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02.03.2020

08:15

Flüchtlingsdrama

Türkische Grenzöffnung: Tausende Menschen wollen nach Europa

Von: Ozan Demircan, Till Hoppe, Gerd Höhler, Moritz Koch

Die türkische Regierung provoziert die nächste Flüchtlingskrise in Europa. Griechenland fordert Unterstützung, aber eine europäische Lösung ist bislang nicht in Sicht.

Flüchtlingskrise vor Griechenland

„Tausende Menschen campieren hier bei Kälte unter freiem Himmel“

Flüchtlingskrise vor Griechenland: „Tausende Menschen campieren hier bei Kälte unter freiem Himmel“

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Istanbul, Athen, Brüssel, Berlin Es sind Szenen, die sich nach 2015 kein Europäer mehr gewünscht hatte: tausende Menschen, die auf eine Einreise in die Europäische Union drängen. „Wir wollen nach Europa“, skandieren sie. „Wir sind mit allem gekommen, was wir haben“, sagt eine afghanische Mutter, die mit ihren zwei Kindern an die türkisch-griechische Grenze angereist war. „Wir wussten nicht, dass die Grenztore geschlossen bleiben“, beschwert sich ein junger Mann. Eine ältere iranische Frau klagt: „Man hat uns gesagt, die Grenze sei geöffnet. Jetzt hängen wir ohne Essen im kalten Matsch fest!“

Verschiedenen Angaben zufolge sind zwischen 13.000 und 80.000 Migranten aus der Türkei am Wochenende an die griechische Grenze gekommen, um in die EU einzureisen und dort Asyl zu beantragen. Griechische Sicherheitskräfte setzten an den Grenzen Tränengas ein, um Migranten, die teilweise auch Steine warfen, zurückzudrängen. Mindestens 500 Menschen gelangten am Morgen mit Booten auf drei Mittelmeer-Inseln, wie ein Polizeivertreter sagte.

Grund für den Wunsch nach der Einreise in die EU ist eine gefährliche Eskalation im syrischen Idlib am vergangenen Donnerstag. Ein Angriff der syrischen Luftwaffe in einer von der Türkei kontrollierten Deeskalationszone tötete nach offiziellen Angaben mindestens 36 Soldaten. Die türkische Regierung kündigte in der Folge einen Kampfeinsatz in Idlib an. Außerdem erklärte Staatspräsident Erdogan, man werde Migranten im eigenen Land nicht mehr an einer Ausreise in die EU hindern. „Wir haben die Tore geöffnet.“

Es droht jetzt eine neue Flüchtlingskrise in Europa, mit allen unerwünschten Nebeneffekten. Rechtsradikale Parteien machen schon jetzt Stimmung gegen die Migranten vor den Toren der EU. Eine Eskalation, die sich lange angekündigt hatte. Sie zeigt auch, wie schlecht Europa auf neue Krisen vorbereitet ist – und wie abhängig der Kontinent in der Flüchtlingsfrage von der Türkei gewesen ist. Europapolitiker verteilen dementsprechend Durchhalteparolen und stellen altbekannte Forderungen. Griechenland wählt radikale Maßnahmen, um der Lage Herr zu werden.

Am Sonntagmorgen erreichten nach Angaben der griechischen Polizei sieben Boote mit mehr als 300 Menschen Lesbos, vier Boote mit 150 Passagieren kamen nach Samos und zwei Boote mit 70 bis 80 Menschen nach Chios. Während in griechischen Regierungskreisen von rund 3000 Menschen die Rede war, die sich an der Grenze versammelten hätten, bezifferte die Internationale Organisation für Migration die Zahl auf 13.000.

Am Freitag wurden 66 und am Samstag weitere 74 Migranten festgenommen, denen es gelungen war, die Grenze nach Griechenland zu überqueren. 17 von ihnen wurden noch am Samstag von einem Schnellrichter wegen illegaler Einreise zu Haftstrafen von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt.

Athen kündigte indes an, Einheiten der griechischen Armee würden am Montag auf den Inseln im Osten der Ägäis umfangreiche Schießübungen durchführen. Die Übungen sind aus Sicht von Kommentatoren eine Reaktion Athens auf den Zuwachs von Migranten, die am Vortag aus der Türkei zu den Inseln Lesbos, Chios und Samos übergesetzt hatten.

Bundesregierung belässt es bei Worten

Damit ändert Griechenland seine Politik: Bisher wurden nur Schleuser strafrechtlich verfolgt, die Migranten selbst gingen straffrei aus. Dass sie nun vor Gericht gestellt werden, soll offenbar der Abschreckung dienen. Die Bundesregierung wirft Russland und der syrischen Armee Kriegsverbrechen vor: „Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus sprechen niemanden von der Einhaltung des humanitären Völkerrechts frei“, betonte Außenminister Heiko Maas im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.

„Die Verantwortlichen müssten zur Rechenschaft gezogen werden.“ Wie das geschehen soll, verriet Maas nicht. Die Bundesregierung belässt es bei Appellen und Mahnungen. Aus dem Bundestag kommen Forderungen nach Sanktionen. Es brauche „individuelle Sanktionen gegen jene russischen und syrischen Generäle, die für die gezielte Bombardierung der Zivilbevölkerung verantwortlich sind“, sagte Franziska Brantner, europapolitische Sprecherin der Grünen, dem Handelsblatt.

FDP-Außenpolitiker Bijan Djir-Sarai spricht sich ebenfalls für „neue Sanktionen gegen Russland“ aus. Die SPD gibt sich zurückhaltend. „Ich glaube nicht, dass uns eine neue Sanktionsdebatte wirklich weiterhilft“, sagte Nils Schmid, außenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion.

Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschuss im Bundestag und Kandidat für den künftigen CDU-Vorsitz, Norbert Röttgen, forderte Unterstützung für die Türkei bei ihrem Engagement. „Es muss jetzt endlich zu einer klaren Verurteilung und echtem Druck auf Russland kommen“, schrieb Röttgen am Samstag auf Twitter. „Wir dürfen die Türkei nicht im Stich lassen.“

Lena Düpont, innenpolitische Sprecherin der CDU/CSU-Abgeordneten im Europaparlament, kritisierte die Türkei: Diese trage eine „Mitverantwortung für die angespannte Situation“ und dürfe die Notlage nicht als Druckmittel missbrauchen, sagte sie dem Handelsblatt. Die Grünen-Europaabgeordnete Hannah Neumann forderte „ein geordnetes Registrierungs- und Asylverfahren an der griechisch-türkischen Grenze und eine schnelle Weiterverteilung innerhalb der EU“.

EU-Ratspräsident Charles Michel telefonierte am Samstag mit Erdogan und betonte anschließend, die EU wolle ihren Part des Flüchtlingsabkommens erfüllen. EU-Migrationskommissar Margaritis Schinas hat angesichts der Lage an der griechisch-türkischen Grenze eine Sondersitzung der EU-Innenminister gefordert.

Griechische Polizisten bewachen die Grenze. dpa

Stacheldraht

Griechische Polizisten bewachen die Grenze.

Griechenland hatte zu dem Zeitpunkt bereits eine Sondersitzung der EU-Außenminister beantragt. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen teilte über Twitter mit, die EU sei zu weiterer Unterstützung mit zusätzlichen Kräften der europäischen Grenzschutzagentur Frontex bereit.

Die Türkei und die EU hatten im März, auf dem Höhepunkt der jüngsten Flüchtlingskrise, die Koordination der Migrantenströme vereinbart. Der Deal lautete: Die Türkei sorgt für die Unterbringung syrischer Flüchtlinge und erhält dafür insgesamt sechs Milliarden Euro von der EU. Bisher ist rund die Hälfte des Geldes geflossen.

Die Türkei beherbergte damals rund 2,5 Millionen Schutzsuchende, inzwischen sind es über 3,7 Millionen. Mehr als in jedem anderen Land der Welt und mehr als die EU zusammengerechnet aufgenommen hat. Hinzu kommt eine unbekannte Anzahl illegaler Migranten aus anderen Ländern, die sich teils unregistriert in der Türkei aufhalten.

Die Syrerinnen und Syrer in der Türkei dürfen zum Arzt, ihre Kinder gehen zur Schule, sie erhalten im Winter Kleidung und bekommen Sozialhilfe. Das alles wird zum Teil von der EU finanziert, zum Teil von der Türkei. Für Migranten und Flüchtlinge aus Irak, Afghanistan, aus afrikanischen oder ostasiatischen Ländern, die in der Türkei Zuflucht gefunden haben, gilt der „Flüchtlingspakt“ nicht.

Die Türkei ziehe sich nicht vom Flüchtlingspakt zurück, betonte Kommunikationsminister Fahrettin Altun am Sonntag. „Kein Bruder und keine Schwester aus Syrien ist gefragt worden, das Land zu verlassen. Wenn sie bleiben wollen, können sie das tun. Wenn sie gehen wollen, können sie das tun.“ Eine Darstellung, die in Europa umstritten ist: Dem Flüchtlingspakt zufolge soll die Türkei Migranten aller Nationalitäten aufhalten.

Zahl der Flüchtlinge auf Lesbos wächst rasant

Und so sind es vor allem Menschen aus Afghanistan, Irak, Iran, Ägypten und Somalia, die sich nun auf den Weg nach Griechenland machen. Nach Athener Regierungsangaben haben griechische Polizisten an der Landgrenze zur Türkei rund 10.000 Menschen daran gehindert, die Grenze zu überqueren. Diese Zahl wurde im Laufe des Wochenendes konstant nach oben korrigiert. Wie viele Menschen es tatsächlich über die Grenze geschafft haben, ist nicht erklärt worden.

Anders als auf der griechischen Insel Lesbos, wenige Kilometer vom türkischen Festland entfernt. Dort seien alleine am Sonntag über 500 Migranten angekommen, berichtete die griechische Küstenwache. Das ist mehr als doppelt so viel, wie in den vergangenen Wochen an einem ganzen Tag angekommen waren. Die Regierung in Athen hat wiederholt erklärt, Griechenland werde keine illegalen Grenzübertritte dulden.

Nach Berichten von Aktivisten sei ein Flüchtlingsboot mit 49 Insassen am Sonntagmittag (Ortszeit) auf dem Weg nach Lesbos zweimal von einem Schnellboot mit schwarz maskierten Männern angegriffen worden. Sie hätten demnach die Motoren des Schlauchbootes zerstört, die Flüchtlinge seien danach mit bloßen Händen weitergerudert. Weder die griechische noch die türkische Küstenwache hätten eingegriffen.

Aus der türkischen Opposition gibt es keine grundsätzliche Kritik am Vorgehen der Regierung. Es war die Oppositionspartei CHP selbst, die mit einem Anti-Migranten-Wahlkampf bei den Lokalwahlen 2019 einen Erdrutschsieg einfahren konnte. Und so fahren weiter Busse aus Istanbul an die griechische Grenze.

Erst waren die Fahrten umsonst angeboten worden, inzwischen werden bis zu 200 Lira pro Tour fällig, das sind umgerechnet knapp 30 Euro. Eine 15-köpfige Familie, die aus dem zentralanatolischen Konya an die Grenze gereist war, zahlte eigenen Angaben zufolge 500 Lira (über 70 Euro) pro Person für die Fahrt. „Wenn wir nicht über die Grenze kommen, verkaufen wir unsere Mobiltelefone und fahren wieder zurück“, sagt die Mutter, die ihren Namen nicht nennen wollte.

Für Griechenland kommt die Krise zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt. Athen steht wegen der skandalösen Zustände in den Insellagern ohnehin seit Jahren international in der Kritik. Die griechische Regierung fordert die Verteilung von Asylbewerbern innerhalb der EU. Aber auch innenpolitisch kommt Premier Kyriakos Mitsotakis unter wachsenden Druck. Seine Pläne, auf den Inseln neue, geschlossene Aufnahmelager zu bauen, stoßen auf heftigen Widerstand der örtlichen Bevölkerung.

Mitsotakis verspricht, die Inseln dadurch zu entlasten, dass die Asylverfahren beschleunigt und abgelehnte Bewerber zügig in die Türkei zurückgeschickt werden, wie es der Flüchtlingspakt vorsieht. Nach dessen Zusammenbruch ist allerdings kaum damit zu rechnen, dass Staatschef Erdogan abgeschobene Migranten aufnimmt. Athen steht damit in der Migrationspolitik wieder ganz am Anfang.

Die Lage an der EU-Außengrenze zwischen der Türkei und Bulgarien blieb hingegen auch am Sonntag ruhig. Kein einziger Migrant passierte der bulgarischen Regierung zufolge illegal die Grenze. Premierminister Borissow hatte bereits am Freitag mit Erdogan gesprochen. Daraus sei hervorgegangen, wie es hieß, dass es „zu diesem Zeitpunkt keine direkte Bedrohung für Bulgarien gibt“. Beide Regierungschefs wollen sich am Montag in Istanbul treffen.

Ein Grund für die unterschiedlichen Auswirkungen könnte die Tatsache sein, dass Bulgarien kein Mitglied des Schengenraumes ist, anders als Griechenland. Eine Weiterreise aus Bulgarien in Richtung Mitteleuropa ist daher für Flüchtlinge schwieriger, als wenn sie über Griechenland weiterreisen. Außerdem ist Bulgarien für die türkische Wirtschaft eine wichtige Transitachse in die EU. Vermutlich will die türkische Regierung nicht riskieren, dass Bulgarien die Grenze schließt.

Balkanroute weitgehend dicht

Anders weiter südlich an der griechisch-türkischen Grenze. Am Sonntagnachmittag verteilten Hilfskräfte der Vereinten Nationen sowie des Türkischen Roten Halbmonds Essenspakete an die Migranten. Viele Menschen wollen bleiben, in der Hoffnung, dass die Grenze doch geöffnet werden könnte.

Wie lange Griechenland angesichts des wachsenden Drucks die Sicherung der Grenze noch aufrechterhalten kann, ist offen. Sollte den Migranten die Einreise gelingen, würden sie wohl versuchen, in Nordgriechenland die Grenzen nach Bulgarien und Nordmazedonien zu überqueren, um nach West- und Nordeuropa weiterzuziehen. Die Grenzen auf der Balkanroute sind allerdings weitgehend dicht.

Damit könnten sich jetzt die Szenen vom Februar 2016 wiederholen. Damals kampierten nach der Schließung der Grenzen zehntausende Migranten wochenlang unter freien Himmel in einem Elendslager bei Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze. Einen Monat später wurde die EU aktiv: Sie schloss das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei.

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