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14.06.2022

10:42

Kalifornien

„Weil der nichts auf die Reihe bekommt“: San Francisco wählt liberalen Staatsanwalt ab

Von: Axel Postinett

Die Bürger haben die progressive Justizreform von Staatsanwalt Chesa Boudin abgewählt. US-Präsident Biden hat jetzt ein Problem – mit seinen eigenen Wählern.

Der Bezirksstaatsanwalt wurde vergangene Woche abgewählt. AP

Chesa Boudin

Der Bezirksstaatsanwalt wurde vergangene Woche abgewählt.

San Francisco Die Bürger von San Francisco haben vergangene Woche Dienstag den Bezirksstaatsanwalt Chesa Boudin abgewählt. Die Stadt in Kalifornien ist eine der demokratischsten der USA, Boudin ein wichtiger Politiker der liberalen Justizreform. Er war „District Attorney“, ein Staatsanwalt, der die Strafgesetze des Bundesstaates auf lokaler Ebene durchsetzen muss.

Die Abwahl setzt US-Präsident Joe Biden vor den wichtigen Zwischenwahlen unter Druck. „Die Wähler haben eine klare Botschaft gesendet“, sagte Biden zur Niederlage. Grund dafür war die hohe Kriminalität in San Francisco. Boudin war seit Anfang 2020 oberster Strafverfolger der Stadt. Kritiker warfen ihm vor, eine „Null-Konsequenzen-Politik“ für Kleinkriminalität zu betreiben. Auch anderen Staatsanwälten droht jetzt die Abwahl, wie etwa George Gascon im kriminalitätsgeplagten Los Angeles. Er war Vorgänger Boudins in San Francisco.

Viele Menschen in San Francisco oder Los Angeles sehen sich seit zwei Jahren zunehmend mit offenem Drogenhandel auf der Straße konfrontiert. Raub, Gewalt oder sexualisierte Gewalt in U-Bahnen und Bussen sind alltäglich. Kriminelle überfallen systematisch Einzelhändler. Seit 2021 hat beispielsweise die Drogeriekette Walgreens mehr als 20 Läden im Stadtgebiet geschlossen. Walgreens sagt: Ihre Filialen würden in San Francisco fünfmal so oft überfallen wie in anderen Städten der USA.

Ein weiteres Problem ist, dass es viele Obdachlose gibt, die zwischen Essensresten und Fäkalien in Lagern auf der Straße leben. Eine halbe Milliarde US-Dollar kostet San Francisco die Obdachlosigkeit pro Jahr. Die Stadt mietet Hotels, um sie unterzubringen, kauft ihnen Zelte.

Derweil wurden verhaftete Drogendealer aus Staaten wie Honduras oder Nicaragua vom Staatsanwalt kaum noch verfolgt. Sie müssen ihre Gewinne meist an Schlepper abtreten, die sie illegal in die USA gebracht haben. Kämen sie ins Gefängnis, droht ihren Frauen und Kindern Gewalt.

Die Staatsanwaltschaft wollte „Kilos, keine Krümel“, wie der abgewählte Boudin erklärte. Er wollte die Hintermänner der Kartelle, keine Straßendealer. Bram Cohen, Tech-Investor aus San Francisco, befürwortete dessen Abwahl und sagt: „Boudins Abwahl wird als eine Debatte um die Justizreform dargestellt. Ist es aber nicht. Das liberale San Francisco hat einen liberalen Distriktanwalt abgewählt, weil der einfach nichts auf die Reihe bekommt.“

Schwieriger Balanceakt: Joe Bidens Wähler setzen ihn unter Druck

Ist die Abstimmung gegen Boudin also ein Schlagabtausch unter Demokraten und kein republikanischer Coup? Dafür spricht, dass die wenigen Republikaner in San Francisco kaum Macht haben, um Mehrheiten an den Wahlurnen zu bekommen. Genau das macht die Sache so schlimm für Präsident Biden. Es sind seine eigenen Wähler, die gegen den liberalen Boudin stimmten.

Biden steht nun vor einem schwierigen Balanceakt. Er darf die Unterstützung von politischen Aktivisten wie „Black Lives Matters“ nicht verlieren, die stärkere Polizeipräsenz oder Strafverschärfungen ablehnen. Andererseits muss er die kriminalitätsgeplagten Bürger San Franciscos überzeugen.

Eine US-weite Umfrage des PEW-Instituts zeigt, dass nur noch 15 Prozent der Bürger dafür sind, die Finanzmittel für die Polizei zu verringern („Defund Police“). Dieser Anteil lag 2020 noch bei 26 Prozent. Gleichzeitig stieg der Anteil derjenigen, die mehr Geld für die Polizei wollen, von 31 Prozent im Jahr 2020 auf 47 Prozent im Jahr 2021.

Während seiner Ansprache zur Lage der Nation im März kündigte Biden an: „Wir sollten uns alle darauf verständigen, dass die Lösung nicht sein kann, der Polizei die Mittel zu streichen. Sie muss genug bekommen und dazu die nötige Ausbildung, um unsere Gemeinden zu schützen.“ Das sorgte für Kritik von linken Demokraten und Anti-Polizeigewalt-Aktivisten.

Warum Chesa Boudin abgewählt wurde

Dabei konnte Bezirksstaatsanwalt Boudin die Bürger zunächst mit seinen Wahlversprechen überzeugen. Er wollte für Nichtigkeiten verhängte Gefängnisstrafen reduzieren, das „Bail Bond“-System abschaffen und gewalttätige Polizisten so behandeln wie andere straffällige Bürger. Mit „Bail Bonds“ können sich Beschuldigte gegen eine Geldkaution bis zum Prozess von einer Untersuchungshaft freikaufen. Das gilt als diskriminierende Rechtslage für ärmere Beschuldigte, die in Untersuchungshaft Job und Wohnung verlieren und auch nach einem Freispruch vor dem Nichts stehen.

Doch Boudins Politik hatte nach Meinung der Kritiker den negativen Effekt, dass Mehrfachtäter immer wieder ungeschoren davonkamen. Tatsächlich belegen die Zahlen, dass Gewaltdelikte wie Mord, Totschlag oder Sexualdelikte sogar leicht zurückgingen im Vergleich zu anderen Großstädten

Vor seiner Abwahl gab sich Boudin noch siegessicher. AP

Chesa Boudin

Vor seiner Abwahl gab sich Boudin noch siegessicher.

Die Straftaten in anderen Bereichen stiegen aber rasant: Straßenraub, Eigentumsdelikte, Ladendiebstähle, Vandalismus, Autoaufbrüche, Straßen-Drogenhandel. Diese wurden von Boudin als „Lifestyle-Delikte“ klassifiziert und nicht sonderlich verfolgt. Bei Ladendiebstählen etwa kommt die Polizei nur noch selten oder viel zu spät, beschweren sich Ladenbesitzer. Die Polizei sagt: Wenn sie jemanden für so etwas einliefern, ließ ihn der Bezirksstaatsanwalt danach wieder frei. Boudin wies das empört zurück. Der Streit zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft wurde offen ausgetragen.

Im Weihnachtsgeschäft hatte das für die Nobel-Einkaufsmeile „Union Square“ zur Folge, dass sie zu einem Hochsicherheitstrakt umgebaut wurde. Eine mobile Einsatzzentrale der Polizei, Dutzende Streifenwagen und abendliche Straßensperren regelten den Einkauf. Zuvor hatten Mobs aus bis zu 100 Ladendieben ganze Kaufhäuser geplündert und traumatisiertes Verkaufspersonal zurückgelassen.

Biden könnte bei Zwischenwahlen seine Mehrheit verlieren

Für die Bürger ist das Thema Kriminalität neben Inflation, Wirtschaftslage und Arbeitslosigkeit zu einem wichtigen Thema für die Zwischenwahlen geworden. Im November werden die Mehrheiten im Senat und Repräsentantenhaus in Washington neu verteilt.

Die demokratische Revolte aus San Francisco gegen den eigenen progressiven Flügel mindert Bidens Chancen, seine knappe Mehrheit aus einer Stimme im Senat zu halten. Ihm droht sogar eine Minderheit in beiden Kammern. Dann wäre er, wie es in den USA heißt, eine „lame duck“, eine lahme Ente, die eigene Gesetze nicht mehr eigenständig durchbringen kann.

Auch die Vizepräsidentin Harris hatte sich als progressive Staatsanwältin einen Namen gemacht. AP

Joe Biden und Kamala Harris

Auch die Vizepräsidentin Harris hatte sich als progressive Staatsanwältin einen Namen gemacht.

Unterdessen breitet sich der Unmut über die aktuellen Reformen des US-Justizsystems und die Differenzen zwischen Polizei und Strafverfolgern weiter aus. New Yorks schwarzer Bürgermeister Eric Adams, ein Polizeibeamter im Ruhestand, machte seine Verärgerung öffentlich, als er sagte, für die Kriminellen der Stadt seien die lokalen Strafverfolgungsbehörden nur noch eine „Lachnummer“.

Diesen Vorwurf wies der erst im Januar 2022 gewählte New Yorker Bezirksstaatswalt Alvin Bragg zurück. Sein Ansatz zur Strafverfolgung ist vergleichbar mit dem von Boudin. Umfragen zufolge fürchten sieben von zehn Einwohnern der Stadt, Opfer von Gewalt auf den Straßen oder in öffentlichen Verkehrsmitteln wie der U-Bahn zu werden. Bürgermeister Adams war mit einer Mehrheit ins Amt gehievt worden, weil er einen „Law and Order“-Wahlkampf in New York geführt hatte.

Während Bürger, Beamte und Politiker über die Neuordnung der Polizeifinanzen diskutieren, schafft die Wirtschaftslage bereits neue Realitäten im „Defunding“. Dem Bundesstaat Michigan geht nach den hohen Preissteigerungen für Benzin bereits das Geld aus, um die Streifenwagen zu betanken.

Der Scheriff von Isabella County, Michael Main, sagte, dass die Polizei so viele Fälle wie möglich übers Telefon erledigen muss. Trotzdem würde es weiter Streifenfahrten geben, versicherte er. Doch ohne erkennbare Gefahr für Leib und Leben oder wenn kein Verbrechen im Gange ist, werden die Polizeiwagen bis auf Weiteres nicht mehr rausfahren.

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