Nach dem Abzug aus Kiew rechnet Wolodimir Selenski jetzt mit russischen Angriffen im Donbass und im Süden des Landes. Kiews Bürgermeister Klitschko wirft Russland Völkermord vor.
Butscha
Fast 300 Zivilisten wurden mutmaßlich entlang der Straße in Butscha, einer Pendlerstadt außerhalb der Hauptstadt, getötet.
Bild: dpa
Düsseldorf In Butscha waren nach dem Rückzug der russischen Armee zahlreiche Tote gefunden worden. Auch auf den Straßen lagen Leichen. Nach Angaben der Behörden wurden inzwischen 280 Menschen in Massengräbern beerdigt. International zeigten sich viele Politiker bestürzt über die Vorfälle.
Nach Angaben des ukrainischen Präsidentenberaters Olexij Arestowytsch hätten Behörden Beweise die Kriegsverbrechen der russischen Truppen in den Außenbezirken von Kiew gefunden. In den Straßen der Kiewer Vororte Irpin, Butscha und Hostomel seien nach dem Abzug der russischen Truppen zahlreiche getötete Zivilisten gefunden worden, sagte er am Sonntag.
Er verglich die Schauplätze mit „einem Horrorfilm“. Manchen Opfern sei in den Kopf geschossen worden und ihre Hände seien gefesselt gewesen, und einige der Leichen wiesen Folterspuren auf. Er beschuldigte die russischen Truppen, die Frauen vergewaltigt und versucht zu haben, ihre Leichen zu verbrennen.
EU-Ratspräsident Charles Michel hat Russland für Gräueltaten in der Umgebung der ukrainischen Hauptstadt Kiew verantwortlich gemacht. Der belgische Politiker warf den russischen Truppen am Sonntag im Internetdienst Twitter vor, in der Vorortgemeinde Butscha ein Massaker angerichtet zu haben.
Die EU werde beim Sammeln von Beweisen helfen, um die Verantwortlichen vor internationale Gerichte stellen zu können. Zugleich kündigte er weitere EU-Sanktionen gegen Russland und Unterstützung für die Ukraine an.
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen zeigte sich ebenfalls entsetzt. „Eine unabhängige Untersuchung ist dringend erforderlich“, schrieb die deutsche Politikerin am Sonntag auf Twitter. Zugleich versicherte sie, dass die Verantwortlichen für Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen würden.
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) forderte noch härtere Sanktionen gegen Russland verlangt. „Dieses furchtbare Kriegsverbrechen kann nicht unbeantwortet bleiben“, sagte der Vizekanzler am Sonntag der „Bild“-Zeitung. „Ich halte eine Verschärfung der Sanktionen für angezeigt. Das bereiten wir mit unseren Partnern in der EU vor.“
Die Bundesaußenministerin Annalena Baerbock äußerte sich empört über das Vorgehen der russischen Truppen: "Die Bilder aus Butscha sind unerträglich. Putins hemmungslose Gewalt löscht unschuldige Familien aus und kennt keine Grenzen", twitterte sie. Die Verantwortlichen für diese Kriegsverbrechen müssten zur Rechenschaft gezogen werden: "Wir werden die Sanktionen gegen Russland verschärfen und die Ukraine noch stärker bei ihrer Verteidigung unterstützen."
Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier warf Russland schwere Kriegsverbrechen vor. „Die von Russland verübten Kriegsverbrechen sind vor den Augen der Welt sichtbar“, erklärte Steinmeier am Sonntag in Berlin. „Die Bilder aus Butscha erschüttern mich, sie erschüttern uns zutiefst.“
Zerstörte Brücke in Butscha
Die meisten Opfer versuchten, den Fluss Buchanka zu überqueren, um in das ukrainisch kontrollierte Gebiet zu gelangen.
Bild: dpa
Steinmeier betonte: „Die Repräsentanten der Ukraine haben jedes erdenkliche Recht, Russland anzuklagen und Solidarität und Unterstützung ihrer Freunde und Partner einzufordern.“ Zugleich versicherte der frühere SPD-Außenminister, die Solidarität und Unterstützung aus Deutschland müsse und werde weitergehen.
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) warf der russischen Armee in der Ukraine Kriegsverbrechen wie Hinrichtungen und Plünderungen vor. In einem Bericht, der am Sonntag in Warschau veröffentlicht wurde, werden Fälle in der Umgebung der Städte Kiew, Charkiw und Tschernihiw genannt. Grundlage dafür ist nach Angaben der Menschenrechtler die Befragung von zehn Augenzeugen, Opfern und Bewohnern.
„Die von uns dokumentierten Fälle stellen unsägliche bewusste Akte der Grausamkeit und Gewalt an der ukrainischen Zivilbevölkerung dar“, erklärte der Europa-Direktor von HRW, Hugh Williamson. „Vergewaltigung, Mord und andere gewaltsame Akte gegen Menschen in der Gewalt russischer Truppen sollten als Kriegsverbrechen untersucht werden.“
Zu den aufgeführten Fällen gehört die Erschießung eines Mannes am 4. März in Butcha, nordwestlich von Kiew. Ein Augenzeuge berichtete demnach, dass fünf Männer von Soldaten gezwungen worden seien, am Straßenrand niederzuknien. Dann hätten die Russen ihnen ihre T-Shirts über den Kopf gezogen und einem von ihnen von hinten in den Kopf geschossen.
Am 27. Februar wurden dem Bericht zufolge mindestens sechs Männer im Dorf Staryi Bykiw bei Tschernihiw von Soldaten exekutiert. Eine 31-jährige Frau berichtete, dass sie in einer Schule in der Region Charkiw mehrmals von einem Soldaten vergewaltigt worden sei.
Am frühen Sonntagmorgen wurden Angriffe auf die Hafenstadt Mariupol in der südöstlichen Region Donbass gemeldet. Mehrere Raketen seien eingeschlagen, teilte die Stadtverwaltung mit. Es seien Feuer ausgebrochen.
Zudem hat Russland nach eigenen Angaben Ziele nahe der im Südwesten der Ukraine gelegenen Hafenstadt Odessa am Schwarzen Meer angegriffen. Von Schiffen und Flugzeugen aus seien Raketen auf eine Ölraffinerie und drei Treibstofflager abgefeuert worden, teilte das Verteidigungsministerium am Sonntag in Moskau mit.
Der Stadtrat der Metropole mit etwa einer Million Einwohnern hatte zuvor schon von Bränden im Stadtgebiet berichtet. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig prüfen.
Im Osten des Landes bereitete sich das Internationale Rote Kreuz (IKRK) auf einen erneuten Evakuierungsversuch von Einwohnern in Mariupol vor. Ein Hilfskonvoi war am Freitag auf dem Weg in die Hafenstadt umgekehrt, da die Lage als zu gefährlich eingeschätzt wurde. Russland machte das IKRK für die Verzögerungen verantwortlich.
Rauchsäulen am Sonntagmorgen über Odessa
Intensivere Angriffe im Süden und Osten.
Bild: IMAGO/Agencia EFE
Die Eroberung von Mariupol ist ein wichtiges strategisches Ziel Russlands, um den Donbass unter eigene Kontrolle zu bringen. Die russische Armee hat als neuen Schwerpunkt die vollständige Einnahme der südöstlichen Region verkündet. Dafür sollen die Vorstöße auf die Hauptstadt Kiew zunächst eingestellt werden.
Ukraines Präsident Wolodimir Selenski rechnet deswegen nunmehr mit russischen Angriffen im Donbass und im Süden des Landes. „Was ist das Ziel der russischen Armee? Sie wollen sowohl den Donbass als auch den Süden der Ukraine erobern“, sagte Selenski in einer Videobotschaft in der Nacht zum Sonntag. „Und was ist unser Ziel? Wir wollen uns, unsere Freiheit, unser Land und unsere Menschen schützen.“
Um den russischen Plänen entgegenzuwirken, werde die Abwehr der ukrainischen Streitkräfte in östlicher Richtung verstärkt. „Und das wohl wissend, dass der Feind Reserven hat, um den Druck zu verstärken.“ Zugleich verfolgten ukrainische Einheiten die nördlich von Kiew und bei Tschernihiw zurückweichenden russischen Truppen, sagte Selenski. Auch sorge der Kampf um die „heroische“ Hafenstadt Mariupol dafür, dass große russische Verbände gebunden seien.
Der Generalstab der ukrainischen Streitkräfte sagte unterdessen, dass die Intensität der russischen Luft- und Raketenangriffe abnehme. Zudem ziehe Moskau weiterhin Einheiten aus dem Norden der Ukraine ab. In einem Facebook-Post schrieb er, dass die russischen Streitkräfte Minen auf Straßen und in einigen Siedlungen verlegten.
Das russische Militär kündigte für Sonntag derweil die Öffnung von Fluchtkorridoren für Ausländer in den Hafenstädten Mariupol und Berdjansk am Asowschen Meer an. Wie Generalmajor Michail Misinzew in der Nacht nach Angaben der Agentur Tass sagte, könnten Ausländer die schwer umkämpfte Hafenstadt Mariupol in Richtung Berdjansk verlassen.
Auch die in der besetzten Hafenstadt Berdjansk lebenden ausländischen Staatsbürger dürften das Gebiet verlassen – entweder auf dem Landweg über die Krim oder zu den ukrainischen kontrollierten Gebieten. Bei diesen Ausländern handelt es sich überwiegend um Besatzungsmitglieder von Frachtschiffen, die in den beiden Häfen seit Kriegsbeginn blockiert sind. Die ukrainische Führung wurde aufgefordert, die Sicherheit der Fluchtkorridore zu garantieren.
Flüchtlinge aus Mariupol
Viele Menschen versuchen auf eigene Faust aus der umkämpften Stadt Mariupol zu fliehen.
Bild: Reuters
Hunderten Menschen gelang nach Angaben der Regierung in Kiew am Samstag die Flucht aus umkämpften Städten. So hätten 765 Zivilisten mit eigenen Fahrzeugen die Hafenstadt Mariupol im Südosten verlassen, teilte Vize-Regierungschefin Irina Wereschtschuk via Telegram mit. Fast 500 Zivilisten seien aus der Stadt Berdjansk geflohen. Ziel der Menschen aus beiden Städten sei Saporischschja. Zudem seien in Berdjansk zehn Busse gestartet. Am Sonntag solle die Evakuierung dort fortgesetzt werden, sagte Wereschtschuk.
Selenski erhielt vom britischen Premier Boris Johnson die Zusage für weitere Unterstützung im Kampf gegen die russische Armee. „Eine sehr spürbare Unterstützung“, sagte Selenski dazu in der Nacht zum Sonntag. „Wir haben uns über eine neue Unterstützung für die Verteidigung der Ukraine unterhalten, ein neues Paket“, fasste der ukrainische Staatschef das Gespräch mit Johnson zusammen. Details nannte er aber nicht.
Aus der Downing Street verlautete zu dem Telefonat, dass Johnson „Unterstützung für die Verteidigungsbemühungen zugesagt“ habe. „Beide waren sich einig über die Bedeutung weiterer Sanktionen, um den wirtschaftlichen Druck auf (Präsident Wladimir) Putins Kriegsmaschinerie zu erhöhen, solange sich noch russische Truppen auf ukrainischem Gebiet befinden“, zitierte die Agentur PA einen Sprecher der Downing Street.
London hat die Ukraine bereits mit großen Mengen an Waffen unterstützt - überwiegend leichte Panzerabwehrwaffen und Flugabwehrraketen. Daneben hat Kiew aus Großbritannien massive finanzielle Unterstützung erhalten.
Nach wochenlangen Verhandlungen zwischen Vertretern Russlands und der Ukraine zur Beendigung des Kriegs zeichnen sich aus Sicht der Regierung in Kiew erste positive Signale ab. Mit Blick auf den aktuellen Stand sprach der ukrainische Chefunterhändler David Arachamija am Samstagabend im Staatsfernsehen von einem möglicherweise baldigen Treffen des ukrainischen Präsidenten Selenski mit Kremlchef Wladimir Putin.
Ukrainischer Präsident Selenski
Wolodimir Selenski sieht einen Strategiewechsel der russischen Armee.
Bild: dpa
Die Entwürfe der entsprechenden Dokumente seien bereits so weit fortgeschritten, dass ein „direktes Gespräch der beiden Staatschefs“ möglich sei. Über den aktuellen Stand der Verhandlungen machte Arachamija jedoch keine näheren Angaben.
„Daher ist unsere Aufgabe zurzeit, die endgültige Fassung der Dokumente und noch offener Fragen auszuarbeiten, um ein eventuelles Treffen der Präsidenten zu ermöglichen“, sagte Arachamija. Sollte das Treffen zustandekommen, werde es wohl in der Türkei abgehalten, entweder in Ankara oder Istanbul.
Russland hat Hoffnungen der Ukraine auf ein baldiges Spitzentreffen der beiden Präsidenten Wladimir Putin und Wolodimir Selenski zur Beendigung des Kriegs gedämpft. Es gebe noch viel zu tun, sagte der russische Verhandlungsführer Wladimir Medinski am Sonntag der Nachrichtenagentur Interfax. „Ich teile leider nicht den Optimismus von Arachamija.“
Selenski hat in den vergangenen Wochen wiederholt ein direktes Gespräch mit Putin gefordert, um den von Moskau am 24. Februar begonnenen Angriffskrieg zu beenden. Der Kreml lehnt dies bisher mit dem Hinweis darauf ab, dass Putin eine konkrete Grundlage – im Sinne abgeschlossener Vorverhandlungen – für diese Zusammenkunft fordert.
Bundesfinanzminister Christian Lindner spricht sich gegen einen Importstopp von Gas- und Öllieferungen aus Russland aus. „Die Sanktionen sind bereits beispiellos. Sie müssen aber das Putin-Regime treffen und nicht die Stabilität Deutschlands gefährden“, sagt Lindner der „Bild am Sonntag“.
Lindner rechne als Folge des Ukraine-Kriegs mit einem „Wohlstandsverlust“ für die Menschen in Deutschland. „Der Ukraine-Krieg macht uns alle ärmer, zum Beispiel weil wir mehr für importierte Energie zahlen müssen“, sagte der FDP-Chef. „Diesen Wohlstandsverlust kann auch der Staat nicht auffangen.“ Die Bundesregierung werde aber „die größten Schocks abfedern“. Deshalb werde die breite Mitte entlastet, würden Bedürftige unterstützt und die Existenz bedrohter Betriebe gesichert. „Aber da die Finanzmittel begrenzt sind, können diese Maßnahmen nur befristet sein.“
Lindner sagte angesichts einer Inflationsrate von 7,3 Prozent im März: „Ich habe ernsthafte Sorgen um die wirtschaftliche Entwicklung. Das Wachstum geht zurück, die Preise steigen.“ Die Bundesregierung unternehme alles, um die Gefahr der sogenannten Stagflation zu vermeiden. „Langfristig werden wir neue Grundlagen für Wohlstand legen müssen. Deutschland muss sein Wachstumsmodell einer sozialen und ökologischen Marktwirtschaft erneuern.“ Ähnlich hoch wie im März war die Inflationsrate in den alten Bundesländern zuletzt im Herbst 1981, als infolge der Auswirkungen des Ersten Golfkrieges die Mineralölpreise ebenfalls deutlich geklettert waren.
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