In Kanadas Hauptstadt liegen die Nerven blank. Seit zwölf Tagen blockieren Lastwagenfahrer Ottawa. Nun soll ein großes Polizeiaufgebot die Coronaproteste beenden.
Chaos in Ottawa
Seit Tagen sorgen Lkw-Fahrer in der kanadischen Hauptstadt für Chaos.
Bild: AP
Ottawa In Kanada laufen die Coronaproteste aus dem Ruder. Die Polizeiführung der kanadischen Hauptstadt Ottawa setzt nun auf die Hilfe von Polizeikräften des Bundes und der Provinz, um die Blockade der Innenstadt durch Lkw-Fahrer zu beenden. Nach dem Ausrufen des Notstands hat der Bürgermeister 1800 Polizistinnen und Polizisten angefordert.
Ein schnelles Ende der Protestaktionen ist aber dennoch nicht in Sicht, denn der Protest hat längst andere Regionen des Landes erfasst. In Windsor etwa blockieren Trucks mehrere Spuren der sogenannten Ambassador-Brücke nach Detroit – dies ist der für die Wirtschaft wichtigste Grenzübergang zu den USA.
Der Protest der Trucker, der sich gegen die Impfpflicht für Lkw-Fahrer im grenzüberschreitenden Verkehr mit den USA richtet und die Aufhebung aller im Kampf gegen die Covidpandemie erlassenen Vorschriften fordert, hatte am 28. Januar begonnen.
Mit dem „Freedom Convoy“ (Freiheitskonvoi) wurden Hunderte Lastwagen in die Stadt gefahren, die seitdem wichtige Straßen und Kreuzungen blockieren. Ottawas Polizeichef Peter Sloly muss nun einräumen, dass die Polizei den Protest völlig unterschätzt hatte.
Die teils sehr aggressiven Parolen der Protestierenden richten sich insbesondere gegen Premierminister Justin Trudeau. Sie stellen ihn als Mörder mit Spritze dar, fordern seine Inhaftierung und beschimpfen ihn mit Obszönitäten wie „Fuck Trudeau“.
Dass angesichts dieser Vorkommnisse die Proteste auch von konservativen Abgeordneten im Parlament als „friedlich“ und „patriotisch“ bezeichnet werden, ist für viele Menschen in der Hauptstadt Zynismus.
Trudeau lehnt Verhandlungen mit den Truckern ab. Die meisten Einschränkungen wurden ohnehin nicht von der Bundesregierung, sondern von Provinzen erlassen. Trudeau könnte der Forderung nach Aufhebung aller Restriktionen allein aus verfassungsrechtlichen Gründen also nicht folgen. Einige Provinzen haben inzwischen die Abkehr von Covid-Einschränkungen angekündigt. Dazu gehören der Verzicht auf Impfpässe und Maskenpflicht.
Der kanadische Premierminister hat seine Regierung unterdessen im Parlament verteidigt. Er sei gegen eine Lockerung der Beschränkungen, erklärte er am Mittwoch in Ottawa.
Die Realität sei, dass die Impfvorschriften und eine Impfquote von fast 90 Prozent in Kanada sichergestellt hätten, dass die Pandemie dort nicht so hart zugeschlagen habe wie an anderen Orten der Welt, erklärte er.
Kanadas Premier Trudeau
Für Impfskeptiker ist der Regierungschef zur zentralen Hassfigur geworden.
Bild: AP
Ein Richter hatte zu Wochenbeginn mit einer einstweiligen Verfügung die sofortige Einstellung des pausenlosen Hupens mit Drucklufthupen erwirkt, was den Menschen in der Innenstadt zunächst etwas Erleichterung brachte. Der ohrenbetäubende Lärm, der von den Hupen und den laufenden Motoren der Schwerlaster ausging, kam für sie einer zehntägigen Tortur gleich.
Eltern berichteten von den Ängsten ihrer Kinder, die nicht schlafen konnten und immer wieder aufschreckten. Senioren und Menschen mit Behinderungen wagten sich nicht mehr auf die Straßen.
Immer wieder kommt es vor, dass Passanten, die sich mit Mund-Nase-Bedeckung in die Innenstadt begeben, von Truckern und ihren Sympathisanten verhöhnt und belästigt werden. „Jemand kam auf mich zu und versuchte, mir den Mundschutz vom Gesicht zu reißen“, erzählt eine Betroffene. Eine andere berichtete, dass sie beim Joggen von Truckern beschimpft und beleidigt wurde.
Sicherheitsexperten wie Stephanie Carvin, Professorin an der Carleton University in Ottawa, betonen, dass sich unter die Demonstranten auch Verschwörungstheoretiker mischten, die vom „Genozid an der weißen Bevölkerung“ sprachen oder die Abspaltung der Westprovinzen forderten.
Auch die Tatsache, dass einige Demonstranten die aus den USA stammende Konföderiertenflagge schwenken, bereitet vielen Einwohnern der Stadt Sorgen, vor allem Angehörigen ethnischer Minderheiten. Die Flagge ist ein Symbol für Sklaverei und Rassismus.
Doch die Demonstranten sorgen nicht nur für Angst und Schrecken, sie finden in der Bevölkerung auch Unterstützer. So versorgen Sympathisanten die Trucker mit Diesel. Die Polizei versucht nun, die Lieferung von Benzin in die Innenstadt zu unterbinden, und beschlagnahmt Kanister.
Um die Polizei zu täuschen und Polizeikräfte zu binden, werden Kanister mit Wasser gefüllt oder leer durch die Straßen getragen. In einem Park im Stadtzentrum wurde zeitweise ein Lager mit Propangasflaschen eingerichtet. Die Kommunalpolitikerin Catherine McKenney beschrieb die Lage in der Innenstadt als „völlige Gesetzlosigkeit“.
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Der Protest wird nicht nur von Truckern getragen, sondern auch von zahlreichen anderen Bürgern, die sich gegen die Restriktionen wenden. Auf ihren Plakaten stehen Slogans wie „Freiheit“ oder „Wir sind nicht China“. Sie hüllen sich in kanadische Flaggen, demonstrierende Väter und Mütter nehmen ihre Kinder mit und binden sie in die Proteste ein.
Auf Straßenkreuzungen wird getanzt, es herrscht stellenweise lautstarke Partystimmung. Dass Kinder auch in die Führerhäuser der Trucks gelassen werden, hat offenbar Kalkül. So ist die Polizei nach eigenen Angaben gezwungen, auf ein rabiates Vorgehen gegen die Trucker zu verzichten, um die Jungen und Mädchen nicht zu gefährden.
Eigentlich steht Kanada mit seiner Impfquote von mehr als 80 Prozent im internationalen Vergleich gut da, die Bereitschaft der Bevölkerung, sich immunisieren zu lassen, ist groß. Eine allgemeine Impfpflicht gibt es daher auch nicht – wohl aber eine für einzelne Berufsgruppen. Dazu gehören seit dem 15. Januar auch die Trucker.
Eine generelle Impfpflicht wird laut Umfragen zwar von zwei Dritteln der Bevölkerung akzeptiert, wie Umfragen zeigen. Doch jene, die sich dagegen aussprechen, tun dies zum Teil mit radikaler Entschiedenheit. Und sie bringen das kanadische Gesundheitssystem an den Rand des Kollapses: Nach offiziellen Angaben nimmt die relativ niedrige Zahl Ungeimpfter rund 50 Prozent der Bettenkapazität in Anspruch.
Proteste von Impfgegnern
Die Trucker erhalten Unterstützung aus Teilen der Bevölkerung, die ebenfalls gegen die Corona-Restriktionen der Regierung sind.
Bild: imago images/ZUMA Wire
Bei den Bewohnern der Innenstadt jedenfalls liegen mittlerweile die Nerven blank. Die Wut ist groß, sie fühlen sich regelrecht terrorisiert von den Lkw-Fahrern und ihren Helfern. Mit dem Ausrufen des Notstands hat die Stadt nun die Möglichkeit, von den höheren Regierungsebenen – der Provinz und dem Bund – zusätzliche Hilfe zu erhalten.
Ottawas Bürgermeister Jim Watson forderte in einem Schreiben an Trudeau und Provinz-Regierungschef Doug Ford die Entsendung von insgesamt 1800 Einsatzkräften. Die „kriminellen Aktivitäten und das Rowdytum“ der vergangenen Tage müssten enden, schrieb Watson.
Aber weiter blockieren Trucks zentrale Straßen und Kreuzungen in Ottawa. Sie könnten nur unter Einsatz sehr schweren Geräts beseitigt werden – und den Einsatz von Militär hat Trudeau ausgeschlossen.
Besorgniserregend ist für die Regierung zudem, dass der Protest längst nicht mehr auf Ottawa beschränkt ist. Auch in der Stadt Québec, in Toronto und anderen Provinzhauptstädten fuhren Trucker auf. Durch die Vorgänge in Ottawa war die dortige Polizei allerdings gewarnt und ergriff frühzeitig Maßnahmen, um Entwicklungen wie die in der Hauptstadt zu unterbinden. Nun geht es darum, Blockaden der für den Handel mit den USA wichtigen Grenzübergänge Windsor-Detroit in Ontario und Coutts in Alberta zu unterbinden: Sie hätten erhebliche Auswirkungen auf die Wirtschaft Kanadas.
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