Die Regierung in Paris hat die Rentenreform ohne Abstimmung in der Nationalversammlung durchgedrückt. Die Bürger protestieren – und auch die Opposition will sich nicht geschlagen geben.
Proteste gegen die Rentenreform
In der Nacht ist es in der französischen Hauptstadt zu gewalttätigen Protesten gekommen.
Bild: dpa
Paris Am Ende waren es neun Stimmen, die Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und seine Rentenreform vorerst gerettet haben. Die Nationalversammlung in Paris lehnte einen Misstrauensantrag gegen Macrons Regierung am Montagabend mit dieser hauchdünnen Mehrheit ab. Der Widerstand gegen das Rentengesetz ist damit aber noch nicht gebrochen.
Die Gewerkschaften haben für Donnerstag zu einem weiteren landesweiten Protesttag aufgerufen. Und schon direkt nach dem gescheiterten Votum in der Nationalversammlung gingen Gegner der Reform in mehreren französischen Städten auf die Straße. Die Demonstrationen schlugen teils in Gewalt um. Allein in der Hauptstadt Paris wurden in der Nacht zu Dienstag Medienangaben zufolge 142 Menschen festgenommen. Elf Polizisten seien verletzt worden, berichtete der Sender BFMTV unter Berufung auf Polizeiquellen.
Die Linkspopulisten des Unbeugsamen Frankreich, die im Parlament ein Bündnis mit Sozialisten und Grünen anführen, forderten Macrons Premierministerin Élisabeth Borne angesichts des knappen Ergebnisses zum Rücktritt auf. „Die Regierung hat in den Augen der Franzosen keine Legitimität mehr“, sagte die Fraktionschefin der Unbeugsamen, Mathilde Panot.
Vom rechtsnationalen Rassemblement National hieß es, dass die hauchdünne Ablehnung des Misstrauensvotums das soziale Klima im Land nicht befrieden und die politische Krise nicht lösen werde. „Die Franzosen sind mit großer Mehrheit gegen die Reform und werden sich bei der nächsten Wahl daran erinnern“, erklärte Fraktionschefin Marine Le Pen.
Die Rentenreform gilt als das wichtigste innenpolitische Vorhaben in Macrons zweiter Amtszeit. Die Franzosen sollen ab dem Jahr 2030 grundsätzlich erst mit 64 Jahren in den Ruhestand gehen. Dafür soll das Renteneintrittsalter von gegenwärtig 62 Jahren ab September 2023 schrittweise angehoben werden.
Großzügige Frühverrentungsregelungen für bestimmte Berufsgruppen will die Regierung abschaffen. Besonders langjährige Erwerbsbiografien sollen allerdings berücksichtigt werden: Wer mindestens 43 Beitragsjahre aufweist, kann unter bestimmten Umständen auch schon früher ohne Abschläge in Rente gehen.
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Gegen die Reform gingen seit Januar bei mehreren landesweiten Protesten oft mehr als eine Million Demonstrierende auf die Straße. Streiks legten das öffentliche Leben teilweise lahm. In den vergangenen Tagen verschärften sich die Proteste, bei Krawallen wurden Hunderte Menschen festgenommen.
Macrons Mitte-Bündnis verfügt seit der Schlappe bei den Parlamentswahlen im vergangenen Sommer nicht mehr über eine eigene Mehrheit in der Nationalversammlung, der wichtigeren der beiden Parlamentskammern. Bei der Rentenreform hatte die Regierung eigentlich auf die Unterstützung der konservativ-bürgerlichen Republikaner gebaut, doch auch in ihren Reihen regte sich Widerstand.
Da die Mehrheit für das Gesetz in der Nationalversammlung wackelt, entschied sich Macron, das umstrittene Gesetz ohne Votum der Abgeordneten durchzuboxen. Seine Premierministerin Borne berief sich dazu am vergangenen Donnerstag auf eine Sondervollmacht.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron
Die französische Regierung kann unter bestimmten Voraussetzungen Gesetze ohne parlamentarische Zustimmung erlassen.
Bild: via REUTERS
Der Verfassungsartikel 49.3 ermöglicht der französischen Regierung unter bestimmten Voraussetzungen, Gesetze ohne parlamentarische Zustimmung zu erlassen. Nach einer Verfassungsreform aus dem Jahr 2008 kann dieser Schachzug aber nur noch bei Haushaltsgesetzen angewendet werden – sowie jedes Jahr ein einziges Mal für ein anderes politisches Vorhaben.
Für die Rentenreform zog Macron nun diesen Joker – und begründete dies unter anderem damit, dass sonst die finanzielle und wirtschaftliche Stabilität des Landes gefährdet sein könnte. Seine Gegner stachelte das brachiale Vorgehen dagegen nur noch weiter an. Im Parlament wurden zwei Misstrauensanträge gestellt, der eine vom rechtsnationalen Rassemblement National (Nationaler Zusammenschluss) und der andere von der kleinen Zentrumsfraktion Liot.
Der Wortführer der Liot-Gruppe, Charles de Courson, prangerte den Einsatz des Artikels 49.3 am Montag in der Nationalversammlung als „Manöver der Regierung zur Umgehung und Einschränkung der parlamentarischen Debatte“ an. Die Abstimmung über die Initiative der kleinen Zentrumsfraktion war das entscheidende Votum: Das linke Oppositionsbündnis Nupes um die Unbeugsamen, das mit dem RN nicht gemeinsame Sache machen wollte, unterstützte diesen Antrag von Anfang an.
Am Ende votierten auch der RN sowie ein Teil der Abgeordneten der Republikaner für die Liot-Initiative, die 278 Stimmen erhielt. Für einen Erfolg wären aber 287 Stimmen nötig gewesen, die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung. Auch über den eigenen Antrag des RN wurde abgestimmt, er erhielt aber lediglich 94 Stimmen.
Es hat keine klare und aufrichtige Debatte im Parlament gegeben. Dabei ist das eine verfassungsmäßige Voraussetzung. Dominique Rousseau, französischer Verfassungsrechtler
Seit Gründung der Fünften Republik in Frankreich durch Charles de Gaulle war überhaupt erst ein Misstrauensantrag gegen eine Regierung erfolgreich. Hätte die Nationalversammlung am Montag mit absoluter Mehrheit für die Initiative gestimmt, wäre nicht nur die Rentenreform von Macron gekippt worden. In diesem Fall hätte auch die Regierung um Borne zurücktreten müssen, außerdem hätte der Präsident wohl eine Auflösung der Nationalversammlungen und Neuwahlen des Parlaments angeordnet.
Nun gilt das Gesetz als verabschiedet. Die Hoffnung der Gewerkschaften ist, dass Macron unter dem Druck der Straße noch einknickt. Als Beispiel nennen sie geplante Flexibilisierung des Arbeitsmarktes unter Präsident Jacques Chirac im Jahr 2006: Angesichts massiver Proteste gegen einen aufgeweichten Kündigungsschutz bei Erstverträgen für junge Arbeitnehmer zog die damalige Regierung das Gesetz wieder zurück.
Die Opposition will außerdem den Verfassungsrat anrufen, um die Rechtmäßigkeit der Rentenreform überprüfen zu lassen. Der Ausgang des Verfahrens ist fraglich. Der französische Verfassungsrechtler Dominique Rousseau sagte dem Radiosende France Info, dass es durchaus Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes geben könnte – nicht beim Inhalt, aber bei der Form. „Es hat keine klare und aufrichtige Debatte im Parlament gegeben. Dabei ist das eine verfassungsmäßige Voraussetzung.“
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