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05.09.2022

19:30

Interview

Peter Mandelson: „Ich befürchte, dass wir jetzt in eine Ära des Niedergangs eintreten“

Von: Torsten Riecke

Schulden, Inflation und Streiks: Der ehemalige EU-Handelskommissar befürchtet, dass die neue britische Premierministerin Großbritannien in eine Sackgasse führt.

Der Labour-Politiker, Ex-Minister und ehemalige EU-Handelskommissar sieht Großbritannien in einer Sackgasse. Bloomberg

Peter Mandelson

Der Labour-Politiker, Ex-Minister und ehemalige EU-Handelskommissar sieht Großbritannien in einer Sackgasse.

London Bittet man ihn um einen Blick in die Zukunft Großbritanniens, klingt Peter Mandelson besorgt: „Ich befürchte, dass wir jetzt in eine Ära des Niedergangs eintreten, wie wir sie schon einmal in den 1970er-Jahren erlebt haben, mit Schulden, Inflation und Streiks. In vielerlei Hinsicht ist es ein perfekter Sturm.“

Mandelson kennt die britische Politik seit mehr als 25 Jahren in- und auswendig. Er war der Wahlkampfmanager von Tony Blair und der Architekt der „New Labour Revolution“ 1997. Der heute 68-Jährige weiß auch wie kein Zweiter um die komplizierten Beziehungen seines Landes zur Europäischen Union.

Mandelson war nicht nur EU-Handelskommissar, sondern auch Minister für Nordirland – die Region, über die sich London und Brüssel seit dem Brexit streiten. Den Austritt Großbritanniens aus der EU hält der Lord auf Lebenszeit nach wie vor für einen schweren Fehler und befürchtet, dass das Verhältnis zu den europäischen Nachbarn unter Liz Truss weiter leiden wird.

Lord Mandelson, Liz Truss wird am Dienstag als neue Premierministerin die Regierung in Großbritannien übernehmen. Das Land steckt mitten in der tiefsten Krise seit 50 Jahren. Womit soll sie anfangen?
Sie muss zunächst zeigen, dass sie die Probleme in den Griff bekommt. Boris Johnson hat das nie geschafft. Nach ihren bisherigen Aussagen befürchte ich jedoch, dass Truss in dem politischen und intellektuellen Fantasieland weitermachen wird, das Johnson ihr hinterlassen hat.

Was meinen Sie damit?
Wie Johnson will sie den Pionier- und Erfindergeist Großbritanniens freisetzen. Jetzt, nach dem Brexit. Nur, wie, wann und mit welchen Mitteln und auf der Grundlage welchen politischen Konsenses, darüber gibt es keine intellektuelle Klarheit.

Truss präsentiert sich in der Tradition Margaret Thatchers als Störenfried althergebrachter Gewohnheiten. Ist das mehr als ein Image?
Sie ist keine zweite Thatcher. Ja, sie wettert gegen Konventionen und Orthodoxien. Gegen gängige Weisheiten darüber, wie die Wirtschaft funktioniert. Wir wissen, wogegen sie ist. Aber in der Praxis weiß niemand, wofür sie eigentlich steht.

Hier reinhören in unseren Podcast zu Liz Truss:

Zurück zu den Herausforderungen: Womit soll sie beginnen?
Sie muss ein Team mit Talenten zusammenstellen, eine Reihe von politischen Prioritäten setzen und einen klaren Plan für die Bewältigung der Bedrohungen aufstellen, denen wir gegenüberstehen. Sie muss schnell handeln, um das Vertrauen der Finanzmärkte in den Kurs Großbritanniens wiederherzustellen. Sie muss also das große Ganze im Blick haben.

Kann sie das schaffen?
Wenn die Berichte stimmen, wird sie ein Kabinett aus Leuten zusammenstellen, die sie mögen und vorgeben, so zu denken wie sie. Das ist kein guter Start. Truss wird mit einigen sehr, sehr harten Realitäten konfrontiert werden.

Was läuft schief im Vereinigten Königreich?
In vielerlei Hinsicht ist es ein perfekter Sturm. Aber er kommt nach einem Jahrzehnt, in dem die britische Wirtschaft durch aufeinanderfolgende Krisen schwer erschüttert wurde – von der Finanzkrise über den Brexit bis zur Pandemie. Großbritannien ist mit seinen Spitzenuniversitäten und Technologie-Start-ups immer noch ein guter Wirtschaftsstandort. Ich befürchte jedoch, dass wir jetzt in eine Ära des Niedergangs eintreten, wie wir sie schon einmal in den 1970er-Jahren erlebt haben, mit Schulden, Inflation und Streiks. All das stellt eine echte Bedrohung für den Lebensunterhalt der Menschen dar. Zudem sind wir heute ein stärker polarisiertes und gespaltenes Land, als ich es je erlebt habe.

Die voraussichtlich neue Premierministerin Großbritanniens Liz Truss vor dem Eingang in 10 Downing Street. AP

Auf dem Weg an die Macht: Liz Truss

Die voraussichtlich neue Premierministerin Großbritanniens Liz Truss vor dem Eingang in 10 Downing Street.

Was bedeutet der Regierungswechsel in London für das angespannte Verhältnis zur EU?
Es ist sehr schwer vorstellbar, wie sie die Rhetorik und Feindseligkeit, die sie gegenüber unseren europäischen Nachbarn an den Tag gelegt hat, zurücknehmen kann. Nach ihren Attacken besonders gegen Frankreich scheint es keinen gemeinsamen Nenner zu geben. Sie hat Großbritannien damit in eine Sackgasse geführt. Bis wir da wieder rausfinden, wird es einige Zeit dauern.

Warum steuert Truss einen harten Kurs gegen die EU?
Als frühere Anhängerin der EU-Mitgliedschaft musste sie ihre politische Glaubwürdigkeit bei den Tories wiederherstellen, indem sie sich in eine Brexit-Ideologin verwandelte. Wenn sie davon einen Rückzieher machen sollte, würden die Brexit-Anhänger sie steinigen.

Kann Truss als neue Parteichefin die Tories wieder zusammenführen und auch die Wähler in den früheren Labour-Hochburgen im Norden bei der Stange halten?
Mein früherer Wahlkreis lag im einstmals roten Nordosten und ging 2019 an die Konservativen verloren. Dort sagen mir die Leute, dass sie 2019 für Johnson gestimmt haben und nicht für die Tories. Jetzt ist Johnson weg, und viele Wähler fühlen sich den Konservativen nicht verpflichtet. Es wird also eine Menge Rückschläge für die Tories im Norden geben. Auch im eigentlich konservativen Süden sinkt die Zustimmung.

Woran liegt das?
Viele konservative Wähler haben keine ideologische Weltanschauung. Sie haben vielleicht für den Austritt aus der EU gestimmt, sehen jetzt aber nicht das neue Großbritannien, das ihnen nach dem Brexit versprochen wurde. Großbritannien ist nicht das einzige Land, das große Probleme hat. Aber der Brexit ist eine schreckliche, selbst zugefügte Wunde, die unseren Handel schwächt und auch unseren politischen Zusammenhalt gefährdet.

Brexit-Anhänger und Gegner protestieren in London gegen beziehungsweise für den EU-Austritt ihres Landes. (Archivfoto) dpa

Brexit bleibt eine offene Wunde

Brexit-Anhänger und Gegner protestieren in London gegen beziehungsweise für den EU-Austritt ihres Landes. (Archivfoto)

Die nächsten Wahlen finden spätestens in zwei Jahren statt. Hat Ihre Labour-Partei eine Chance, wieder an die Macht zu kommen?
Ich möchte, dass Labour eine Vision vorstellt. Einen Plan, um das Land voranzubringen, um den wirtschaftlichen Sturm, der uns überrollt, umzukehren. Aber ich muss ehrlich zu Ihnen sein. Die beiden wichtigsten Triebkräfte für einen Machtwechsel sind zum einen die Enttäuschung der Menschen über die Konservative Partei. Zum anderen hat Labour die Ära von Jeremy Corbyn hinter sich gelassen. Man kann jetzt wieder guten Gewissens die Labour Partei wählen.

Ist Oppositionsführer Keir Starmer dafür der richtige Mann?
Starmer ist in vielerlei Hinsicht der Olaf Scholz der britischen Politik. Er ist ehrlich, bodenständig, nicht theatralisch. Jemand, dem man Vertrauen schenken kann, keiner, von dem man überrascht wird.

Überrascht werden wir vielleicht von Boris Johnson. Halten Sie sein politisches Comeback für möglich?
Er glaubt, er sei Churchill (der ja auch zweimal Premierminister war). Aber stattdessen wird er sich in seiner Partei wie ein hungriger deutscher Schäferhund herumtreiben und nach Leuten Ausschau halten, die er politisch attackieren kann.
Lord Mandelson, vielen Dank für das Interview.

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