PremiumDer Präsident hat keine Mehrheit für sein wichtigstes innenpolitisches Projekt. Stattdessen boxt er die Rentenreform per Verfassungskniff durch. Am Abend gibt es heftige Proteste.
Emmanuel Macron
Die französische Regierung will ihre Reform ohne Abstimmung durchs Parlament bringen.
Bild: via REUTERS
Paris Der Streit um die Rentenreform hat der französischen Politik dramatische Stunden beschert. Am Nachmittag entschied Präsident Emmanuel Macron schließlich, das Gesetz per Verfassungskniff und ohne Votum der Abgeordneten in Kraft zu setzen. Doch das Ringen um die Reform geht weiter.
Macron beriet mit seinen Getreuen bis kurz vor Beginn der entscheidenden Debatte in der Nationalversammlung darüber, ob er die Parlamentsabstimmung über seine umstrittene Rentenreform wagen sollte. Eine Mehrheit war ihm nicht sicher.
Die Reform, die unter anderem eine schrittweise Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 64 Jahre vorsieht, gilt als das wichtigste innenpolitische Vorhaben in Macrons zweiter Amtszeit. Mit dem Entschluss, das Gesetz über die im Verfassungsartikel 49.3 verankerten Sonderrechte der Regierung am Parlament vorbei durchzuboxen, geht er aber ein sehr großes Risiko ein.
Die Opposition kann den Text mit einem Misstrauensvotum gegen seine Regierung noch immer zu Fall bringen – ein mögliches Szenario, für das Macron in der Vergangenheit bereits angedroht hatte, dann das Parlament aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen.
Rechte und Linke Oppositionsparteien haben bereits angekündigt, ein Misstrauensvotum zu beantragen. Doch der Vorsitzende der konservativen Republikaner, Éric Ciotti, erklärte kurz darauf, dass seine Fraktion der Regierung nicht das Misstrauen aussprechen werde. „Wir werden uns niemals an einer Koalition der Extreme beteiligen“, sagte er. Damit dürfte eine Abstimmung keine Aussicht auf Erfolg haben, da Macrons Kräfte und die Republikaner gemeinsam eine Mehrheit im Parlament haben.
Der Staatschef läuft auch Gefahr, mit dem Ausbooten der Nationalversammlung bei einer so weitreichenden Sozialreform die ohnehin schon angespannte Stimmung in Frankreich weiter anzuheizen.
Der Präsident hatte seine Landsleute in den vergangenen Tagen im Glauben gelassen, dass er ein Parlamentsvotum und nicht das Prozedere des Artikels 49.3 anstreben würde. Die Gewerkschaften sprachen dem Gesetz umgehend die Rechtmäßigkeit ab und kündigten an, die massiven Streiks und Proteste fortzusetzen.
Bereits am Abend gab es bei Protesten 217 Festnahmen. Im Zentrum der Hauptstadt sei es auf dem Place de la Concorde zu Ausschreitungen gekommen, berichtete der Sender France Info. Die Bereitschaftspolizei setzte nach Medienberichten Wasserwerfer und Tränengas ein, um den Platz zu räumen. Demonstranten hatten dort unter anderem Holzpaletten in Brand gesetzt und Gegenstände auf die Polizisten geworfen. Insgesamt seien rund 6000 Teilnehmer gezählt worden. Auch in anderen französischen Städten wie Marseille, Dijon, Nantes, Rennes, Rouen, Grenoble, Toulouse und Nizza kam es zu Protesten.
Unter den Pfiffen und Buhrufen der Opposition sagte Macrons Premierministerin Élisabeth Borne in der Nationalversammlung, dass es bei der Suche nach einer Mehrheit am Ende eine „Unsicherheit“ von wenigen Stimmen gegeben habe. Das Gesetz sei als Kompromiss aus „engen Abstimmungen“ mit Gewerkschaften, Arbeitgebervertretern und dem Parlament hervorgegangen. Die Regierung wolle nicht zulassen, dass diese Arbeit nun zum Einsturz gebracht werde.
Macron selbst begründete sein Vorgehen laut französischen Medienberichten bei einer Sondersitzung seines Kabinetts am Donnerstag damit, dass ein Verzicht auf die Rentenreform „zu große finanzielle und wirtschaftliche Risiken“ mit sich brächte. Die Regierung stützt sich auf die Berechnungen eines beratenden Expertengremiums, das angesichts der alternden Bevölkerung vor einem wachsenden Milliardendefizit in der Rentenkasse gewarnt hatte.
Elisabeth Borne
Die französische Premierministerin verteidigte die Entscheidung der Regierung im Parlament.
Bild: Reuters
Nach wochenlangen Diskussionen hatte sich der Vermittlungsausschuss der beiden Parlamentskammern in Paris am Mittwoch auf einen gemeinsamen Gesetzestext für ein abschließendes Votum verständigt. Am Donnerstagvormittag passierte die Reform dann den Senat – die Zustimmung des Oberhauses war erwartet worden.
Als Wackelkandidat galt seit Beginn der Rentendebatte die Nationalversammlung: In der wichtigeren der beiden Kammern verfügt Macrons Regierung seit der Schlappe seines Mitte-Bündnisses bei den Parlamentswahlen im vergangenen Sommer über keine eigene Mehrheit mehr. Der Präsident hatte darauf gesetzt, dass die konservativ-bürgerlichen Republikaner seine Reformpläne mittragen. Offenbar konnte er aber nicht eine ausreichende Zahl von Abgeordneten der Republikaner von seiner Reform überzeugen.
Um kurz vor 15 Uhr, dem geplanten Beginn der abschließenden Debatte in der Nationalversammlung, zog Macron dann die Reißleine. Der Verfassungsartikel 49.3 ermöglicht der französischen Regierung unter bestimmten Voraussetzungen, Gesetze ohne parlamentarische Zustimmung zu erlassen. Nach einer Verfassungsreform aus dem Jahr 2008 kann die Regierung diesen Schachzug aber nur noch bei Haushaltsgesetzen anwenden – sowie jedes Jahr ein einziges Mal für ein anderes politisches Vorhaben.
Macron hatte die Reform der Rente lange vor sich hergeschoben. Einen Anlauf in seiner ersten Amtszeit brach er zu Beginn der Coronapandemie ab, auch damals gab es bereits massive Proteste gegen seine Pläne. Nach seiner Wiederwahl im Frühjahr 2022 wartete Macron zunächst ab und suchte dann erfolglos nach Kompromisslinien mit Gewerkschaften und Oppositionsparteien.
In seiner Neujahrsansprache erklärte er schließlich: „Dieses Jahr wird in der Tat das Jahr einer Rentenreform sein, die in den kommenden Jahrzehnten das Gleichgewicht unseres Systems gewährleisten wird.“ Mitte Januar legte seine Regierung dann die Einzelheiten des Gesetzes vor.
Die Franzosen sollen dem Reformgesetz zufolge ab dem Jahr 2030 grundsätzlich erst mit 64 Jahren in den Ruhestand gehen. Dafür soll das gesetzliche Renteneintrittsalter von gegenwärtig 62 Jahren ab September 2023 schrittweise angehoben werden. Großzügige Frühverrentungsregelungen für bestimmte Berufsgruppen will die Regierung abschaffen.
Besonders langjährige Erwerbsbiografien sollen allerdings berücksichtigt werden: Wer mindestens 43 Beitragsjahre aufweist, kann unter bestimmten Umständen auch schon früher ohne Abschläge in Rente gehen. Zudem soll die Mindestrente um 100 Euro auf rund 1200 Euro monatlich angehoben werden.
Der Widerstand gegen die Pläne des Präsidenten ist groß. In Umfragen spricht sich eine deutliche Mehrheit der Franzosen gegen einen späteren Eintritt in den Ruhestand aus. Bei Protestmärschen gingen in ganz Frankreich mehr als eine Million Menschen auf die Straße.
Seit Januar legten Streiks das Land lahm: Immer wieder fielen Fernzüge aus, U-Bahnen fuhren unregelmäßig, Schulen und Kindergärten blieben tageweise geschlossen. Lastwagenfahrer blockierten Straßen. An einigen Tankstellen wurde der Sprit knapp, weil Beschäftigte von Raffinerien die Arbeit niederlegten. In Paris prägen derzeit überquellende Abfalltonnen, Berge aus Pappkartons und schwarze Säcke voller Unrat das Hauptstadtbild, weil sich die Müllabfuhr im Ausstand befindet.
Während Macron am Donnerstag mit Vertretern seiner Regierung und seiner Parlamentsfraktion eine Krisensitzung abhielt, machten die Gewerkschaften vor dem Palais Bourbon mobil, dem Sitz der Nationalversammlung unweit des rechten Seine-Ufers. „Wir sind hier, weil wir glauben, dass die Volksvertreter die Meinung des Volkes respektieren müssen“, sagte der Chef der linken Hardliner-Gewerkschaft CGT, Philippe Martinez.
Die Proteste und Streiks würden unabhängig von der politischen Entscheidung fortgesetzt. Auch Laurent Berger, der die gemäßigtere Gewerkschaft CFDT anführt, machte deutlich: „Es wird neue Mobilisierungen geben.“
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