Gerd Müller scheidet im Herbst aus dem Amt. Zuvor fordert der CSU-Politiker von den Industrieländern Milliarden für einen Fonds gegen Hunger und mehr Investitionen in Afrika.
Bundesentwicklungsminister Gerd Müller
Der CSU-Politiker fordert neue Finanzierungsmodelle für die Bekämpfung des Hungers auf der Welt.
Bild: obs
Nach acht Jahren als Entwicklungsminister zieht sich Gerd Müller aus der Politik zurück, verlässt nicht nur das Ministerium, sondern nach 27 Jahren auch den Bundestag. In seinem bisherigen Wirkungsfeld sieht der CSU-Politiker weiter große Herausforderungen, wie er im Gespräch unmittelbar nach dem Welternährungsgipfel in Rom erklärt.
Den Hunger sieht der 65-Jährige als größte Herausforderung nach der Pandemie: „120 Millionen Menschen fallen durch Covid-19 zusätzlich in Hunger und Armut“, sagt Müller im Gespräch mit dem Handelsblatt. Eigentlich müsse der Kampf gegen den Hunger „das globale Top-Thema Nummer eins sein“.
Täglich würden 15.000 Kinder daran sterben. Es sei ein Skandal, dass das Welternährungsprogramm mit 50 Prozent unterfinanziert sei und ein Defizit von acht Milliarden Dollar habe. „Wir können nicht jedes Jahr warten, bis wir die Fernsehbilder von Hungerkatastrophen sehen, um dann zu reagieren.“
Müller fordert einen präventiven Notkrisenfonds, den die Industrieländer mit zehn Milliarden Dollar füllen sollen. Von Europa verlangt er mehr Einsatz: „Wir dürfen nicht glauben, dass wir uns in Europa einfach vor den Weltproblemen abschotten können.“
Von den Unternehmen in Europa und Deutschland fordert Müller mehr Mut bei Investitionen in Entwicklungsländern: „Afrika ist der Weltmarkt der Zukunft.“ In den nächsten zehn Jahren werde dort so viel gebaut wie von „Madrid bis Moskau in den letzten hundert Jahren“. Dabei müssten europäische Investoren mit an der Spitze sein.
Herr Minister, war das Treffen in Rom ein erfolgreicher Gipfel für Sie?
Ich nehme Rückenwind mit. Der Austausch mit Wissenschaftlern und Politikern aus der ganzen Welt bestätigt: Wir haben das Wissen und die Technologie, um eine Welt ohne Hunger zu schaffen. Was notwendig ist, sind der politische Wille und ein stärkeres Commitment der Industrieländer beim UN-Gipfel im September in New York. Eine Welt ohne Hunger bedarf Investitionen von zusätzlich 40 Milliarden Euro pro Jahr durch die Weltgemeinschaft bis 2030.
Immer wieder rechnen Sie das vor, aber anscheinend hört niemand auf Sie.
Manchmal wundere ich mich schon, warum diese Vision, die in kurzer Zeit Realität werden kann, nicht eine größere Wirkmacht erzielt. Es geht hier schließlich um das Leben von Hunderten Millionen Menschen.
Ist denn genügend politischer Wille in Deutschland da?
Deutschland ist neben den USA Nummer zwei in der Finanzierung aller Institutionen, die sich die Bekämpfung des Hungers aufs Papier geschrieben haben. Aber wir brauchen neue Finanzierungsmodelle. Nur zehn Länder der Welt bringen 90 Prozent der Investitionen für Nothilfe auf. Aber da sind wir ja schon bei den Lösungsansätzen …
Was sind denn die Ursachen?
Hunger ist zuallererst der Bruder von Armut. Es ist grotesk: Drei Viertel der Hungernden sind Kleinbauern und ihre Familien. Im Augenblick steigen die Preise, was sie besonders trifft. Dazu kommen die Folgen von Kriegen wie im Irak, Syrien, Jemen. Der dritte Faktor ist der Klimawandel. Dürre und Hitze vernichten schon heute die Lebensgrundlage von 25 Millionen Menschen und reduzieren die Produktivität etwa in der Sahel-Region um bis zu 80 Prozent.
Und obendrauf kommt nun auch noch die Pandemie.
120 Millionen Menschen fallen durch Covid-19 zusätzlich in Hunger und Armut. Nach Jahren des Fortschritts eine Trendwende zum Negativen. Gleichzeitig wächst die Weltbevölkerung weiter. Jedes Jahr um 80 Millionen. Afrikas Bevölkerung wird sich bis 2050 verdoppeln. Das zeigt die gewaltige Herausforderung, eine Welt ohne Hunger zu schaffen. Es muss eigentlich das globale Top-Thema Nummer eins sein.
Und auf welchem Rang ist es aktuell?
Unter ferner liefen ... Die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit liegen weltweit bei 160 Milliarden Dollar, für Rüstung und Militär bei 2000 Milliarden. Es gibt Länder, auch europäische, die ihre Gelder für Entwicklungszusammenarbeit um 30 Prozent reduzieren. Auch die EU hat ihre Mittel gekürzt. Das ist inakzeptabel. Der Kampf gegen Hunger ist auch Friedenspolitik.
Wie wollen Sie konkret helfen?
Wir müssen die aktuellen Soforthilfen verdoppeln und so verhindern, dass täglich 15.000 Kinder an Hunger sterben. Es ist ein Skandal, dass das Welternährungsprogramm mit 50 Prozent unterfinanziert ist und derzeit ein Defizit von acht Milliarden Dollar hat. Wir können nicht jedes Jahr warten, bis wir die Fernsehbilder von Hungerkatastrophen sehen, um dann zu reagieren.
Also mehr Prävention?
Ja, es muss mehr im Vorfeld passieren. Ich fordere einen ständigen UN-Weltkrisenfonds, den die Industrieländer mit zehn Milliarden Dollar füllen und der je nach Bedarf eingesetzt wird. Die Pandemie zeigt doch, dass wir globale Probleme nur gemeinsam lösen können. Hier sind wir Europäer besonders gefordert: Das liegt auch im Eigeninteresse, denn Hunger ist Auslöser von Krisen und Flüchtlingsbewegungen.
Experten prognostizieren, dass sich allein die Zahl der Klimaflüchtlinge in den kommenden Jahren verfünffachen könnte …
Wir müssen verstehen, dass alles miteinander zusammenhängt. Wir dürfen nicht glauben, dass wir uns in Europa einfach vor den Weltproblemen abschotten können. Die Welt ist ein globales Dorf. Wir müssen Entwicklung viel stärker als Investition in unsere eigene Zukunft sehen.
Tut Deutschland genug?
Wir haben die Entwicklungsgelder verdoppelt in den letzten acht Jahren. Bei Covid-19 setzen wir auf den Aufbau einer eigenen Impfstoffproduktion in Entwicklungsländern: in Südafrika und im Senegal. Derzeit sind wir im Gespräch mit Ghana. In Afrika haben wir eine Impfquote von zwei Prozent. Notwendig ist, allen Entwicklungsländern den Zugang zu Impfstoffen zu ermöglichen. Denn wir besiegen das Virus nur weltweit oder nicht. Darüber hinaus brauchen wir grundsätzlich einen neuen ökonomischen Ansatz der Globalisierung.
Minister Müller besucht im Juni eine Impfstoffproduktion im Senegal
Die Impfquote gegen Covid-19 liege in Afrika gerade mal bei zwei Prozent.
Bild: imago images/photothek
Wie sieht der genau aus?
Wir müssen auf Investitionen und Wertschöpfung vor Ort setzen. Deshalb habe ich so für das Lieferkettengesetz gekämpft: Wenn die Menschen für Kaffee oder Kakao, Textilien oder Kobalt einen fairen Preis bekommen und die dortige Verarbeitungsindustrie gestärkt wird, dann haben die Menschen auch eine Zukunft in ihrer Heimat. Voraussetzung dafür ist ein neues Verständnis zwischen Reich und Arm. Ein Wandel von Charity zu Partnerschaft. Geld ist auf den Weltmärkten vorhanden. Wichtig ist, dass diese Investitionen in nachhaltige Entwicklung gehen – ohne Mensch und Natur auszubeuten.
Woran mangelt es vor allem?
An neuen innovativen Instrumenten. Es braucht eine bessere Risikoabsicherung für nachhaltige Privatinvestitionen in Entwicklungsländern. Dazu müssen die Weltbank und die Europäische Investitionsbank neue Instrumente für Investoren anbieten. Die Europäische Investitionsbank sollte zudem ihr Außenhandeln verstärken – gewissermaßen eine Europäische Außenhandels- und Entwicklungsbank werden. Im Augenblick richtet sie sich zu 90 Prozent nach innen.
Ist Europa zu sehr mit sich selbst beschäftigt?
Europa muss viel internationaler denken und handeln. Der Klimawandel stoppt weder an den EU-Außengrenzen, noch lässt er sich in Europa besiegen. Deswegen fordere ich, dass der EU-Wiederaufbaufonds und der Green Deal eine globale Komponente erhalten. Afrika ist der Weltmarkt der Zukunft. In den nächsten zehn Jahren wird dort so viel gebaut wie von Madrid bis Moskau in den letzten hundert Jahren. Und dabei müssen europäische Investoren mit an der Spitze sein.
Das scheint hier noch nicht überall angekommen zu sein.
Die EU-Entwicklungszusammenarbeit wurde sogar gekürzt, was ich für absolut kurzsichtig halte. Wir dürfen uns nicht nur auf das nationale Klein-Klein beschränken, sondern müssen die globale Dimension von Hunger, Klima, Artenverlust und Bevölkerungsentwicklung aufgreifen. Wegzuschauen ist nicht akzeptabel und auch nicht klug. Wir verabschieden uns selbst aus vielen Teilen der Welt und beklagen gleichzeitig das starke Engagement der Chinesen.
Können wir den Wettlauf mit China überhaupt noch gewinnen?
Wir müssen strategische Partnerschaften mit China entwickeln. Schon jetzt arbeiten die Chinesen mit uns in der Frage nachhaltiger Industriestrukturen zusammen. Ich sehe hier Chancen für ein starkes Miteinander, insbesondere mit der deutschen Wirtschaft. Entscheidend ist, dass China sich zu Nachhaltigkeit bei Investitionen verpflichtet.
Nach acht Jahren im Amt hören Sie auf, im November wechseln Sie nach Wien und werden künftig die Industrie-Agentur der UN leiten, die Unido. Was reizt Sie an der neuen Aufgabe?
Mein Schwerpunkt werden neue Investitionspartnerschaften sein. Neue Arbeitsplätze schaffen wir nur mit einer nachhaltigen Energiestruktur. In Afrika haben 600 Millionen aber noch keinen Zugang zu Elektrizität. Zur Nutzung von Sonne, Wind und Wasser bedarf es enormer Investitionen. Das sind enorme Win-win-Situationen für Entwicklungs- und Industrieländer, die Unido ist dazu genau die richtige Plattform.
Sie werden der erste Europäer an der Unido-Spitze sein. Spüren Sie den Druck?
Ich habe bei der Nominierung große Unterstützung der Entwicklungsländer bekommen, weil sie mit mir die Hoffnung auf neue Investitionen und Wirtschafts-Partnerschaften aus Europa verbinden. Ich baue da auch stark auf Unterstützung aus Deutschland. Es braucht noch viel mehr Mut bei den Unternehmen, auch die Chancen in Entwicklungsländern zu nutzen.
Herr Minister, danke für das Gespräch.
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