Der Kursverfall des Yens lässt die Lohnkosten im Vergleich weiter sinken. Das macht das Land als Standort attraktiver – auch als Alternative zum kriselnden China.
Innenstadt von Tokio
Hochentwickelte Infrastruktur, schnelles Internet, qualifizierte Arbeitskräfte.
Bild: Bloomberg
Tokio Lange galt Japan als Hochlohnland, doch Jahrzehnte der Deflation und ein jüngst drastischer Kursverfall des Yens machen die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt für Arbeitgeber zum günstigen Standort. „Ein in Tokio ansässiger Softwareingenieur ist jetzt 30 Prozent billiger als einer in Vietnam, ganz zu schweigen vom Silicon Valley“, rechnet Jesper Koll vor, ein in Japan ansässiger Volkswirt und Direktor des Onlinebrokers Monex Securities.
Der Yen ist auf Jahressicht zum US-Dollar um 18 Prozent eingebrochen, zum Euro um gut fünf Prozent. Das lässt die Kosten in Japan im Vergleich weiter fallen – gepaart mit Wettbewerbsvorteilen wie stabilen Rahmenbedingungen, guter Infrastruktur und hochqualifizierten Arbeitskräften.
Koll erwartet deshalb eine „Investitionswelle“, die auf Japans Dienstleistungsunternehmen und Arbeitskräfte abzielt, nachdem Geschäftsleute seit Juni wieder freier einreisen dürfen. „Die aktuelle Yen-Schwäche stellt eine wichtige Chance dar, Japans Dienstleistungssektor in die Weltwirtschaft zu bringen.“
Auch die Statistiken des Japanischen Instituts für Arbeit (JIL) belegen die niedrigen Lohnkosten in Japan. Danach verdiente ein japanischer Beschäftigter in der Informations- und Kommunikationstechnik im Jahr 2020 im Schnitt monatlich 491.150 Yen. Das sind nach aktuellem Wechselkursen 3430 Euro. In Deutschland sind es 5790 Euro, in den USA 6650 Euro (7028 Dollar).
Auch bei Industriearbeitern ist der Unterschied immens: Ihr Monatslohn lag dem JIL zufolge bei umgerechnet 2640 Euro, in den USA bei 4780 Euro und in Deutschland bei 4598 Euro. Denn in Japan haben die Unternehmen die Löhne seit 1995 im Gegensatz zur Konkurrenz in vielen anderen Ländern kaum noch erhöht.
So könnte Asiens älteste Industrienation bei der Reorganisation der Lieferketten als Produktionsstandort für Hardware, Software und digitale Dienstleistungen attraktiv werden, sagen Experten und Praktiker. Zumal das bisher dominierende Investitionsziel China mit immer mehr Problemen infolge seiner Null-Covid-Politik, einer unkalkulierbaren Regulierungspolitik und der Entkopplung von den USA an Attraktivität verliert.
Chihiro Tamura, die bei der japanischen Außenhandelsorganisation Jetro für Neuansiedlungen zuständig ist, bemerkt bereits etwas mehr Interesse am Standort Japan. „Die Zahl von Firmen, die in Japan investieren, erhöht sich noch nicht drastisch, aber immer mehr ausländische Unternehmen schauen, welches asiatische Land am besten für eine Ansiedlung ist“, sagt Tamura.
Früher fiel die Wahl dann fast immer auf China, aber mit dem wachsenden politischen Risiko rückt nun oft auch Japan in den Fokus.
Auch die jüngste Mitgliederumfrage der Deutschen Auslandshandelskammer in Tokio und der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG, die dem Handelsblatt exklusiv vorab vorliegt, zeigt eine gestiegene Anziehungskraft der weltweit drittgrößten Volkswirtschaft. „Japan gewinnt zunehmend an Boden als asiatischer Hauptsitz deutscher Unternehmen“, sagt Kammerchef Marcus Schürmann dem Handelsblatt. Mit 22 Prozent der Nennungen rangiert das Land als Asienzentrale der befragten Unternehmen erstmals vor China und Singapur.
Das hat auch viel mit den wachsenden Risiken im Chinageschäft zu tun. Durch die Unterstützung Russlands im Ukrainekrieg sowie die fortschreitende Entkopplung verliere China als bevorzugte Hauptquartierfunktion an Boden, urteilt Schürmann. In einer Umfrage der Europäischen Handelskammer in China hatten kürzlich 23 Prozent der befragten Unternehmen angegeben, bestehende Aktivitäten oder neue Investitionen in andere Länder zu verlagern.
Japan hofft auch auf die Ansiedlung ausländischer Fabriken. Taiwans Chipkonzern TSMC baut beispielsweise mit staatlichen Subventionen und Investitionen von Partnern wie Sony und dem Automobilzulieferer Denso derzeit ein Halbleiterwerk für die örtliche Nachfrage. Der heimische Technikkonzern Panasonic rüstet eine alte Batteriefabrik auf, um neue Akkus für den US-Elektroautohersteller Tesla zu fertigen.
Japans größte Wettbewerbsvorteile sind der AHK-Umfrage zufolge mit mehr als 90 Prozent der Nennungen soziale und wirtschaftliche Stabilität, zuverlässige und langfristige Geschäftsbeziehungen, die hochentwickelte Infrastruktur mit pünktlichen Lieferungen und schnellem Internet sowie hochqualifizierte Arbeitskräfte. Das Land ist weiterhin einer der größten Patentanmelder, die jungen Japaner sind offen, für ausländische Firmen zu arbeiten.
Die Regierungen in Washington, Berlin und vielen anderen Ländern sehen in Japan zudem einen vertrauenswürdigen Partner beim Aufbau der Lieferketten.
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Diese politischen Faktoren würden in der angespannten Weltlage bedeutender, sagt Martin Schulz, Chefvolkswirt des Technikkonzerns Fujitsu. Das gelte nicht nur für japanische, europäische und amerikanische Unternehmen. „Selbst größere asiatische Unternehmen in Ländern wie Thailand und Südkorea müssen sehen, wie sie sich global sicher aufstellen,“, meint Schulz. „Da kann Japan eine erhebliche Rolle spielen, im Bereich digitaler Dienstleistungen und Produkte sogar eine weit größere als im verarbeitenden Gewerbe.“
Allerdings müssen Arbeitgeber gute Englischkenntnisse bei Managern extra honorieren, warnt Markus Schädlich, Managing Partner von CBI Partners, einer operativen Beratungsgesellschaft für ausländische Firmen in Japan. Dann zahle man für Manager oft ähnlich viel oder sogar mehr als in Deutschland oder anderen asiatischen Ländern. Um finanziell die Vorteile Japans zu nutzen, kommt es daher darauf an, eine international versierte Managerschicht mit relativ günstigen lokalen Arbeitskräften zu kombinieren.
Nicht zuletzt dürfte das asiatische Freihandelsabkommen RCEP, das Anfang des Jahres in Kraft getreten ist, die Attraktivität des Standorts Japan weiter erhöhen, sagt Ong Siew-wei, Chefin von Schenker-Seino, dem japanischen Arm des deutschen Logistikkonzerns DB Schenker. Das Abkommen vereint erstmals China, Japan und Südkorea in einem Zollbund und könnte in Ongs Augen die Region in eine große Fabrik umwandeln – zu Japans Vorteil.
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„Das Land hat ein enormes Potenzial, um mehr Produktion anzuziehen – und das ist etwas, was die japanische Regierung auch sehr unterstützt“, sagt Ong, die aus Singapur stammt und auch in China gearbeitet hat. „Ich denke, in vielen Ländern ist ‚made in Japan‘ ein Qualitätsbeweis, dessen Hebelwirkung in der Zukunft mehr und mehr asiatische und globale Unternehmen nutzen wollen.“
Für deutsche Firmen in Japan ist auch das sogenannte Drittmarktgeschäft von Japan aus wichtig. Denn Japans Unternehmen treffen oft weiterhin viele Entscheidungen in der Heimatzentrale. So können ausländische Firmen über die Zentrale Geschäfte in anderen Auslandsmärkten generieren.
Büroangestellte in Tokio
Die deutschen Unternehmen in Japan sind überwiegend optimistisch.
Bild: Bloomberg
Der AHK-Umfrage zufolge führen 58 Prozent der Unternehmen über ihre japanischen Landesniederlassungen Geschäfte mit japanischen Firmen in anderen Ländern durch, besonders in Südostasien. Für 43 Prozent der Firmen war dieses sogenannte Drittmarktgeschäft sogar 300 Prozent höher als der direkte Umsatz in Japan.
Die deutschen Unternehmen in Japan sind überwiegend optimistisch, denn viele können in ihren Nischen weiter wachsen, auch wenn die Volkswirtschaft insgesamt lahmt. Drei Viertel der 115 teilnehmenden Firmen in der AHK-Umfrage planen für 2022 mehr Umsatz ein, 55 Prozent mehr Gewinn und 47 Prozent höhere Investitionen. Nur drei Prozent wollen Personal abbauen. Noch optimistischer sehen sie die Entwicklung im kommenden Jahr.
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