflikt schon verloren.

Europa-Kolumne: Die EU verliert Rückhalt der deutschen Wirtschaft

Europa-Kolumne

Jede Woche analysiert Moritz Koch, Leiter des Handelsblatt-Büros in Brüssel, im Wechsel mit anderen Brüsseler Korrespondenten Trends und Konflikte, Regulierungsvorhaben und Strategiekonzepte aus dem Innenleben der EU. Denn wer sich für Wirtschaft interessiert, muss wissen, was in Brüssel läuft. Sie erreichen ihn unter: [email protected]

Wer EU-Diplomaten danach fragt, was sie am meisten beunruhigt, erhält Antworten, die so vielfältig sind wie Europa selbst. Die einen verweisen auf Russlands Aggressionen gegen die Ukraine, die anderen auf die Fragilität des Nahen Ostens. Wieder andere fürchten die politischen Verwerfungen der Pandemie. Doch eine Antwort sticht hervor, weil sie zunächst überraschend klingt und man sie dennoch immer wieder hört. 

Die größte Bedrohung für Europa geht demnach von China aus, genauer: von der Selbstüberschätzung der chinesischen Führung. Mit seinem Titelbild, das ein Radarbild von Taiwan zwischen chinesischen und amerikanischen Flottenverbänden zeigt, hat der "Economist" deshalb einen Nerv in Brüssel getroffen.

Moment mal, mag man sich jetzt denken. Ist China nicht erstens sehr weit weg und zweitens das Problem der USA, deren globale Vormachtstellung die Volksrepublik infrage stellt? Beides ist auf den ersten Blick richtig, und doch irreführend. Und deshalb lohnt es sich, die Gründe für die wachsende Brüsseler Beunruhigung zu betrachten. 

Ausgangspunkt ist kein plumper China-Alarmismus, keine Wiederkehr der roten Angst, sondern, im Gegenteil, das Argument, dass in der aktuellen China-Debatte eine seltsame Schicksalsergebenheit mitschwingt. Der Aufstieg der autoritären Großmacht hat Europa in eine Sinnkrise gestürzt, wir waren uns unserer Sache zu sicher, umso größer ist jetzt die Verunsicherung: China beweist, dass politische Öffnung weder wirtschaftlichen Erfolg bedingt, noch wirtschaftlicher Erfolg politische Öffnung nach sich zieht. 

Das Verlangen der wachsenden chinesischen Mittelschicht nach demokratischer Mitbestimmung hält sich in überschaubaren Grenzen, China ist nicht Südkorea, lernen wir. Unsere bequeme Fortschrittstheorie, wonach Demokratie, Rechtsstaat und Markwirtschaft an der Spitze der politischen Evolutionsgeschichte stehen und sich in der Zwischenzeit, Wandel durch Handel sei Dank, reinen Gewissens gutes Geld verdienen lässt – diese Überzeugung ist dahin.

Alles scheint Peking besser zu machen: den Kampf gegen das Coronavirus, die Förderung von Hightech-Industrien, die Planung großer Infrastrukturprojekte, die Entwicklung hipper Handyapps. Der Westen, wenn es ihn überhaupt noch gibt, hat sein Überlegenheitsgefühl durch einen China-Komplex ersetzt. Auf einmal erscheint Peking übermächtig, wir wähnen uns in einer unentrinnbaren China-Falle, glauben dem Aufstieg der Hightech-Diktatur mehr oder minder hilflos ausgeliefert zu sein. 

Kaum ein Artikel über das europäische China-Dilemma kommt noch ohne einen Verweis auf die vermeintlich fatale Abhängigkeit Europas, speziell Deutschlands, vom chinesischen Markt aus. Tatsächlich ist die Volksrepublik der wichtigste Auslandsmarkt der Bundesrepublik geworden, gerade Autokonzerne wie Daimler und VW sind auf die Profite in China angewiesen. 

China braucht auch Deutschland

Allerdings ist diese Abhängigkeit nicht so einseitig, wie gern behauptet wird. China braucht europäische Technologien, deutsche Autobauer und ihre Zulieferer schaffen genau jene Art von Jobs, auf der die Legitimität des Regimes beruht. Das kann Peking nicht einfach aufs Spiel setzen, um politischen Druck auf Europa auszuüben.

Fataler als wirtschaftliche Abhängigkeit ist der China-Fatalismus, der auch Teile der Bundesregierung und insbesondere das Kanzleramt befallen hat. Wenn demokratische Staaten nicht mehr an sich glauben, ist der Systemkonflikt mit dem neuen Autoritarismus schon verloren. Europas Selbstzweifel bestätigen die chinesische Führung in ihrem Weltbild, darin besteht vielleicht das größte Risiko.  

Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping berauscht sich am Narrativ vom Niedergang des Westens, warnen China-Kenner in Brüssel. Er überschätze die eigene Macht und unterschätze die Gegenwehr der liberalen Demokratien, weniger die der Europäer, wohl aber die der USA

Ausgerechnet die deutsche Geschichte hält dafür ein warnendes Beispiel bereit: Xi erinnert mit seinem außenpolitischen Abenteurertum an Kaiser Wilhelm II. Statt sich, wie seine Vorgänger, an die Doktrin der strategischen Geduld und des friedvollen Aufstiegs zu halten, baut Xi künstliche Inseln zu Militärposten aus, bedroht Taiwan, drangsaliert Australien, bricht in Hongkong internationales Recht, nimmt westliche Bürger als Geiseln. Damit wächst das Risiko einer verhängnisvollen Fehlkalkulation – siehe 1914. 

Gefährlicher als die wachsende Stärke der Volksrepublik, so kann man es zusammenfassen, ist die Halbstärke des chinesischen Regimes, die begünstigt wird durch die Mutlosigkeit Europas.

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